Der Weg nach Frankreich / Le Chemin de France

  • Der Titel aus dem Französischen ist, wie Bernhard in genutzt hat " Der Weg nach Frankreich "


    Im Niederländischen " 1792 Op weg naar Frankrijk " / Auf dem Weg nach Frankreich. Da ich dieses Buch für meine Übertragung genutzt habe, habe ich auch diesen Titel entsprechend übernommen.


    Im Tschechischen wäre der Titel " Cesta do Francie " / " Reise nach Frankreich "

  • Eigentlich wollte ich meinen Text bereits gedruckt haben. Aber jetzt hat mir eine Aussenstehende bestätigt, daß der Text sich zwar lesen läst und größten Teil am Original orientiert, aber nicht zum Druck geeignet ist. So würde ich, wenn dazu Interesse besteht, die Pawlak-Reihe nur mit den in Deutsch bereits vorhandenen ( in dieser Reihe aber fehlenden ) Titel erweitern.

  • Hallo, hier mal eine Kostprobe. Eigentlich nicht unbedingt erforderlich, da es ja bis Oktober nicht mehr so lange hin ist. Aber ich habe keine Ahnung, wie groß die Überschneidungen zwischen den Versionen sein werden, wenn dann einiges übereinstimmt, sieht es vielleicht so aus, als hätte ich etwas aus der anderen Version übernommen, meine wird ja dann erst danach erscheinen. Hier kann man sich also schon mal anschauen, wie meine Version wird, zumindest das erste Kapitel (vielleicht stelle ich auch noch ein paar weitere hier rein). Es bleibt bis Oktober zwar noch Zeit für kleinere Korrekturen, der Text sollte aber schon recht nah an der endgültigen Version sein. Hier noch der Hinweis - aus juristischen Gründen leider nicht vermeidbar - dass die Übersetzung urheberrechtlich geschützt ist und nicht kopiert werden darf.
    (Edit: mit "meiner Version" meine ich das von mir geplante eBook, die andere ist natürlich die Club-Ausgabe, siehe diesen Thread:
    Der Weg nach Frankreich (ABLIT / Jules-Verne-Club / Dornbrunnen) )


    I


    Mein Name ist Natalis Delpierre. Ich wurde 1761 geboren, in Grattepanche, einem Dorf in der Pikardie. Mein Vater war ein Landarbeiter. Er arbeitete auf den Ländereien des Marquis von Estrelle. Meine Mutter half ihm so gut wie sie nur konnte. Meine Schwestern und ich taten es ihr gleich. Mein Vater verfügte über keinerlei Vermögen und sollte auch sein ganzes Leben mittellos bleiben. Er war sowohl Landarbeiter als auch Vorsänger am Pult, Vorsänger des Confiteor. Er hatte eine kräftige Stimme, die man noch vom kleinen Friedhof an der Kirche aus hören konnte. Er hätte also auch Pfarrer werden können – er war, was man einen ‚in Tinte getränkten Landmann‘ nennt. Seine Stimme, das ist alles, was ich von ihm geerbt habe, oder wenigstens fast alles.
    Mein Vater und meine Mutter haben hart gearbeitet. Sie sind im gleichen Jahr gestorben, ’79. Gott nehme ihre Seele bei sich auf!
    Meine ältere Schwester, Firminie, war zu der Zeit, in der sich die Dinge ereigneten, die ich berichten werde, 45 Jahre alt, die jüngere, Irma, 40, ich selbst 31. Als unsere Eltern starben, war Firminie mit einem Mann aus Escarbotin verheiratet, Bénoni Fanthomme, ein einfacher angestellter Schlosser, der es nie schaffte, eine eigene Werkstatt zu eröffnen, wie gut er sein Handwerk auch verstand. Was die Kinder angeht, so hatten sie ’81 schon drei, und ein paar Jahre später kam noch ein viertes. Meine Schwester Irma war unverheiratet geblieben und ist es auch heute noch. Um mein Glück zu machen, konnte ich also weder auf sie noch auf die Fanthommes hoffen. Ich habe es ganz allein geschafft. So bin ich auf meine alten Tage in der Lage gewesen, meine Familie zu unterstützen.
    Mein Vater starb zuerst, meine Mutter ein halbes Jahr später. Dieser Verlust war sehr schmerzhaft für mich. Ja! so ist das Schicksal! Man verliert die, die man liebt, genau so wie die, die man nicht liebt. Doch sollten wir uns bemühen, zu denen zu gehören, die geliebt werden, wenn wir selbst auf die Reise ohne Wiederkehr gehen.
    Der Nachlass meines Vaters belief sich, nachdem alles geregelt war, auf nicht einmal 150 Livre – die Ersparnisse aus 60 Jahren Arbeit! Er wurde zwischen meinen Schwestern und mir aufgeteilt. Man kann sagen, dass es auf zwei mal nichts hinauslief.
    So fand ich mich also im Alter von 18 Jahren mit ungefähr 20 Écu wieder. Aber ich war kräftig gebaut und ausdauernd, gemacht für harte Arbeit. Und dazu eine schöne Stimme! Ich konnte jedoch weder lesen noch schreiben. Ich habe es erst später gelernt, wie ihr sehen werdet. Und wenn man nicht in jungen Jahren damit beginnt, hat man viel Mühe, wenn man sich dann daran macht. Die eigene Ausdrucksweise leidet darunter, auch noch Jahrzehnte später – was sich in diesem Bericht nur zu deutlich zeigen wird.
    Was sollte ich werden? Landarbeiter, wie mein Vater? Für den Wohlstand anderer schwitzen, um selbst am Rande des Feldes in Armut zu leben? Ein trauriger Ausblick, den niemand verlockend finden kann. Dann ereignete sich etwas, das über meinen Lebensweg entscheiden sollte.
    Ein Cousin des Marquis von Estrelle, der Graf von Linois, kam eines Tages nach Grattepanche. Er war Offizier, ein Hauptmann im Regiment von La Fère. Er hatte zwei Monate Urlaub und wollte sie bei seinem Verwandten verbringen. Man ritt oft zur großen Jagd aus, Saujagd, Fuchsjagd, Treibjagd, Hundejagd. Es gab Feierlichkeiten mit der besseren Gesellschaft, mit feinen, wohlgestalteten Menschen, wobei die Gattin des Marquis noch nicht eingerechnet ist, die eine wirklich wohlgestaltete Marquise war.
    Bei diesem ganzen Trubel habe ich nur auf den Hauptmann de Linois geschaut. Ein Offizier von einer sehr freimütigen Art, der mit allen gern sprach. Ich hatte Geschmack gefunden an dem Gedanken, Soldat zu werden. Es gibt nichts besseres, wenn man von der Kraft seiner Arme leben muss und diese an einem festen Körper angebracht sind. Außerdem gibt es, mit gutem Betragen, mit Mut, dazu ein wenig Glück, keinen Grund, warum man seinen Weg nicht machen sollte, wenn man mit dem linken Fuß losgeht, und wenn man tüchtigen Schrittes marschiert.
    Vor ’89 hatten die meisten Leute die Vorstellung, dass ein einfacher Soldat, ein Sohn eines Bürgerlichen oder eines Bauern, kein Offizier werden konnte. Das ist ein Irrtum. Wenn man einen starken Willen und Ausdauer mitbrachte, wurde man zunächst Unteroffizier, ohne sonderlich große Mühe. Danach, wenn man, in Friedenszeiten, zehn Jahre in diesem Rang gedient hatte, oder fünf Jahre in Kriegszeiten, hatte man die Möglichkeit, seine Schulterklappen zu erhalten. Vom Feldwebel wurde man zum Leutnant befördert, vom Leutnant zum Hauptmann. Dann... halt! Fortfahren verboten... aber bis hierhin war es doch auch schon sehr gut.
    Dem Grafen von Linois waren bei den Treibjagden oft meine Kraft und meine Gewandtheit aufgefallen. Was die Witterung und die rasche Auffassungsgabe angeht konnte ich es natürlich nicht mit den Hunden aufnehmen. Dennoch gab es an den großen Jagdtagen keinen Treiber, der besser gewesen wäre als ich, und ich rannte so schnell als stünde meine Hose in Flammen.
    „Du scheinst mir ein feuriger und zäher Bursche zu sein“ sagte der Graf eines Tages zu mir.
    „Ja, Herr Graf.“
    „Hast du auch starke Arme?“
    „Ich kann 320 Pfund stemmen.“
    „Meine Anerkennung!“
    Und das war alles. Aber dabei sollte es nicht bleiben, wie man sehen wird.
    In jener Zeit gab es in der Armee eine eigenartige Gepflogenheit. Es ist bekannt, wie das rekrutieren von Soldaten vor sich ging. Jedes Jahr durchkämmten Anwerber das Land. Sie brachten einen dazu, mehr zu trinken, als vernünftig gewesen wäre. Wer schreiben konnte setzte seine Unterschrift auf ein Blatt Papier. Wer nur zwei sich kreuzende Striche hinbekam, der malte nur ein Kreuz hin. Das galt genau so viel wie eine Unterschrift. Dann bekam man ein paar hundert Livre, die schneller vertrunken waren, als man sie in die Tasche stecken konnte, packte seine Sachen, und machte sich auf, sich für den Staat den Schädel einschlagen zu lassen.
    Nun, diese Vorgehensweise hätte mir niemals zugesagt. Wenn ich auch Gefallen daran fand, zu dienen, so wollte ich mich doch nicht kaufen lassen. Ich denke, dass mich jeder, der über etwas Würde und Selbstachtung verfügt, verstehen wird.
    Damals musste jeder Offizier, wenn er Urlaub bekommen hatte, nach den Bestimmungen der Dienstvorschrift bei seiner Rückkehr ein oder zwei Rekruten mit zurück bringen. Auch die Unteroffiziere waren an diese Verpflichtung gebunden. Die Prämie für die Anwerbung lag dann bei 20 oder 25 Livre.
    Keiner dieser Umstände war mir unbekannt, und ich hatte etwas vor. Und so ging ich, als der Urlaub des Grafen sich seinem Ende näherte, mutig zu ihm, um ihn zu bitten, mich als Rekruten anzunehmen.
    „Dich?“ sagte er ein wenig überrascht.
    „Ja, mich, Herr Graf.“
    „Wie alt bist du?“
    „Achtzehn.“
    „Und du willst Soldat werden?“
    „Wenn Sie es möchten.“
    „Es geht nicht darum, ob ich es möchte, es geht darum, ob du es möchtest.“
    „Ich möchte es.“
    „Ah! Geködert von den 20 Livre?“
    „Nein, vom Wunsch, meinem Land zu dienen. Und, da es für mich eine Schande wäre, wenn ich mich verkaufen würde, werde ich Ihre 20 Livre nicht nehmen.“
    „Wie heißt du?“
    „Natalis Delpierre.“
    „Gut, Natalis, du gefällst mir.“
    „Es freut mich sehr, dass ich Ihnen gefalle, Herr Hauptmann.“
    „Und wenn du mir folgen willst, wirst du weit kommen.“
    „Ich werde Ihnen mit wehenden Fahnen folgen, mit Trommelwirbeln und brennender Lunte.“
    „Du sollst wissen, dass ich das Regiment von La Fère verlassen werde, um mich einzuschiffen. Ist dir die See zuwider?“
    „Überhaupt nicht.“
    „Gut. Du wirst sie überqueren. Weißt du, dass dort drüben Krieg ist? Man will die Engländer aus Amerika verjagen.“
    „Amerika? Was ist das?“
    Ich hatte wahrhaftig noch nie etwas von Amerika gehört!
    „Ein Land des Teufels,“ antwortete Hauptmann de Linois, „ein Land, das für seine Freiheit kämpft. Es ist der Ort, wo der Marquis de La Fayette schon seit zwei Jahren von sich reden gemacht hat. Nun, König Ludwig XVI. hat letztes Jahr versprochen, dass seine Soldaten den Amerikanern zu Hilfe kommen werden. Der Graf von Rochambeau wird mit Admiral de Grasse und 6000 Männern dorthin aufbrechen. Ich habe die Absicht, mich mit ihm in die Neue Welt einzuschiffen, und, wenn du mich begleiten willst, werden wir Amerika befreien.“
    „Auf zur Befreiung Amerikas!“

  • So kam es, dass ich, ohne sonst irgendetwas über diese Dinge zu wissen,
    ein Soldat des Expeditionskorps’ des Grafen von Rochambeau wurde und
    1780 in Newport landete.
    Dort blieb ich drei Jahre, weit weg von
    Frankreich. Ich habe General Washington gesehen – ein Riese von fünf
    Fuß, elf Zoll, mit großen Füßen, großen Händen, einer blauen
    Uniformjacke mit gelbbraunen Aufschlägen, und einer schwarzen Kokarde.
    Ich habe den Seemann John Paul Jones an Bord seines Schiffes gesehen,
    der Bonhomme Richard. Ich habe den General Anthony Wayne gesehen, den
    man ‚der Verrückte Anthony‘ nannte. Ich kämpfte in einigen Gefechten,
    nicht ohne mich bei meinem ersten Schuss bekreuzigt zu haben. Ich nahm
    an der Schlacht von Yorktown teil, in Virginia, wo sich, nach einem
    denkwürdigen Schlagabtausch, Lord Cornwallis Washington ergeben hat. ’83
    kehrte ich nach Frankreich zurück. Ich war ohne Verwundungen
    davongekommen, und war noch ein einfacher Soldat, wie am Anfang. Nun ja,
    was solls, ich konnte ja noch nicht einmal lesen!
    Der Graf von
    Linois war mit uns zurück gekommen. Er wollte mich ins Regiment von La
    Fère eintreten lassen, wo er auf seinen Posten zurück kehrte. Nun, ich
    hatte so eine Idee. Ich wollte in der Kavallerie dienen. Ich mochte
    Pferde instinktiv, und bis ich berittener Offizier der Infanterie
    geworden wäre, hätte ich viele, viele Dienstgrade durchlaufen müssen!
    Ich
    weiß wohl, dass die Uniform eines Infanteristen verlockend ist – man
    sieht einfach gut darin aus – der Uniformrock, der Puder, die
    Lockenrollen der Perücken, die gekreuzten weißen Gurte aus Büffelleder.
    Aber was solls? Ein Pferd ist ein Pferd, und, nachdem ich über alles
    nachgedacht hatte, entschied ich mich für den Dienst als Kavallerist.
    Also
    bedankte ich mich beim Grafen von Linois, der mich seinem Freund
    empfahl, dem Oberst de Lostanges, und trat ins Königliche Regiment der
    Pikardie ein.
    Ich liebe es, dieses edle Regiment, und man möge mir
    verzeihen, wenn ich mit Zuneigung darüber spreche, vielleicht ist das
    lächerlich! Ich habe dort Karriere gemacht, fast meine ganze Laufbahn
    dort verbracht, geschätzt von meinen Vorgesetzten, an deren
    Unterstützung es mir nie gemangelt hat, die für mich ‚den Wagen
    angeschoben haben‘, wie man in meinem Dorf sagt.
    Außerdem sollte es
    einige Jahre später, ’92, dazu kommen, dass das Regiment von La Fère bei
    seinem Aufeinandertreffen mit dem österreichischen General Beaulieu ein
    solch befremdliches Verhalten an den Tag legte, dass ich es nicht
    bedauern kann, es verlassen zu haben. Ich werde nicht weiter davon
    sprechen.
    Ich komme also zum Königlichen Regiment der Pikardie
    zurück. Ein edleres Regiment hätte man nicht finden können. Es war zu
    meiner Familie geworden. Ich bin ihm treu geblieben, bis es aufgelöst
    wurde. Man war dort glücklich. Ich habe alle seine Fanfaren und Signale
    nachgepfiffen, denn ich hatte schon immer die schlechte Angewohnheit,
    durch die Zähne zu pfeifen. Aber man ließ es mir durchgehen. Nun, ich
    denke, ihr könnt euch das alles vorstellen, ohne dass ich noch mehr
    darüber schreibe.
    Acht Jahre lang machte ich nichts anderes, als von
    Garnison zu Garnison zu ziehen. Nicht die geringste Gelegenheit zu einem
    Feuergefecht mit dem Feind. Bah! dieses Dasein ist nicht ohne seine
    Reize, wenn man es versteht, es von seiner guten Seite zu sehen. Und
    dann ist es auch eine gute Sache für jemanden, der, wie es bei mir der
    Fall war, aus der Pikardie kommt und den Dialekt dieser Gegend spricht,
    wenn er etwas vom Rest des Landes sieht. Nach Amerika ein wenig von
    Frankreich, bevor wir auf den langen Straßen marschierten, die durch
    Europa führen. Wir waren ’85 in Saarlouis, ’88 in Angers, ’91 in der
    Bretagne, in Josselin, Pontivy, Ploërmel, Nantes, mit Oberst Serre de
    Gras, ’92 in Charleville mit Oberst de Wardner, Oberst de Lostende,
    Oberst La Roque, und ’93 mit Oberst Le Comte.
    Aber ich vergesse zu
    erwähnen, dass am 1. Januar ’91 ein Gesetz verabschiedet wurde, das die
    Organisation der Armee veränderte. Das Königliche Regiment der Pikardie
    wurde in der neuen Einteilung zum 20. Regiment der Schweren Kavallerie.
    Diese Organisation hatte bis 1803 Bestand. Das Regiment verlor jedoch
    nicht seinen alten Titel. Es blieb auch dann das ‚Königliche‘, als es in
    Frankreich schon seit Jahren keinen König mehr gab.
    Es war unter
    Oberst Serre de Gras, dass man mich zum Gefreiten beförderte, zu meiner
    großen Zufriedenheit. Unter Oberst de Wardner wurde ich Quartiermeister,
    was mich noch mehr freute. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt 13 Dienstjahre
    hinter mir, einen Feldzug und keine Verwundung. Das waren gute
    Fortschritte, da wird man mir zustimmen. Ich konnte nicht weiter
    aufsteigen, da ich ja, ich wiederhole es, weder lesen noch schreiben
    konnte. Aber ich habe immerzu gepfiffen, und es ist doch für einen
    Unteroffizier nicht wirklich angemessen, wenn er den Amseln Konkurrenz
    macht.
    Quartiermeister Delpierre! War das nicht etwas, auf das man
    sich etwas einbilden konnte, war das nicht etwas beeindruckendes! Und
    wie dankbar ich Oberst de Wardner war, obwohl er grob wie Gerstenbrot
    war und man alle seine Befehle genauestens befolgen musste! An jenem Tag
    durchsiebten die Soldaten meiner Kompanie mein Marschgepäck mit ihren
    Kugeln, und ich ließ mir die Ärmel mit den Tressen anlegen, die nie bis
    zu meinen Ellenbogen hinaufreichen sollten.
    Wir lagen in Charleville
    in Garnison, als ich um zwei Monate Urlaub bat, die mir gewährt wurden.
    Es ist die Geschichte eben dieses Urlaubs, die ich mich entschlossen
    habe hier getreulich wiederzugeben. Dies sind meine Gründe:
    Seitdem
    ich pensioniert bin, habe ich bei den abendlichen Zusammenkünften in
    unserem Dorf Grattepanche oft von den Feldzügen erzählen müssen, an
    denen ich teilgenommen habe. Meine Freunde haben mich völlig falsch
    verstanden, oder wenn sie doch etwas verstanden haben, dann war es so
    gut wie nichts. Es kam vor, dass der eine sagte, ich hätte mich auf der
    rechten Seite befunden, wenn es die linke war; der nächste, es sei die
    linke gewesen, wenn ich mich eigentlich auf der rechten befunden hatte.
    Und dann gab es Diskussionen, die auch über zwei Gläsern Cidre oder zwei
    Kaffee – zwei kleinen Kannen – nicht enden wollten. Vor allem über das,
    was meine Erlebnisse während meines Urlaubs in Deutschland angeht,
    konnte man sich nie einig werden. Nun – wo ich doch schreiben gelernt
    habe, kann ich jetzt die Gelegenheit nutzen und die Feder in die Hand
    nehmen, um die Geschichte dieses Urlaubs zu erzählen. Ich habe mich also
    an die Arbeit gemacht, obwohl ich jetzt schon 70 Jahre alt bin. Aber
    mein Gedächtnis ist gut, und wenn ich zurück schaue, sehe ich immer noch
    klar genug. Dieser Bericht ist also meinen Freunden in Grattepanche
    gewidmet, den Ternisiens, den Bettembos, den Irondarts, den Pointefers,
    den Quennehens, und vielen anderen, und ich hoffe, dass es bei ihnen
    keine Diskussionen mehr über dieses Thema geben wird.
    Ich hatte
    meinen Urlaub also am 7. Juni 1792 erhalten. Es stimmt wohl, dass damals
    schon Gerüchte umgingen, dass ein Krieg mit Deutschland bevorstehen
    könnte, aber sie waren noch sehr vage. Man sagte, dass Europa, obwohl es
    diese Angelegenheiten in keiner Weise etwas angingen, mit Argwohn auf
    das schaute, was in Frankreich vor sich ging. Wenigstens war der König
    noch in den Tuilerien, wenn man so will. Indes warfen die Ereignisse des
    10. August schon ihre Schatten voraus, und es wehte so etwas wie ein
    Wind der Republik über das Land.
    Auch glaubte ich nicht, dazu
    verpflichtet zu sein, zu sagen, warum ich um Urlaub bat, aus Vorsicht.
    Tatsächlich hatte ich in Deutschland, noch dazu in Preußen, etwas zu
    erledigen. Nun, im Kriegsfall wäre es sehr schwierig gewesen, auf meinen
    Posten zurück zu kehren. Was solls? Man kann eben nicht gleichzeitig
    die Glocken läuten und bei der Prozession mitgehen.
    Außerdem, obwohl
    mein Urlaub zwei Monate dauerte, hatte ich beschlossen, ihn vorzeitig zu
    beenden, falls es nötig war. Ich hoffte jedoch immer noch, dass es
    nicht zum schlimmsten kommen würde.

  • Um nun aber zum Ende zu kommen
    mit dem, was mich angeht, und was mein tapferes Regiment angeht,
    schreibe ich hier und jetzt in wenigen Worten, was ich euch darüber zu
    berichten habe.
    Zuerst wird man sehen, unter welchen Umständen ich
    anfing, lesen zu lernen, dann schreiben – was mir selbst die Möglichkeit
    eröffnet hätte, Offizier zu werden, General, Marschall von Frankreich,
    Graf, Herzog, Fürst, ganz so wie ein Ney, ein Davout oder ein Murat in
    den Kriegen des Empire. Im wahren Leben bin ich nicht über den Rang
    eines Hauptmanns hinaus gekommen – was immer noch sehr ansehnlich ist
    für den Sohn eines Bauern, der selbst auch Bauer ist.
    Was mein Regiment betrifft, werden mir einige wenige Zeilen reichen, um seine Geschichte zu ende zu erzählen.
    Es
    hatte ’93, wie ich oben schon erwähnt habe, Monsieur Le Comte als
    Oberst. Und es geschah in jenem Jahr, dass es, nach dem Erlass vom 21.
    Februar, vom Regiment zur Halbbrigade wurde. Es nahm dann bis 1797 an
    den Feldzügen der Nordarmee und der Sambre-und-Maas-Armee teil. Es
    bewährte sich in den Schlachten von Lincelles und Courtray, wo ich
    Leutnant wurde. Dann, nachdem es von ’97 bis 1800 in Paris stationiert
    war, war es Teil der Italienarmee und zeichnete sich in der Schlacht bei
    Marengo aus, indem es sechs österreichische Infanteriebataillone
    umzingelte, die die Waffen nieder legten, nachdem zuvor ein ungarisches
    Regiment in die Flucht geschlagen worden war. Bei diesem Gefecht wurde
    ich durch eine Kugel an der Hüfte verwundet – worüber ich mich nicht
    groß beklagt habe, denn es brachte mir die Beförderung zum Hauptmann
    ein.
    Als das Königliche Regiment der Pikardie 1803 aufgelöst wurde,
    ging ich zu den Dragonern; ich kämpfte in allen Kriegen des Empire und
    bin 1815 in den Ruhestand gegangen.
    Wenn ich jetzt weiter über mich
    sprechen werde, wird es allein darum gehen, zu erzählen, was ich während
    meines Urlaubs in Deutschland gesehen und getan habe. Aber, man möge es
    nicht vergessen, ich bin kein gelehrter Mann. Meine Ausdrucksweise ist
    nicht besonders gut. Es handelt sich nur um meine Eindrücke, über die
    ich keine weitergehenden Betrachtungen anstellen will. Insbesondere
    werdet ihr mir sicher verzeihen, wenn mir in diesem nicht sehr
    anspruchsvollen Bericht ein paar Ausdrücke und Wendungen aus dem Dialekt
    meiner Heimat herausrutschen sollten: ich kann nicht anders sprechen.
    Außerdem werde ich schnell voran gehen, von mir kann man nicht sagen
    ‚dem kann man beim laufen die Schuhe besohlen‘. Ich werde auch nichts
    weg lassen, und wenn ich euch hier um Erlaubnis bitte, mich ohne
    Zurückhaltung äußern zu dürfen, so hoffe ich, dass ihr antworten werdet:
    „Nur zu, Monsieur!“

  • II


    Zu dieser Zeit, so habe ich es später aus den Geschichtsbüchern gelernt, war Deutschland noch in zehn Reichskreise aufgeteilt; später, 1806, wurde durch Neuregelungen der Rheinbund geschaffen, unter dem Protektorat Napoleons, dann, 1815, der Deutsche Bund. Einer dieser Kreise, der die Kurfürstentümer Sachsen und Brandenburg umfasste, trug damals den Namen Obersächsischer Reichskreis.
    Das Kurfürstentum Brandenburg sollte später einer der Landesteile Preußens werden und bestand aus zwei Bezirken, dem Bezirk Brandenburg und dem Bezirk Potsdam.
    Ich sage das, damit der Leser weiß, wo sich das Städtchen Belzingen befindet, das im Bezirk Potsdam liegt, im südwestlichen Teil, einige Meilen hinter der Grenze.
    An dieser Grenze kam ich am 16. Juni an, nachdem ich die 400 Meilen durchquert hatte, die sie von Frankreich trennen. Wenn ich neun Tage gebraucht habe, um diese Strecke zurückzulegen, dann lag das daran, dass die Passage nicht einfach war. Ich hatte mehr Schuhnägel abgenutzt als Hufeisen und Kutschenräder – oder besser gesagt Karrenräder. Außerdem hatte ich meine Eier nicht ausgebrütet, wie man in der Pikardie sagt. Was ich von meinem Sold gespart hatte, war ziemlich mager, mehr hatte ich nicht, und ich wollte so wenig ausgeben wie möglich. Glücklicherweise hatte ich aus der Zeit, als ich an der Grenze stationiert war, ein paar Wörter Deutsch behalten, wodurch es mir leichter möglich war, mich aus der einen oder anderen Verlegenheit zu ziehen. Es wäre dennoch schwer zu verbergen gewesen, dass ich ein Franzose war. Mir wurde auf der Reise auch mehr als nur ein misstrauischer Seitenblick zugeworfen. Aber ich habe mich davor gehütet zu sagen, dass ich der Quartiermeister Natalis Delpierre war. Man wird anerkennen, dass ich unter diesen Umständen klug vorgegangen bin, denn es stand zu befürchten, dass es Krieg mit Preußen und Österreich geben würde – also mit ganz Deutschland!
    An der Grenze des Bezirks erlebte ich eine angenehme Überraschung.
    Ich war zu fuß. Ich lenkte meine Schritte auf ein Wirtshaus, um dort zu Mittag zu essen, das Wirtshaus Zur Ecktvende – wobei eine ‚Eckwende‘ eine Stelle ist, an der man um die Ecke biegt. Nach einer ziemlich frischen Nacht brach ein angenehmer Morgen an. Das Wetter war schön. Es war sieben Uhr, die Morgensonne ließ den Tau der Wiesen verfliegen. Ein ganzer Schwarm Vögel auf den Buchen, Eichen, Ulmen, Birken. Es wurde nur wenig angebaut, viele Felder lagen brach. Das Klima ist auch ziemlich rau in diesem Land.
    An der Tür des Wirtshauses wartete ein Karren, vor den ein kleines, mageres Pferd gespannt war, so gerade eben in der Lage, fünf Meilen in der Stunde zu machen, wenn man ihm nicht zu viele Anstiege zu bewältigen gab.
    Dort befand sich eine Frau, eine große, starke Frau von ansehnlicher Figur, sie trug eine Korsage mit Trägern, die mit Borten verziert waren, einen Strohhut, der mit gelben Bändern geschmückt war, einen Rock mit roten und violetten Streifen – alles passte gut zueinander, sehr adrett, als wäre diese Kleidung für einen Sonntag oder einen Feiertag gedacht gewesen.
    Und es war für diese Frau tatsächlich ein Feiertag, auch wenn es nicht Sonntag war!
    Sie schaute mich an, und ich schaute sie an, wie sie mich so anschaute.
    Auf einmal breitet sie ihre Arme aus, lässt sich nicht zwei mal bitten, rennt auf mich zu und ruft:
    „Natalis!“
    „Irma!“
    Sie war es. Es war meine Schwester. Sie hatte mich wiedererkannt. Frauen können das wirklich besser als wir – jemanden nicht nur mit den Augen, sondern auch mit dem Herzen zu erkennen – oder wenigstens können sie es schneller. Es war so, dass wir uns bald 13 Jahre nicht gesehen hatten, und man wird verstehen, dass ich sie vermisst habe.
    Wie jung sie noch immer aussah und wie munter sie war! Sie erinnerte mich an unsere Mutter, mit ihren großen, lebhaften Augen, und mit ihren schwarzen Haaren, die an den Schläfen grau zu werden begannen.
    Ich habe ihre vollen, von der frischen Luft geröteten Wangen von Herzen geküsst, als sie mich dann auf meine küsste, waren das echte Schmatzer, das kann man mir ruhig glauben!
    Wegen ihr, um sie zu besuchen, hatte ich um Urlaub gebeten. Ich fing an, mich darüber zu beunruhigen, dass sie nicht in Frankreich war, zu einem Zeitpunkt, wo zu befürchten war, dass die Karten neu gemischt werden würden – mit ungewissem Ausgang. Eine Französin mitten unter diesen ganzen Deutschen, das konnte eine sehr heikle Angelegenheit werden, wenn es zur Kriegserklärung kam. In so einer Situation ist es deutlich besser, in seinem eigenen Land zu sein. Und wenn meine Schwester es wollte, würde ich sie mit zurück nehmen. Dafür hätte sie aber von ihrer Dienstherrin, Madame Keller, fort gehen müssen, und ich hatte Zweifel, dass sie damit einverstanden sein würde. Nun, ich musste es heraus finden.
    „Was für eine Freude, dass wir uns wiedersehen, Natalis,“ sagte sie zu mir, „dass wir uns wiederfinden, und das so weit weg von der Pikardie, unserer Heimat! Es kommt mir so vor, als ob du mir ein wenig von ihrer frischen Luft mit bringst! Wie lange es doch her ist, dass wir uns das letzte mal gesehen haben!“
    „13 Jahre, Irma!“
    „Ja, 13 Jahre! 13 Jahre waren wir getrennt! Was für eine lange Zeit, Natalis!“
    „Liebe Irma!“ antwortete ich.
    Da waren wir zwei also, meine Schwester und ich, und gingen Arm in Arm die Straße rauf und runter.
    „Wie gehts?“ sagte ich zu ihr.
    „Immer so halbwegs, Natalis. Und bei dir?“
    „Genau so!“
    „Und du bist Quartiermeister! Das ist mal eine Ehre für unsere Familie!“
    „Ja, Irma, sogar eine große Ehre! Wer hätte jemals gedacht, dass der kleine Gänsehirt aus Grattepanche Quartiermeister werden würde! Aber darüber dürfen wir nicht zu laut reden.“
    „Wieso denn? … Erzähl mir doch ein wenig darüber, damit ich mir ein Bild machen kann! ...“
    „Zu erzählen, dass ich Soldat bin, hätte in diesem Land einige Unannehmlichkeiten zur Folge. In einer Zeit, wo Kriegsgerüchte umgehen, ist es für einen Franzosen auch so riskant genug, sich in Deutschland aufzuhalten. Nein! Ich bin dein Bruder, Herr Nichtsundniemand, der gekommen ist, um seine Schwester zu besuchen.“
    „Gut, Natalis, wir werden darüber Stillschweigen bewahren, das verspreche ich dir.“
    „Das ist klug, denn die deutschen Spione haben feine Ohren!“
    „Du kannst beruhigt sein!“
    „Und wenn du meinen Rat befolgen willst, Irma, werde ich dich auch mit zurück nach Frankreich nehmen.“

  • In den Augen meiner Schwester zeigte sich ein Ausdruck großen Kummers, und sie gab mir die Antwort, die ich vorhergesehen hatte.
    „Madame Keller verlassen! Wenn du sie erst gesehen hast, wirst du verstehen, dass ich sie nicht allein zurück lassen kann!“
    Ich verstand schon und verschob diese Angelegenheit auf später.
    Dann
    aber hatten Irmas Augen und ihre Stimme wieder den fröhlichen Ausdruck
    von zuvor angenommen. Sie hörte nicht auf, mich über Land und Leute
    auszufragen.
    „Und unsere Schwester Firminie?“
    „Sie ist bei bester
    Gesundheit. Ich habe Nachricht erhalten über sie von unserem Nachbarn
    Létocard, der vor zwei Monaten nach Charleville gekommen ist. Erinnerst
    du dich noch gut an Létocard?“
    „Den Sohn des Stellmachers!“
    „Ja! Du weißt – oder weißt du es nicht? – dass er mit einer Matifas verheiratet ist?“
    „Die Tochter dieses alten Knackers aus Fouencamps?“
    „Genau
    die. Er hat mir erzählt, dass unsere Schwester über ihre Gesundheit
    nicht klagen kann. Ah! sie haben in Escarbotin hart gearbeitet, und sie
    arbeiten dort immer noch hart. Und dann haben sie jetzt vier, Kinder
    meine ich, und das letzte... schwierig... Ein kecker Bursche. Zum Glück
    ist ihr Mann anständig und fleißig, und trinkt nicht zu viel, außer
    montags. Nun, sie hat auch nach so vielen Jahren noch große Sorgen.“
    „Sie ist schon alt!“
    „Ja!
    Das stimmt. Fünf Jahre älter als du, Irma, und 14 Jahre älter als ich!
    Das macht etwas aus! … Aber was solls? Sie ist eine tapfere Frau, genau
    wie du!“
    „Oh! ich, Natalis!? Wenn ich mit Kummer zu tun gehabt habe,
    dann ist es immer der Kummer anderer gewesen! Seit ich Grattepanche
    verlassen habe, ist es mir nie schlecht gegangen! Aber jemanden in
    seiner Nähe leiden zu sehen, wenn man nichts dagegen tun kann...“
    Das Gesicht meiner Schwester hatte wieder einen düsteren Ausdruck angenommen. Sie lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema.
    „Und wie war die Reise?“ fragte sie mich.
    „Es
    lief alles glatt! Das Wetter war ziemlich schön für die Jahreszeit! Und
    wie du siehst habe ich kräftige Beine! Außerdem, was macht einem die
    Erschöpfung schon aus, wenn man sich sicher ist, dass einem bei der
    Ankunft ein schöner Empfang bereitet werden wird!“
    „Es ist so wie du
    sagst, Natalis, man wird dir einen schönen Empfang bereiten, und die
    Familie wird dich genau so gern haben wie mich!“
    „Die großartige
    Madame Keller! Schwester, ich kann dir sagen, dass ich sie nicht
    wiedererkennen werde! Für mich ist sie immer noch die Tochter von
    Monsieur und Madame Acloque, diesen anständigen Leuten aus
    Saint-Sauflieu. Als sie geheiratet hat, was bald 25 Jahre her ist, war
    ich noch ein kleiner Junge. Aber unser Vater und unsere Mutter haben so
    viel gutes über sie erzählt, dass ich es behalten habe.“
    „Die arme
    Frau,“ sagte Irma darauf „sie hat sich sehr verändert, es geht ihr jetzt
    viel schlechter! Was für eine Ehefrau sie gewesen ist, Natalis, und vor
    allem was für eine Mutter sie noch immer ist!“
    „Und ihr Sohn? ...“
    „Er
    ist der beste Sohn, den man sich vorstellen kann, er hat sich tapfer an
    die Arbeit gemacht, um die Stelle seines Vaters einzunehmen, der vor
    eineinviertel Jahren gestorben ist.“
    „Der gute Monsieur Jean!“
    „Er liebt sie sehr, er lebt nur für sie, so wie sie nur für ihn lebt.“
    „Ich
    habe ihn noch nie gesehen, und ich brenne darauf, ihn kennen zu lernen.
    Es kommt mir so vor, als würde ich ihn jetzt schon gern haben, diesen
    jungen Mann!“
    „Das überrascht mich nicht, Natalis. Durch mich fühlst du dich schon als sein Freund.“
    „Nun, Schwester, machen wir uns auf den Weg.“
    „Ja. Auf den Weg!“
    „Moment! Wie weit sind wir von Belzingen entfernt?“
    „15 Meilen.“
    „Bah!“ antwortete ich „wenn ich allein wäre, würde ich das in zwei Stunden erledigen. Aber wir müssen...“
    „Gut! Natalis, ich werde schneller als du sein!“
    „Mit deinen Beinen!“
    „Nein, mit den Beinen meines Pferdes!“
    Und Irma zeigte auf den voll bespannten Karren am Eingang zum Wirtshaus.
    „Du bist also“ fragte ich „in diesem Karren gekommen, um mich abzuholen?“
    „Ja,
    Natalis, um dich mit zurück nach Belzingen zu nehmen. Ich bin heute
    morgen zeitig los gefahren und bin um Punkt sieben hier gewesen. Und
    wenn der Brief, den du an uns schreiben lassen hast, früher angekommen
    wäre, dann wäre ich sogar noch weiter gefahren, um dich holen zu
    kommen.“
    „Oh! das war nicht nötig, Schwester. Los, auf den Weg! Musst
    du nichts mehr bezahlen im Wirtshaus? Ich habe hier ein paar
    Kreuzer...“
    „Danke Natalis, das ist schon erledigt, wir müssen also nur noch aufbrechen.“
    Während
    wir uns unterhielten, schien uns der Wirt der Ecktvende, an seine Tür
    gelehnt, zu belauschen, wobei er aber einen Gesichtsausdruck hatte, als
    könne er kein Wässerchen trüben.
    Das gefiel mir nicht besonders. Wäre es vielleicht besser gewesen, wenn wir weiter weggegangen wären, um uns zu unterhalten?
    Dieser
    Wirt, ein dicker Mann, ein richtiger Berg, hatte ein hässliches
    Gesicht, durchdringende Augen, die so klein waren, dass sie in einem von
    einem Drillbohrer gebohrten Loch Platz gefunden hätten, faltige
    Augenlider, eine schmale Nase, und einen breiten Mund, so als ob man ihm
    seinen Brei mit einem Säbel verabreicht hatte, als er klein war. Kurz
    gesagt, das üble Gesicht eines Plagegeists, der einer üblen Rasse
    entstammte!
    Letztlich hatten wir gar nichts gesagt, was uns in Gefahr
    hätte bringen können. Vielleicht hatte er von unserer Unterhaltung kein
    Wort verstanden! Außerdem, wenn er nicht Französisch konnte, konnte er
    gar nicht mitbekommen haben, dass ich aus Frankreich gekommen war.
    Wir stiegen auf den Karren. Der Wirt schaute zu, wie wir abfuhren, und zeigte dabei weiterhin nicht die geringste Regung.
    Ich
    nahm die Zügel und trieb das kleine Pferd kräftig an. Wir sausten dahin
    wie der Wind im Januar. Das hielt uns nicht davon ab, noch weiter zu
    plaudern, und Irma konnte mich über alles auf den neuesten Stand
    bringen.
    Und so werdet ihr nun – von dem ausgehend, was mir schon
    bekannt war, und von dem, was sie mir erzählte – etwas über die Familie
    Keller erfahren.

  • III


    Madame Keller, 1747 geboren, war damals 45 Jahre alt. Sie war, wie ich bereits erwähnt habe, aus Saint-Sauflieu gebürtig, und ihrer Familie gehörte ein wenig Land. Monsieur und Madame Acloque, ihr Vater und ihre Mutter, deren Wohlstand sehr bescheiden war, hatten miterlebt, wie ihr geringes Vermögen von Jahr zu Jahr abnahm, dadurch dass sie teilweise aus diesen Mitteln ihren Lebensunterhalt bestreiten mussten. Sie starben kurz nacheinander, 1765. Das junge Mädchen war dann in der Obhut einer bejahrten Tante, deren Hinscheiden sie bald allein auf der Welt zurück lassen sollte.
    Unter diesen Bedingungen machte Herr Keller ihr seine Aufwartung, um sie zu bitten, seine Ehefrau zu werden; er war in die Pikardie gekommen, weil er ein Handelsunternehmen hatte. Er trieb anderthalb Jahre lang Handel in Amiens und Umgebung, wo er mit dem Transport von Waren beschäftigt war. Er war verlässlich, von einwandfreiem Auftreten, intelligent, rege. Damals haben wir für Leute, die von deutscher Abstammung sind, noch nicht die Abscheu empfunden, die später durch die Gefühle des Hasses zwischen den beiden Ländern entstand, die durch drei Jahrzehnte Krieg genährt wurden. Herr Keller erfreute sich eines gewissen Vermögens, das sich durch seinen Fleiß und seine Geschäftsbündnisse nur mehren konnte. Er fragte also Mademoiselle Acloque, ob sie einverstanden sei, ihn zu heiraten.
    Mademoiselle Acloque zögerte, denn sie hätte dann Saint-Sauflieu und die Pikardie, an der ihr Herz hing, verlassen müssen. Und sollte diese Heirat nicht auch zur Folge haben, dass sie keine französische Bürgerin mehr wäre? Aber dann bestand ihr ganzes Vermögen nur aus einem kleinen Haus, das sie würde verkaufen müssen. Was sollte nach diesem letzten Opfer aus ihr werden? Und da Madame Dufrenay, die bejahrte Tante, ihr Ende nahen sah und über die Lage, in der sich ihre Nichte dann befinden würde, beunruhigt war, drängte sie sie dazu, sich einverstanden zu erklären.
    Mademoiselle Acloque willigte ein. Die Heirat fand in Saint-Sauflieu statt. Frau Keller verließ die Pikardie einige Monate später und folgte ihrem Mann über die Grenze.
    Frau Keller hatte keinen Grund, die Wahl, die sie getroffen hatte, zu bereuen. Ihr Mann war gut zu ihr, so wie sie gut zu ihm war. Er war ihr gegenüber immer sehr aufmerksam und sorgte so dafür, dass es sie nicht zu sehr schmerzte, ihre Staatsangehörigkeit verloren zu haben. Also gab es in dieser Ehe, einer Verbindung, die ganz auf Vernunft und Zweckmäßigkeit beruhte, nur glückliche Tage – was heutzutage selten ist und es auch damals schon war.
    Ein Jahr später brachte Frau Keller in Belzingen, wo sie nun wohnte, einen Sohn zur Welt. Sie wollte sich ganz der Erziehung dieses Kindes widmen, von dem in unserer Geschichte noch die Rede sein wird.
    1771, einige Jahre nach der Geburt dieses Jungen, hat sich meine Schwester Irma, damals 19 Jahre alt, der Familie Keller angeschlossen. Frau Keller hatte Irma schon gekannt, als sie noch ganz klein war, zu einer Zeit, als sie selbst noch ein junges Mädchen war. Unser Vater hatte manchmal für Monsieur Acloque gearbeitet. Seine Frau und seine Tochter nahmen Anteil an seiner Lage. Von Grattepanche ist es nicht weit nach Saint-Sauflieu. Mademoiselle Acloque hat meine Schwester oft getroffen, sie nahm sie in den Arm, sie machte ihr kleine Geschenke, sie wurde ihre Freundin – diese Freundschaft sollte Irma ihr eines Tages mit ihrer großen Hingabe lohnen.
    Und auf grund dieser Freundschaft hatte Frau Keller, als sie vom Tod unseres Vaters und unserer Mutter erfuhr, und dass dieser Tod uns beinahe mittellos zurück ließ, die Idee, Irma kommen zu lassen, die bereits bei jemand in Saint-Sauflieu in Dienst getreten war. Meine Schwester erklärte sich damit gerne einverstanden, was sie nie bereut hat.
    Ich habe bereits erwähnt, dass Herr Keller durch seine Vorfahren von französischem Blut war. Im folgenden wird erläutert, wie es dazu kam:
    Etwas mehr als hundert Jahre zuvor waren die Kellers im französischen Teil Lothringens ansässig. Sie waren geschickte Händler, und ihr Vermögen war schon damals äußerst ansehnlich. Sie hätten bestimmt auch weiterhin Erfolg gehabt, wäre nicht das schwer wiegende Ereignis eingetreten, das die Zukunft von einigen tausend Familien grundlegend verändern sollte, die man zu den tüchtigsten in ganz Frankreich zählte.
    Die Kellers waren Protestanten. Da sie fest zu ihrem Glauben standen, konnten wie auch immer geartete wirtschaftliche Interessen sie nicht zu Abtrünnigen machen. Das wurde deutlich, als 1685 das Edikt von Nantes aufgehoben wurde. Wie so viele andere hatten sie die Wahl, entweder das Land zu verlassen oder von ihrem Glauben abzufallen. Wie so viele andere zogen sie es vor, ins Exil zu gehen.
    Manufakturbesitzer, Handwerker, Arbeiter aus allen Berufen, Landwirte verließen Frankreich, um den Wohlstand Großbritanniens, der Niederlande, der Schweiz, Deutschlands, insbesondere Brandenburgs, zu mehren. Dort wurden sie vom Kurfürsten Preußens und Potsdams sehr freundlich empfangen, in Berlin, in Magdeburg, in Battin, in Frankfurt an der Oder. Zum Beispiel kamen aus Metz – wie ich gehört habe – 25 000 und gründeten florierende Siedlungen in Stettin und Potsdam.
    Die Kellers verließen also Lothringen, wohl mit der Absicht, irgendwann zurück zu kehren, nachdem sie gezwungen waren, ihr Unternehmen für ein Schwarzbrot zu verkaufen.
    Ja! man sagt sich, dass man in sein Land zurück kehren wird, sobald die Umstände es erlauben. Doch in der Zwischenzeit baut man sich in der Fremde etwas neues auf. Neue Beziehungen ergeben sich und andere, neue Dinge sind von Belang. Die Jahre fließen dahin, und dann bleibt man! Und an diesem Punkt sind viele angelangt, zum Nachteil Frankreichs!
    Damals hatte Preußen, dessen Gründung als Königreich erst 1701 erfolgte, an Besitzungen am Rhein nur das Herzogtum Kleve, die Grafschaft Mark und einen Teil des Herzogtums Geldern.
    Es war genau diese letztgenannte Provinz – nahe der Grenze zu den Niederlanden – wo die Kellers Zuflucht suchten. Sie bauten dort Manufakturen und nahmen ihren Handel wieder auf, der durch die ungerechte und bedauerliche Aufhebung des Edikts Heinrichs des IV. unterbrochen worden war. Von Generation zu Generation ergaben sich mehr Beziehungen und sogar Verbindungen mit ihren neuen Landsleuten, die Familien vermischten sich immer mehr, so dass die vormaligen Franzosen nach und nach deutsche Bürger wurden.

  • 1760 verließ einer der Kellers Geldern, um sich im Städtchen Belzingen
    niederzulassen, in der Mitte des erwähnten Obersächsischen Kreises, der
    einen Teil Preußens umfasste. Dieser Keller hatte mit seinem Unternehmen
    Erfolg, und das ermöglichte es ihm, Mademoiselle Acloque das Auskommen
    zu bieten, das sie in Saint-Sauflieu nicht mehr finden konnte. Und in
    Belzingen kam auch ihr Sohn zur Welt, durch seinen Vater preußisch,
    obwohl durch seine Mutter französisches Blut in seinen Adern floss.
    Und
    er war, ich sage das mit einer Gefühlsbewegung, die mein Herz selbst
    jetzt noch höher schlagen lässt, in seiner Seele ein echter Franzose,
    dieser tapfere junge Mann, in dem die Seele seiner Mutter fortlebte!
    Madame Keller hatte ihn mit ihrer Milch genährt. Als Kind hat er seine
    ersten Worte auf französisch gebrabbelt. Er hat nicht „Mama“ gesagt,
    sondern „Maman“! Unsere Sprache war es, die er zuerst gehört, und dann
    gesprochen hat, denn im Haus der Familie in Belzingen wurde meistens
    Französisch gesprochen, auch wenn Madame Keller und meine Schwester Irma
    schnell gelernt hatten, sich der deutschen Sprache zu bedienen.
    So
    wurde Jean, als er noch ein ganz kleines Kind war, zu den Liedern
    unserer Heimat auf den Knien geschaukelt und in den Schlaf gewiegt. Sein
    Vater hat auch nicht im Traum daran gedacht, Einwände dagegen zu
    erheben. Ganz im Gegenteil. War das nicht die Sprache seiner Vorfahren,
    diese Sprache Lothringens, die so ursprünglich französisch ist, und
    deren Reinheit die Nähe der deutschen Grenze nicht im geringsten
    beeinträchtigt hat?
    Aber Madame Keller hat dieses Kind nicht nur mit
    ihrer Milch genährt, sondern auch mit ihren Ansichten zu allem, was
    Frankreich betraf. Sie empfand eine tiefe Liebe zu dem Land, in dem sie
    geboren wurde. Sie hatte die Hoffnung nie aufgegeben, eines Tages
    dorthin zurück zu kehren. Sie verhehlte keineswegs, welches Glück es für
    sie gewesen wäre, ihre alte Heimat, die Pikardie, wiederzusehen. Herrn
    Keller widerstrebte das nicht. Wäre sein Vermögen schon groß genug
    gewesen, hätte er Deutschland wohl gerne verlassen, um in die Heimat
    seiner Frau überzusiedeln. Aber er musste noch ein paar Jahre arbeiten,
    um für annehmbare Verhältnisse für seine Frau und seinen Sohn zu sorgen.
    Doch dann ereilte ihn der Tod. Das war kaum ein und ein viertel Jahr
    her.
    Von diesen Ereignissen erzählte mir meine Schwester, während der
    Karren Richtung Belzingen rollte. Zuallererst bedeutete dieser
    unvorhergesehene Tod, dass die Rückkehr der Familie Keller nach
    Frankreich hinausgezögert wurde, und was für Schicksalsschläge sollten
    darauf noch folgen!
    Herr Keller war nämlich zum Zeitpunkt seines
    Todes in einen langen Rechtsstreit mit dem preußischen Staat verwickelt.
    Seit zwei oder drei Jahren hatte er im Auftrag der Regierung Waren
    geliefert und dafür neben seinem eigenen Vermögen auch Kapital
    eingesetzt, das ihm von anderen anvertraut worden war. Nach den ersten
    Geldeingängen konnte er seinen Geschäftspartnern ihr Geld zurück zahlen,
    aber er musste noch den restlichen Betrag, der fast seinem gesamten
    Vermögen entsprach, zurück bekommen. Nun, die Rückzahlung dieses Betrags
    hat sich unendlich hingezogen. Man schikanierte Herrn Keller, man
    rasierte ihn so lange, bis er keine Haare mehr hatte, wie man bei uns
    sagt, man bereitete ihm alle möglichen Schwierigkeiten, und er war
    gezwungen, das Gericht in Berlin anzurufen.
    Der Prozess zog sich also
    in die Länge. Es ist ja, nebenbei gesagt, allgemein bekannt, dass
    nichts gutes dabei heraus kommt, wenn man einen Prozess gegen eine
    Regierung führt, egal in welchem Land. Es war nur zu offensichtlich,
    dass die preußischen Richter Herrn Keller gegenüber keinen guten Willen
    zeigten, im Gegenteil, während Herr Keller doch allen seinen
    Verpflichtungen in gutem Glauben nachgekommen war, denn er war ein
    Ehrenmann. Es ging um 20 000 Gulden – was damals ein Vermögen war – und
    den Prozess zu verlieren hätte seinen Ruin bedeutet.
    Wie schon
    gesagt, ohne diese Verzögerungen wäre in Belzingen vielleicht schon
    alles geklärt gewesen. Diese Klärung strebte auch Madame Keller seit dem
    Tod ihres Mannes an, denn ihr Wunsch, nach Frankreich zurück zu kehren,
    war verständlicherweise noch stärker geworden.
    Das ist, was meine
    Schwester mir erzählt hat. Was ihre Stellung betrifft – man kann es
    leicht erahnen. Irma hatte das Kind schon fast seit seiner Geburt mit
    aufgezogen, indem sie seiner Mutter dabei half, für ihn zu sorgen. Ihre
    Liebe zu ihm war wie echte Mutterliebe. Und daher hat man sie im Haus
    der Kellers nicht als Dienerin angesehen, sondern als eine Gefährtin,
    eine zurückhaltende und bescheidene Freundin. Sie war ein Teil der
    Familie, und so ging man auch mit ihr um; sie war diesen aufrechten
    Menschen treu ergeben. Sollten die Kellers Deutschland verlassen, wäre
    es für sie eine große Freude, mit ihnen zu gehen. Sollten sie in
    Belzingen bleiben, so würde sie bei ihnen bleiben.
    „Madame Keller zurück lassen!... Ich glaube, dass ich daran zu grunde gehen würde“ sagte sie zu mir.
    Ich
    begriff, dass nichts meine Schwester dazu würde bewegen können, mich
    zurück zu begleiten, denn ihre Dienstherrin war gezwungen, in Belzingen
    zu bleiben, bis ihre Angelegenheiten geregelt waren. Aber sie mitten in
    diesem Land zu wissen, das kurz davor stand, sich gegen das unsere zu
    richten, das hat mich überaus beunruhigt. Und dafür gab es gute Gründe,
    denn wenn es zum Krieg käme, dann würde er nicht so schnell wieder
    vorbei sein!
    Dann, nachdem sie mir dies alles über die Kellers erzählt hatte, fragte sie mich:
    „Wirst du deinen ganzen Urlaub bei uns verbringen?“
    „Ja, den ganzen Urlaub, wenn ich kann.“
    „Nun gut, Natalis, vielleicht wirst du bald Gast auf einer Hochzeit sein.“
    „Wer heiratet denn?... Monsieur Jean?“
    „Ja.“
    „Und wen heiratet er? Eine Deutsche?“
    „Nein,
    Natalis, und das bereitet uns große Freude. Wenn seine Mutter auch
    einen Deutschen geheiratet hat, so ist es in seinem Fall umgekehrt: eine
    Französin wird seine Ehefrau werden.“
    „Schön?“
    „Schön wie ein Schmuckkästchen.“
    „Was du mir da erzählst, das freut mich.“
    „Und uns erst! – Aber was ist mit dir, Natalis, hast du denn nicht auch vor, dir eine Ehefrau zu suchen?“
    „Ich?“
    „Oder hast du schon eine Braut... die drüben auf dich wartet?“
    „Ja, Irma.“
    „Wer ist es denn?“
    „Das Vaterland, Schwester! Was sollte ein Soldat sonst noch brauchen?“

  • IV


    Belzingen ist ein Städtchen, das weniger als 50 Meilen von Berlin entfernt in der Nähe des Dorfes Hagelberg liegt, wo sich 1813 die Franzosen mit der preußischen Landwehr messen sollten. Beherrscht von den Höhen des Flämings erstreckt es sich, einen recht malerischen Anblick bietend, zu seinen Füßen. Seine Handelsgüter umfassen Pferde, Vieh, Flachs, Klee und Getreide.
    Dort kamen wir zwei, meine Schwester und ich, gegen zehn Uhr morgens an. Einige Augenblicke später hielt der Karren vor einem sehr gepflegten, einladend aussehenden, doch bescheidenen Haus. Es war Madame Kellers Haus.
    In diesem Landstrich konnte man glauben, sich mitten in Holland zu befinden. Die Bauern tragen lange bläuliche Gehröcke und scharlachrote Westen, darüber befindet sich ein hoher und fester Kragen, der problemlos als Schutz vor einem Säbelhieb ausreichen würde. Die Frauen, mit ihren doppelten und dreifachen Unterröcken und ihren Hauben mit weißen Flügeln, würden an Nonnen erinnern, wenn da nicht das Tuch in leuchtenden Farben wäre, das ihre Taille eng umschließt, und ihre Bluse aus schwarzem Samt, die nichts klösterliches an sich hat. Das ist, was die Kleidung betrifft, zumindest das, was ich auf dem Weg gesehen habe.
    Was den Empfang angeht, den man mir bereitet hat, so kann man sich das leicht vorstellen. War ich nicht Irmas Bruder? Es war für mich leicht zu erkennen, dass ihre Stellung in der Familie nicht geringer war, als sie mir erzählt hatte. Madame Keller ehrte mich mit einem warmherzigen Lächeln und Monsieur Jean indem er meine Hände beide herzlich drückte. Wie man sich denken wird, spielte die Tatsache, dass ich Franzose war, dabei eine große Rolle.
    „Monsieur Delpierre,“ sagte er zu mir, „meine Mutter und ich gehen davon aus, dass Sie Ihren ganzen Urlaub hier verbringen werden. Ihrer Schwester ein paar Wochen zu widmen, das ist nicht zu viel, wo Sie sie doch seit dreizehn Jahren nicht gesehen haben!“
    „Ich widme sie meiner Schwester, Ihrer Frau Mutter und Ihnen, Monsieur Jean“ antwortete ich. „Ich habe keineswegs vergessen, was Ihre Familie der meinen Gutes getan hat, und es ist ein großes Glück für Irma, dass sie von Ihnen aufgenommen wurde!“
    Ich gebe es zu, ich hatte mir diese kurze Begrüßung schon vorher zurecht gelegt, um bei meiner Ankunft nicht dumm dazustehen. Es war völlig unnötig. Wenn man es mit so aufrechten Menschen zu tun hat, dann genügt es, einfach frei heraus zu sagen, was man auf dem Herzen hat.
    Als ich Madame Keller ansah, fand ich dabei die Gesichtszüge aus der Zeit wieder, als sie noch eine junge Frau war, die Züge, die sich meinem Gedächtnis eingeprägt hatten. Ihre Schönheit schien mit den Jahren überhaupt nicht geringer geworden zu sein. Schon in ihrer Jugend fiel einem der Ernst in ihrem Gesichtsausdruck auf, und ich sah ihn fast unverändert wieder. Wenn ihre schwarzen Haare auch stellenweise grau geworden waren, so hatten ihre Augen nichts von ihrem früheren lebhaften Glanz verloren. In ihnen brannte immer noch ein Feuer, trotz der Flut von Tränen, die Madame Keller seit dem Tod ihres Ehemanns vergossen hatte. Ihre Haltung strahlte Ruhe aus. Sie verstand es, zuzuhören; sie hatte nichts von diesen Frauen, die immerzu schnattern wie Gänse oder summen wie ganze Bienenstöcke. Und ehrlich gesagt mag ich solche Frauen nicht besonders. Man spürte bei ihr einen sehr gesunden Menschenverstand, sie dachte erst nach, bevor sie etwas sagte oder tat, und sie wusste genau, wie sie ihre Angelegenheiten regeln konnte.
    Außerdem verließ sie, wie ich bald sah, nur selten den häuslichen Herd. Sie stattete den Nachbarn keine Besuche ab. Sie mied Bekanntschaften. Sie fühlte sich zu hause wohl. Das ist es, was mir an einer Frau gefällt. Denjenigen Frauen, denen es wie den Fiedlern, die auf Volksfesten spielen, dann am besten geht, wenn sie aus dem Haus sind, schenke ich nur wenig Beachtung.
    Ich war auch über etwas anderes sehr erfreut, und zwar darüber, dass Madame Keller, ohne deutsche Gewohnheiten zu verachten, einige unserer pikardischen Bräuche beibehalten hatte. So erinnerte die Einrichtung an die, die in den Häusern von Saint-Sauflieu üblich war. Beim Arrangement der Möbel, der Anordnung des Service, der Art, wie die Mahlzeiten angerichtet wurden, konnte man glauben, man sei in der Heimat. Ich habe mir das alles genau eingeprägt, es sozusagen in meiner Erinnerung hervorgehoben.
    Monsieur Jean war damals 24 Jahre alt. Er war ein junger Mann, der größer war als durchschnittlich große Männer, mit braunen Haaren und braunem Schnurrbart, und Augen, die so dunkel waren, dass sie schwarz zu sein schienen. Wenn er auch ein Deutscher war, so hatte er doch nichts von der teutonischen Steifheit; im Gegenteil, er hatte eine umgängliche und höfliche Art, und war von einer freimütigen, offenen, sympathischen Natur, die anziehend wirkte. Er sah seiner Mutter sehr ähnlich. Wie sie von Natur aus ernst, nahmen seine Zuvorkommenheit und Hilfsbereitschaft einen doch ohne weiteres für ihn ein. Und von dem Moment an, wo ich ihn zum ersten Mal traf, war er mir absolut sympathisch. Wenn er jemals einen treuen, ergebenen Freund braucht, so wird er ihn in Natalis Delpierre finden!
    Ich füge hinzu, dass er sich unserer Sprache so gut bediente, als wäre er in meiner Heimat aufgewachsen. Konnte er Deutsch? Ja, offensichtlich, und zwar sehr gut. Aber man hätte ihm wirklich diese Frage stellen können, so wie man das eine preußische Königin, ich weiß nicht mehr, welche, gefragt hat, die gewöhnlich nur Französisch sprach. Zudem interessierte er sich vor allem für Dinge, die Frankreich betrafen. Er mochte unsere Landsleute sehr, er suchte ihre Gesellschaft, er half ihnen, wenn es nötig war. Er bemühte sich, möglichst viele Neuigkeiten aus Frankreich zu erfahren, und machte sie zu seinem bevorzugten Gesprächsthema.
    Darüber hinaus gehörte er der Klasse der Unternehmer an, der Händler, und als solcher litt er unter der Überheblichkeit der Beamten und des Militärs, so wie alle jungen Leute darunter leiden, die sich dem Handel widmen und dem Tätigen von Geschäften verschreiben und dabei über keine direkten Verbindungen zur Regierung verfügen.
    Wie schade, dass Jean Keller nicht, statt es nur halb zu sein, voll und ganz Franzose war! Nun ja, was soll ich sagen? Ich sage einfach, was ich denke, was mir in den Sinn kommt, ohne lange darüber nachzudenken, so wie ich es empfinde. Wenn ich keine hohe Meinung von den Deutschen habe, dann hängt das damit zusammen, dass ich sie das eine oder andere mal aus der Nähe gesehen habe, wenn ich an der Grenze stationiert war. Bei den Angehörigen der oberen Schichten kommt immer ihr angeborener Hochmut durch, selbst wenn sie höflich sind, so wie es sich ganz allgemein anderen gegenüber gehört. Ich streite nicht ab, dass sie auch gute Eigenschaften haben, Franzosen haben aber andere. Und diese Reise nach Deutschland sollte mich nicht dazu bringen, meine Meinung zu ändern.
    Als sein Vater starb, musste Monsieur Jean, zu der Zeit Student an der Universität Göttingen, zurück kommen, um die Geschäfte des Handelshauses zu übernehmen. Madame Keller fand in ihm einen intelligenten, aktiven und arbeitsamen Helfer. Seine Fähigkeiten beschränkten sich indes nicht darauf; auch abgesehen von Handelsdingen war er sehr gebildet, nach dem zu urteilen, was meine Schwester mir erzählt hat, denn ich selbst hätte das nicht einschätzen können. Er liebte Bücher. Er liebte die Musik. Er hatte eine schöne Stimme, nicht so kräftig wie meine, aber von angenehmerem Klang. Auch hier gilt: jeder soll das machen, was er am besten kann. Was mich angeht, wenn ich meinen Männern „Vorwärts!“, „Im Laufschritt!“ oder „Halt!“ zuschrie, kam – vor allem bei „Halt!“ – niemand auf die Idee, sich zu beschweren, dass ich zu laut sei! Zurück zu Monsieur Jean. Wenn es nach mir ginge, würde ich mit meiner Lobrede auf ihn nie zum Ende kommen. Das wird man im weiteren Verlauf dieser Geschichte noch sehen. Was man schon an diesem Punkt im Gedächtnis behalten sollte, ist, dass er seit dem Tod seines Vaters die ganze Last der Verantwortung für die Geschäfte zu tragen hatte. Er musste hart arbeiten, denn die Situation war ziemlich verworren. Er hatte nur ein Ziel: die Angelegenheiten zu klären und dann die Geschäfte einzustellen. Unglücklicherweise schien der erwähnte Prozess, den er weiter gegen den Staat führte, noch nicht auf sein Ende zuzugehen. Es war von großer Bedeutung, ihn beharrlich weiterzuverfolgen, und, um sich keiner Nachlässigkeit schuldig zu machen, oft nach Berlin zu fahren. Es war nämlich so, dass die Zukunft der Familie Keller davon abhing. Letztlich lagen ihre Rechtsansprüche so klar auf der Hand, dass sie den Prozess nicht verlieren konnte, wie sehr es den Richtern auch an gutem Willen mangeln mochte.

  • An jenem Tag aßen wir gemeinsam zu Mittag. Wir saßen alle an einem
    Tisch. Wir waren unter uns, als Familie. So freundlich ging man mit mir
    um. Ich saß neben Madame Keller. Irma nahm ihren gewohnten Platz neben
    Monsieur Jean ein, der mir gegenüber saß.
    Wir unterhielten uns über
    meine Reise, über Schwierigkeiten, auf die ich unterwegs getroffen sein
    mochte, über die Lage der Dinge im Lande. Ich spürte, dass Madame Keller
    und ihr Sohn beunruhigt waren über das, was sich abzeichnete, über die
    Truppen, die in Richtung der französischen Grenze marschierten, sowohl
    preußische als auch österreichische. Wenn der Krieg wirklich ausbrach,
    würden ihre Interessen wahrscheinlich auf lange Zeit gefährdet sein.
    Aber
    es war besser, bei diesem ersten gemeinsamen Mahl nicht über solche
    traurigen Angelegenheiten zu sprechen. Deshalb war Monsieur Jean darauf
    bedacht, das Gesprächsthema zu wechseln, und ich wurde ins Verhör
    genommen.
    „Und Ihre Einsätze, Natalis?“ fragte er mich. „Sie haben in
    Amerika schon an Feuergefechten teil genommen. Sie sind dort dem
    Marquis de La Fayette begegnet, diesem heldenhaften Franzosen, der sein
    Vermögen und sein Leben für die Unabhängigkeit eingesetzt hat!“
    „Ja, Monsieur Jean.“
    „Und sie haben Washington gesehen?“
    „So wie ich Sie jetzt sehe,“ antwortete ich, „ein sehr stattlicher Mann mit großen Füßen und großen Händen, ein wahrer Riese!“
    Offensichtlich hatte mich das am meisten beeindruckt an dem amerikanischen General.
    Dann
    musste ich noch erzählen, was ich über die Schlacht von Yorktown
    wusste, und wie der Graf von Rochambeau Lord Cornwallis eine gehörige
    Tracht Prügel verpasst hatte.
    „Und seit Ihrer Rückkehr nach Frankreich“ fragte mich Monsieur Jean „hatten Sie keine weiteren Einsätze?“
    „Keinen
    einzigen“ erwiderte ich. „Das Königliche Regiment der Pikardie zog von
    Garnison zu Garnison. Wir hatten immer viel zu tun...“
    „Das glaube
    ich gern, Natalis, und es war sogar so viel zu tun, dass Sie nie die
    Zeit fanden, einmal von sich hören zu lassen und Ihrer Schwester zu
    schreiben!“
    Ich konnte es nicht vermeiden, auf diese Äußerung hin rot
    zu werden. Auch Irma machte einen etwas betretenen Eindruck. Dann
    fasste ich mir ein Herz. Schließlich gab es da nichts, wofür man sich
    schämen musste.
    „Monsieur Jean,“ antwortete ich, „wenn ich meiner
    Schwester nicht geschrieben habe, so liegt das daran, dass ich im
    Schreiben ungefähr so geschickt bin wie jemand, dem man beide Arme
    amputiert hat.“
    „Sie können nicht schreiben?“ rief Monsieur Jean.
    „Nein, zu meinem großen Bedauern.“
    „Können Sie denn lesen?“
    „Auch
    das nicht! Selbst wenn meine Eltern in der Lage gewesen wären, ein paar
    Sou für meine Bildung aufzubringen, so hatten wir als ich ein Kind war
    weder in Grattepanche noch in der Umgebung einen Lehrer. Seitdem habe
    ich immer den Rucksack auf dem Rücken und das Gewehr über der Schulter
    gehabt, und man hat zwischen den Märschen kaum Zeit zum lernen. So kommt
    es, dass ein Quartiermeister im Alter von 31 Jahren immer noch nicht
    lesen und schreiben kann!“
    „Nun gut, wir werden es Ihnen beibringen, Natalis“ sagte Madame Keller.
    „Sie, Madame Keller?“ …
    „Ja,“ ergänzte Monsieur Jean, „meine Mutter, ich, wir werden uns alle gemeinsam daranmachen … Sie haben zwei Monate Urlaub?“ …
    „Zwei Monate.“
    „Und sie haben vor, sie hier zu verbringen?“
    „Wenn ich nicht störe.“
    „Uns stören!“ antwortete Madame Keller, „Sie, Irmas Bruder!“
    „Liebe
    Madame Keller,“ sagte meine Schwester, „wenn Natalis Sie erst einmal
    besser kennen gelernt hat, wird er nicht mehr auf solche Gedanken
    kommen!“
    „Sie werden es hier so gut haben wie bei Ihnen zuhause“ fuhr Monsieur Jean fort.
    „Wie bei mir zuhause! … Moment mal, Monsieur Keller! … Ich habe noch nie ein eigenes Zuhause gehabt ...“
    „Nun,
    so gut wie im Haus Ihrer Schwester, wenn Sie so wollen. Ich sage es
    Ihnen noch einmal, bleiben Sie so lange hier, wie es Ihnen gefällt. Und
    während Ihrer zwei Monate Urlaub werde ich die Aufgabe übernehmen, Ihnen
    lesen beizubringen. Danach kommt das schreiben dran.“
    Ich wusste nicht, wie ich mich bedanken sollte.
    „Aber Monsieur Jean,“ sagte ich, „wird Ihre Zeit nicht durch andere Aufgaben ganz in Anspruch genommen?“
    „Zwei Stunden morgens, zwei Stunden abends, das wird reichen. Ich werde Ihnen Aufgaben geben und Sie werden sie machen.“
    „Ich helfe dir dabei, Natalis,“ sagte Irma zu mir, „denn ich kann ein wenig lesen und schreiben.“
    „Das glaube ich gern,“ sagte Monsieur Jean darauf, „Sie war die beste Schülerin meiner Mutter!“
    Was konnte ich auf ein Angebot, das so geradewegs von Herzen kam antworten?
    „Einverstanden,
    ich nehme das Angebot an, Monsieur Jean, ich nehme es an, Madame
    Keller, und wenn ich meine Aufgaben nicht ordentlich erledige, dann
    lassen Sie mich dafür büßen!“
    Monsieur Jean fuhr fort:
    „Sehen Sie,
    mein lieber Natalis, ein Mann muss lesen und schreiben können. Denken
    Sie an all das, was die armen Menschen, die das nicht gelernt haben,
    nicht wissen können! Welch eine Dunkelheit in ihrem Hirn! Was für eine
    Leere in ihrem Verstand! Das ist so schlimm, als ob einem ein Arm oder
    ein Bein fehlen würde!
    Und dann ist wohl anzunehmen, dass Sie so
    keinen höheren Dienstgrad erreichen können? Sie haben es geschafft,
    Quartiermeister zu werden, aber wie könnten Sie noch weiter aufsteigen?
    Wie könnten Sie Leutnant, Hauptmann, Oberst werden? Sie würden dort
    stehen bleiben, wo Sie jetzt sind, wobei es doch nicht so sein sollte,
    dass Sie durch mangelndes Wissen auf Ihrem Weg aufgehalten werden.“
    „Es
    wäre nicht das mangelnde Wissen, das mich aufhalten würde, Monsieur
    Jean,“ antwortete ich, „es wären die Vorschriften. Uns anderen, das
    heißt uns aus dem einfachen Volk, ist es nicht erlaubt, in einen höheren
    Rang als den eines Hauptmanns aufzusteigen.“
    „Jetzt, Natalis, mag
    das noch so sein. Aber die Revolution von ’89 hat in Frankreich die
    Gleichheit ausgerufen, und diese wird die alten Vorurteile verschwinden
    lassen. Bei Ihnen ist jetzt jeder allen anderen gleichgestellt. Seien
    Sie also denen gleich, die gebildet sind, um dort hin zu gelangen, wo
    einen die Bildung hin bringen kann. Gleichheit! Das ist für die
    Deutschen noch ein Fremdwort. – Gilt unsere Abmachung?“
    „Sie gilt, Monsieur Jean.“
    „Gut,
    wir werden noch heute anfangen, und in acht Tagen werden Sie beim
    letzten Buchstaben des Alphabets angelangt sein. Nun, das Mittagessen
    ist vorbei, kommen Sie mit, wir gehen spazieren. Wenn wir zurück kommen,
    machen wir uns an die Arbeit!“
    So habe ich angefangen, im Haus der Kellers lesen zu lernen.
    Kann es noch freundlichere Menschen geben?

  • V


    Wir zwei, Monsieur Jean und ich, machten einen schönen Spaziergang, auf dem Weg, der zum Hagelberg hinauf führt, in Richtung Brandenburg. Wir sprachen mehr als dass wir um uns geschaut hätten. Letztendlich gab es da auch nichts sonderlich bemerkenswertes zu sehen.
    Was ich jedoch beobachten konnte war, dass ich von den Leuten viel angestarrt wurde. Was solls? Ein neues Gesicht ist in einer kleinen Stadt ein Ereignis.
    Mir fiel auch noch folgendes auf: dass Monsieur Keller allgemeine Wertschätzung zu genießen schien – unter den recht zahlreichen Menschen, denen wir begegneten, gab es nur wenige, die die Familie Keller nicht gekannt hätten – und dass viele ihren Hut zogen, wobei ich mich verpflichtet fühlte, diesen Gruß auf sehr höfliche Weise zu erwidern, obwohl sie den Hut nicht für mich persönlich zogen. Es gehört sich nun mal nicht, es an der altbekannten französischen Höflichkeit mangeln zu lassen!
    Über was Monsieur Jean auf dem Spaziergang mit mir geredet hat? Ah! über das, was seine Familie vor allem anderen beschäftigte, über den Prozess, der nicht enden wollte.
    Er erzählte mir die ganze lange Geschichte. Die bestellten Waren waren innerhalb der gewünschten Fristen geliefert worden. Da er Preuße war, hatte Herr Keller alle im Leistungsverzeichnis festgelegten Bedingungen erfüllt, und der Gewinn – rechtmäßig und ehrlich erlangt – hätte ihm ohne Einwände zugewiesen werden müssen. Wenn jemals ein Prozess gerechterweise gewonnen werden musste, so war es eben dieser, soviel stand fest. In Anbetracht der Tatsachen verhielten die Staatsbediensteten sich in dieser Angelegenheit wie Gauner.
    „Moment mal!“ sagte ich darauf. „Diese Bediensteten sind keine Richter! Und diese werden Ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen, ich kann einfach nicht glauben, dass Sie verlieren könnten...“
    „Es ist immer möglich, einen Prozess zu verlieren, selbst den aussichtsreichsten! Wenn es dazu noch an gutem Willen mangelt, kann ich dann darauf hoffen, dass man uns wirklich Gerechtigkeit widerfahren lässt? Ich habe unsere Richter gesehen, ich sehe sie immer noch, und ich spüre deutlich, dass sie gegen eine Familie, die eine Verbindung zu Frankreich hat, voreingenommen sind, besonders jetzt, da die Beziehungen zwischen den beiden Ländern angespannt sind. Vor eineinviertel Jahren, als mein Vater gestorben ist, hätte niemand daran gezweifelt, dass wir in dieser Sache im Recht sind. Aber jetzt weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Wenn wir diesen Prozess verlieren sollten, würde dadurch fast unser ganzes Vermögen verschlungen! … Wir hätten kaum noch genug, um davon zu leben.“
    „Das wird nicht passieren!“ rief ich.
    „Selbst das schlimmste ist zu befürchten, Natalis! Oh! nicht für mich“ fügte Monsieur Jean hinzu. „Ich bin jung, ich kann arbeiten. Aber meine Mutter! … Bis es mir gelingen würde, sie wieder besser zu stellen, hätte sie mehrere Jahre lang nur sehr wenig Geld zur Verfügung, und allein beim Gedanken daran krampft sich mir das Herz zusammen!“
    „Die gute Madame Keller! Meine Schwester hat sie mir gegenüber so sehr gelobt! … Lieben Sie sie sehr? ...“
    „Ob ich sie liebe!“
    Monsieur Jean schwieg für einen Moment. Dann fuhr er fort:
    „Wenn dieser Prozess nicht wäre, Natalis, hätte ich unser Vermögen schon längst flüssig gemacht, und da meine Mutter nur einen einzigen Wunsch hat, nämlich nach Frankreich zurückzukehren, in das Land, das auch 25 Jahre der Abwesenheit sie nicht vergessen machen konnten, hätte ich unsere Angelegenheiten so geregelt, dass ich ihr schon in einem Jahr die Freude machen könnte, ihr diesen Wunsch zu erfüllen, vielleicht sogar schon in ein paar Monaten!“
    „Aber“ fragte ich „kann Madame Keller nicht unabhängig davon, ob der Prozess gewonnen oder verloren wird, Deutschland verlassen?“
    „Oh, in die Heimat zurückzukehren, in die Pikardie, die sie so liebt, ohne dort den bescheidenen Wohlstand vorzufinden, den sie gewohnt ist, wie hart das doch wäre, Natalis! Ich werde natürlich arbeiten, und mit umso größerem Eifer, als es für sie sein wird! Wird mir Erfolg beschieden sein? Wer kann das wissen, besonders in den unruhigen Zeiten, die ich erwarte, in denen der Handel sehr leiden wird!“
    Monsieur Jean so reden zu hören rief in mir eine Gefühlsbewegung hervor, die ich überhaupt nicht verbergen wollte. Er hatte einige male meine Hand in seine genommen, und ich erwiderte seinen Händedruck, so dass ihm klar sein musste, was ich empfand. Ah! was wäre ich nicht alles bereit gewesen zu tun, um seiner Mutter und ihm das Leid zu ersparen!
    Er sprach zunächst nicht weiter und blickte starr nach vorn, wie ein Mann, der in die Zukunft schaut.
    „Natalis,“ sagte er dann in einem eigenartigen Ton zu mir, „ist Ihnen schon mal aufgefallen, wie schlecht sich die Dinge auf dieser Welt ineinanderfügen? Meine Mutter ist durch ihre Heirat eine Deutsche geworden, ich hingegen bleibe ein Deutscher, auch wenn ich eine Französin heirate!“
    Das war die einzige Andeutung in Bezug auf die Heiratspläne, die Irma am Morgen erwähnt hatte. Indes hielt ich es, da Monsieur Jean sich nicht weiter dazu äußerte, nicht für angebracht, noch weiter nachzuhaken. Bei Menschen, die einem ihre Freundschaft schenken, muss man bereit sein, Diskretion zu üben. Sollte Monsieur Jean irgendwann ausführlicher mit mir darüber reden wollen, so wäre da immer jemand, bei dem er ein offenes Ohr und Zuspruch finden konnte.
    Wir setzten unseren Spaziergang fort. Wir sprachen über dieses und jenes, und besonders über Angelegenheiten, die mich betrafen. Ich musste ein weiteres Mal über einige Dinge berichten, die sich bei meinem Einsatz in Amerika ereignet hatten. Monsieur Jean fand es sehr ehrenhaft, dass Frankreich die Amerikaner in ihrem Freiheitskampf unterstützt hatte. Er beneidete das Los unserer Landsleute, bedeutend oder unbedeutend, die ihr Vermögen oder ihr Leben in den Dienst dieser gerechten Sache gestellt hatten. Er hätte gewiss nicht gezögert, es ihnen gleich zu tun, wenn die Umstände es erlaubt hätten. Er hätte zu den Soldaten gehört, die sich zum Dienst im Expeditionskorps des Grafen von Rochambeau verpflichtet hatten. Er hätte bei Yorktown das Pulver geschmeckt. Er hätte dafür gekämpft, Amerika vom Joch der englischen Herrschaft zu befreien.
    Ich kann mit Nachdruck sagen, dass Monsieur Jean seine Pflicht mit großer Tapferkeit erfüllt hätte – allein schon an der Art, wie er über diese Sache sprach, an seiner bebenden Stimme und seinem Tonfall, der mir zu Herzen ging, konnte man das erkennen. Aber man ist nur selten Herr über sein eigenes Leben. Wie viele große Taten hat man nicht vollbracht, die man hätte vollbringen können! Nun, so ist das Schicksal, und man muss es nehmen wie es kommt.

  • Wir gingen dann auf demselben Weg wieder nach Belzingen hinunter. Die
    ersten Häuser schimmerten hell in der Sonne. Ihre roten Dächer, sehr gut
    zwischen den Bäumen zu sehen, kamen einem so vor wie Blüten, die sich
    inmitten des sie umgebenden Grüns entfalteten. Wir waren von ihnen nicht
    weiter als zwei Gewehrschüsse entfernt, als Monsieur Jean zu mir sagte:
    „Heute abend, nach dem Essen, haben meine Mutter und ich noch einen Besuch zu machen.“
    „Da will ich nicht stören!“ antwortete ich. „Ich werde bei Irma bleiben.“
    „Nein,
    Sie stören überhaupt nicht, Natalis, und ich möchte Sie bitten, uns zu
    begleiten, wenn wir unseren Gastgebern Aufwartung machen.“
    „Ganz wie es Ihnen gefällt!“
    „Es
    sind Landsleute von Ihnen, Monsieur und Mademoiselle de Lauranay, die
    schon seit langem in Belzingen wohnen. Sie werden sich freuen, Sie zu
    sehen, denn Sie kommen aus ihrem Heimatland, und ich wünsche mir, dass
    sie Ihre Bekanntschaft machen.“
    „Wie Sie wollen!“ antwortete ich.
    Mir
    war klar, dass Monsieur Jean den Wunsch hatte, dass ich noch mehr über
    die Familiengeheimnisse erfahren sollte. Doch, so dachte ich, wird diese
    Heirat nicht dem Vorhaben, nach Frankreich zurückzukehren, im Wege
    stehen? Wird für Madame Keller und ihren Sohn nicht eine noch viel
    engere Verbindung zu diesem Land entstehen, wenn Monsieur de Lauranay
    und seine Tochter hier sesshaft geworden sind und ihnen nicht der Sinn
    danach steht, ebenfalls zurückzukehren? Ich sollte in dieser Sache bald
    wissen, woran ich mich halten konnte. Nur ein wenig Geduld! Wenn man
    sich schneller dreht als die Mühle, kommt dabei kein gutes Mehl heraus.
    Wir
    waren bei den ersten Häusern Belzingens angelangt. Monsieur Jean war
    schon auf der Hauptstraße, als ich von ferne den Klang von Trommeln
    hörte.
    Zu der Zeit gab es in Belzingen ein Infanterieregiment, das
    Leibregiment, das dem Befehl Oberst von Grawerts unterstand. Später
    erfuhr ich, dass dieses Regiment dort schon seit fünf oder sechs Monaten
    in Garnison lag. Infolge der sich abzeichnenden Truppenverschiebung
    Richtung Westen würde es sich sehr wahrscheinlich bald dem Hauptteil der
    preußischen Armee anschließen.
    Ein Soldat schaut sich immer gerne
    andere Soldaten an, selbst wenn es ausländische sind. Man ist bestrebt,
    das gute zu sehen, und das schlechte. Eine Frage des Berufs. Man
    begutachtet, wie sie vorbei marschieren, und ihre Uniform, vom letzten
    Knopf der Gamaschen bis zur Feder an der Mütze. So etwas ist sehr
    interessant.
    Ich hielt also an. Monsieur Jean hielt auch an.
    Die Trommler schlugen einen dieser Märsche mit immer gleichbleibendem Rhythmus, die typisch preußisch sind.
    Hinter
    ihnen marschierten vier Kompanien des Leibregiments zum Takt des
    Marsches. Es handelte sich keineswegs um einen Abmarsch, sondern um eine
    normale Marschübung.
    Wir hatten uns so an der Straße postiert, dass
    wir nicht im Weg standen. Als die Trommler auf unserer Höhe waren,
    spürte ich wie Monsieur Jean mich lebhaft am Arm packte, so als hätte er
    sich zwingen wollen, an Ort und Stelle zu bleiben.
    Ich schaute ihn an.
    „Was ist denn?“ fragte ich.
    „Nichts!“
    Zuerst
    war Monsieur Jean bleich geworden. Jetzt stieg ihm das Blut in die
    Wangen. Man hätte meinen können, dass er gerade einen Schwindelanfall
    gehabt hatte, er hatte das, was man bei uns den ‚dämmerigen Blick‘
    nennt. Dann wurden seine Augen starr, und es wäre schwer gewesen, ihn
    dazu zu bringen, sie wieder abzuwenden.
    An der Spitze der ersten
    Kompanie marschierte ein Leutnant, auf der linken Seite der Straße. Das
    war die Seite, an der wir standen.
    Er war ein deutscher Offizier von
    der Sorte, wie man sie damals oft sah, und wie man sie auch danach noch
    oft gesehen hat. Ein ziemlich gut aussehender Mann, sein Haar war blond,
    dabei ins rötliche gehend, blaue Augen, wie aus Fayence, kalt und hart,
    er machte einen überheblichen Eindruck, beim gehen schaukelte er immer
    ein wenig hin und her, der affektierte Gang eines Angebers. Er wollte
    elegant wirken, doch man merkte, dass er eigentlich nur plump war. Was
    mich angeht, so empfand ich für diesen Schönling nur Antipathie, ja
    sogar Abscheu.
    Monsieur Jean empfand ohne Zweifel das gleiche – oder
    vielleicht sogar mehr als nur Abscheu. Darüber hinaus konnte ich
    beobachten, dass der Offizier ihm gegenüber auch keine
    freundschaftlichen Gefühle zu hegen schien. Der Blick, den er ihm
    zuwarf, war nichts weniger als wohlwollend.
    Als er auf gleicher Höhe
    angelangte, waren sie nur wenige Schritte voneinander entfernt. In dem
    Moment, als er vorbei ging, machte der junge Offizier mit den Schultern
    eine verächtliche Bewegung, und das war keine unwillkürliche Bewegung,
    sondern geschah mit Absicht. Monsieur Jeans Hand umklammerte meinen Arm
    mit heftigem Druck, es war die Wut, die sie so fest zugreifen ließ. Für
    einen Augenblick dachte ich, dass er losspringen würde: er schaffte es,
    sich zu beherrschen.
    Offensichtlich hassten sich diese beiden Männer,
    den Grund ahnte ich nicht, doch es sollte nicht lange dauern, bis ich
    ihn erfuhr.
    Dann war die Kompanie vorbei gezogen, und das Bataillon verschwand hinter der nächsten Wegbiegung.
    Monsieur
    Jean hatte kein Wort gesprochen. Er schaute zu, wie die Soldaten sich
    langsam entfernten. Es sah so aus, als ob er an seinem Platz
    festgenagelt wäre. Er blieb dort stehen bis man das Geräusch der
    Trommeln nicht mehr hören konnte.
    Dann sagte er, indem er sich zu mir umwandte:
    „Auf, Natalis, zur Schule!“
    Wir gingen zurück zu Madame Kellers Haus.

  • Hier
    noch ein paar «Highlights», zumindest hoffe ich, dass es Highlights
    sind, ein Fehler ist oft leichter passiert, als man denkt… siehe Kapitel
    1… muss ich wahrscheinlich noch mal ran, peinlich, peinlich wenn schon im
    ersten Absatz eine falsche oder zumindest zweifelhafte Stelle ist, «bien» :
    «Vermögen» oder «Grundbesitz»? vgl. Nautilus Nr. 13. Hat noch jemand die
    holländische Version zur Hand ? Was steht denn da drin ?
    Hier
    also ein paar Ausschnitte aus den folgenden Kapiteln, ich sollte wohl besser
    nicht das ganze Buch hier reinstellen, kann sonst zu leicht raubkopiert werden.


    Kapitel 6


    Là,
    sur le pas de la porte, je m’abandonnai au plaisir de fumer, ce que, nous
    autres Picards, nous appelons une bonne pipe de tranquillité.
    Dort gab ich mich, in der Tür stehend, dem Genuss des
    Rauchens hin, genauer gesagt dem, was wir Pikarden ‚ein geruhsames Pfeifchen‘
    nennen.


    Elle
    peignait aussi de jolis bouquets de fleurs sur des écrans de papier.
    Sie malte auch schöne Blumensträuße auf
    Handkaminschirme aus Papier.
    http://littre.reverso.net/dict…francais/definition/ecran
    andere Möglichkeit vielleicht: „diese Art Fächer, mit denen
    man sich vor der Hitze des Kamins schützt“ oder so ähnlich


    Lorsqu’elle
    serait sa femme, si l’officier continuait à la poursuivre, il saurait bien
    l’attraper sans courir et le faire rentrer dans le rang.
    Wenn sie erst einmal
    seine Frau wäre und der Leutnant sie dann immer noch belästigte, würde er ihn
    zu bändigen wissen, ohne sich dabei groß verausgaben zu müssen, und dafür
    sorgen, dass er ins Glied zurück treten würde.


    Interdit,
    interloqué, je me taisais
    Um die Sprache und in
    größte Verlegenheit gebracht, blieb ich stumm.
    Oder „stand ich nur stumm
    da“ oder so ähnlich


    «Mademoiselle, dis-je, je serais vraiment trop heureux…
    – Mon cher Jean, reprit-elle, en allant à lui, ne procurerons-nous pas ce
    bonheur à monsieur Natalis Delpierre?
    – Oui… chère Marthe!…» répondit M. Jean, qui ne put dire autre chose, mais
    cela me parut suffisant.
    „Mademoiselle,“ sagte ich, „ich wäre wirklich überglücklich...“
    „Mein lieber Jean,“ fuhr sie fort, indem sie sich ihm
    zuwandte, „werden wir Monsieur Natalis Delpierre nicht diese Freude machen?“
    „Ja... liebe Marthe! ...“ antwortete Monsieur Jean.
    Mehr brachte er nicht heraus, aber ich hatte den Eindruck, dass das schon
    reichte.
    http://www.cnrtl.fr/definition/aller
    Littér. Aller à qqn. S'adresser
    à, se tourner vers :



    Kapitel 7


    les jambes en pied de
    banc, une figure d’ivrogne avec le gosier en pente, comme on dit.
    die Beine so kurz wie die Füße einer Bank, das Gesicht
    eines Säufers, der den Kopf immer im Nacken hat, wie man so sagt.


    J’en
    profitai pour observer mon Kalkreuth. C’était un grand flandrin, vêtu d’une
    rhingrave à brandebourgs, haut de cinq pieds huit pouces, très long de buste,
    ce que nous appelons un quinze-côtes, maigre, osseux, avec des pieds d’une longueur!…
    une figure parcheminée, qui devait toujours être sale, même quand elle était
    lavée, la bouche large, les dents jaunâtres, le nez écrasé du bout, les tempes
    plissées, de petits yeux en trous de vrille, un point lumineux sous d’épais
    sourcils, enfin une vraie face de cataplasme.
    Das verschaffte mir die
    Gelegenheit, mir den lieben Kalkreuth genauer anzuschauen. Er war ein langer,
    dürrer Kerl, der weite Kniebundhosen mit bestickten Knopfleisten trug, fünf Fuß
    acht Zoll groß, mit einem langen Oberkörper, was man bei uns einen
    ‚Fünfzehnripper‘ nennt, er war mager, knochig – und seine Füße waren von einer
    solchen Länge … ! – er hatte ein ledernes Gesicht, das immer nur dreckig wirken
    konnte, auch wenn es gewaschen war, einen breiten Mund, gelbliche Zähne, eine
    platte, breite Nase, runzlige Schläfen, durchdringende Augen, kleine glänzende
    Punkte unter buschigen Augenbrauen, kurz, ein Gesicht wie ein Breiumschlag.
    Brandebourg: Ornement de broderie ou de galon entourant les
    boutonnières d'un vêtement ou servant de boutonnières.
    http://www.cnrtl.fr/definition/brandebourg
    Knopfleisten, oder
    einfach Borten?


    – Et de votre métier?
    - Marchand forain.
    – Forain… forain?… Expliquez-vous… Je ne comprends pas ce que cela
    signifie!
    – Oui… je cours les foires, les marchés… pour acheter… pour vendre!… Enfin
    forain, quoi!
    „Und ihr Beruf?“
    „Fliegender Händler.“
    Auf französisch heißt das ‚marchand forain‘, von
    ‚foire‘, dem Wort für ‚Warenmarkt‘ oder ‚Jahrmarkt‘. Kalkreuth kannte diesen
    Begriff nicht.
    „‚Forain‘... ‚forain‘? Erklären Sie mir das... Ich
    weiß nicht, was das bedeutet!“
    „Ja... ich fahre auf
    Märkte, und auf Jahrmärkte... um zu kaufen... um zu verkaufen! … das nennt man
    eben ‚forain‘.“
    ein paar Worte hinzugefügt,
    da muss ich dann noch eine Anmerkung dazu schreiben


    – Et quand vous repartirez?…
    – Je reprendrai le chemin par lequel je suis venu, tout simplement.
    – Et vous aurez raison. A quelle époque, à peu près, comptez-vous repartir?
    „Was Ihre Abreise anbelangt… ?“
    „Ich werde ganz einfach den gleichen Weg zurück gehen,
    den ich gekommen bin.“
    „Und das wird die
    richtige Entscheidung sein. Und was denken Sie, zu welchem Zeitpunkt, ungefähr,
    werden Sie abreisen?“
    auch eine etwas
    undankbare Stelle, „quand“ kann bekanntermaßen „wann“ oder „wenn“ heißen


    Ce
    gaillard-là a bien l’air d’un passe-malin, qui ne demande qu’à me lapider,
    comme disent nos Picards! C’est maintenant qu’il faut se tenir sur ses gardes!»
    ‚Er scheint ein verdammt hinterhältiger Kerl zu sein,
    der nichts lieber täte, als mich zu steinigen, wie wir Pikarden sagen! Jetzt
    heißt es auf der Hut sein!‘


    Cette fois, son bras n’était plus terminé par une main ouverte, mais par un
    poing fermé.
    N’étant guère d’humeur à poser dans ce bureau de police, je tournai les
    talons, un peu trop militairement peut-être, en faisant un demi-tour qui
    sentait le soldat. Et il n’est pas sûr que cet animal ne l’ait point remarqué.
    Dieses mal fand sich am Ende seines Arms keine offene
    Hand, sondern eine geschlossene.
    Da ich keine sonderlich große Lust hatte, in diesem
    Büro Wurzeln zu schlagen, machte ich auf dem Absatz kehrt, vielleicht ein
    bisschen zu militärisch-zackig. An dieser Art sich zu bewegen kann man einen
    Soldaten erkennen. Und es kann keineswegs als sicher gelten, dass dieses
    Rindvieh nichts bemerkt hat.

  • Kapitel 8


    Chaque
    jour, celui-ci passait à plusieurs reprises devant la maison de M. de Lauranay,
    tantôt à pied, se dandinant et faisant craquer ses bottes, tantôt cavalcadant
    et caracolant sur son cheval, – une bête magnifique, – comme son maître,
    d’ailleurs. Mais grilles fermées, porte close. Je laisse à penser s’il devait
    rager en dedans. Aussi convenait-il de hâter le mariage.
    Er ging jeden Tag etliche male an Monsieur de
    Lauranays Haus vorbei. Dabei schaukelte er immer affektiert hin und her und
    ließ seine Stiefel knarren, oder er ritt auf seinem Pferd, paradierend und das
    Pferd tänzeln lassend, – das ein prächtiges Vieh war, – wie übrigens auch sein
    Herr. Doch die Fenstergitter waren geschlossen, die Tür verriegelt. Man wird
    sich denken können, dass er innerlich kochen musste vor Wut. Deshalb war es
    angebracht, die Hochzeit zu beschleunigen.


    tant
    sabres que baïonnettes
    Soldaten mit Säbeln und
    Soldaten mit Bajonetten, Kavallerie und Infanterie.


    Louis
    XVI dut proposer à l’Assemblée nationale de déclarer la guerre à François Ier
    roi de Hongrie et de Bohême.
    Ludwig XVI. hatte keine
    Wahl. Er stellte in der Nationalversammlung den Antrag, Franz II., Nachfolger
    Leopolds und König von Ungarn, Böhmen und Kroatien, den Krieg zu erklären.
    1792 war Franz I. noch
    Franz II. http://de.wikipedia.org/wiki/Franz_II._%28HRR%29
    Im Interesse flüssiger
    Lesbarkeit ist es, so denke und hoffe ich, besser, wenn man kleinere
    Ungereimtheiten einfach korrigiert - wie sie bei Verne ja auch sehr oft bei
    Ortsnamen vorkommen – statt den Text ständig durch Anmerkungen zu zerhacken. Es
    wird hoffentlich auch niemanden groß stören, wenn mal ein paar wenige
    erklärende Worte hinzugefügt werden, auch das geschieht im Interesse flüssiger
    Lesbarkeit.


    Cela
    nous eût toujours débarrassés de ces personnages.
    Dann wären wir diese
    Personen wenigstens los gewesen.
    http://www.cnrtl.fr/definition/toujours
    B. − [Marque la prise en charge d'un argument, sans doute faible,
    mais considéré comme acquis et qui restera valable quoi qu'il arrive]
    Rem. Dans ce sens, toujours
    ,,introduit dans un argument, indique pourquoi il faut prendre en considération
    cet argument, en mettant en œuvre le principe: « si faible que soit un
    argument, il reste un argument et il faut le suivre si on n'a pas d'argument
    plus fort en sens inverse »`` (Modèles ling. t. 7, 2 1985, p. 122). La
    valeur est proche de en tout cas, de toute façon, quoi qu'il en soit:
    Angélique donna son aumône.
    Voilà toujours un pain.Oh! du
    pain, reprit la mère
    (Zola, Rêve,
    1888, p. 84). ,,On y sera toujours au chaud (dans un contexte comme: « Allons
    au bistro! », « Qu'est-ce que tu penses du bistro? »)``
    Auch in Kapitel 1: Le roi était toujours aux Tuileries, si
    l’on veut.
    Wenigstens war der König
    noch in den Tuilerien, wenn man so will.


    Kapitel 9


    Il
    se faisait un mouvement énorme dans tout le pays. Des courriers, des
    estafettes, passaient ventre à terre à travers la ville.
    Im ganzen Land herrschte
    ein hektisches Treiben. Kuriere rannten, und Meldereiter ritten, im Höchsttempo
    durch die Stadt.


    Et se hâter sans perdre une heure! Ce n’était pas le moment de répéter
    notre vieux dicton picard: Il n’y a lieu de se presser, parce que la foire
    n’est point sur le pont!
    Elle y était, menaçante, et, d’un instant à l’autre, pouvait nous fermer le
    passage!
    Man musste sich beeilen, es war keine Zeit zu
    verlieren, auch nicht eine einzige Stunde! Es war nicht der richtige Moment, um
    wieder einmal unser altes pikardisches Sprichwort zu zitieren: ‚Kein Grund zur
    Eile, die Händler sind noch gar nicht auf der Brücke!‘, was so viel bedeutet
    wie ‚... der Markt hat noch nicht angefangen!‘.
    Der Markt hatte schon begonnen, und jeden Moment
    drohte das Gedränge so dicht zu werden, dass es für uns kein Durchkommen mehr
    gab!


    Mais, ce qu’il y eut de plus regrettable, c’est que la nouvelle du mariage
    arriva aux oreilles du lieutenant von Grawert.
    Cela, ce fut ma soeur Irma qui l’apprit par la servante de Mme
    Keller. Des officiers du régiment de Leib en avaient causé sur la grande place.
    Par
    hasard, Irma avait entendu leur conversation, et voici ce qu’elle rapporta.
    Doch das ärgerlichste war, dass die Nachricht von der
    geplanten Hochzeit Leutnant von Grawert zu Ohren gekommen war.
    Irma hatte das mitbekommen. Einige Offiziere des
    Leibregiments hatten sich auf dem großen Platz darüber unterhalten.
    Sie hatte ihr Gespräch zufällig mitgehört, im
    folgenden gebe ich wieder, was sie mir berichtet hat.
    „par la servante“: macht hier keinen Sinn, deshalb
    weggelassen, man kann ja in einer Anmerkung auf den Wortlaut des Originals
    hinweisen



    Kapitel 10


    Et
    c’est toi qui me feras pardonner par mon fils… s’il est Allemand!»
    Und durch dich werde ich bei meinem Sohn Vergebung
    erlangen... dafür, dass er ein Deutscher ist!“
    ?
    Muss ich noch mal drüber nachdenken

  • Weitere Auszüge:


    Kapitel 11


    À dater de ce moment, il se fit dans la situation des deux familles une sorte
    de détente. Morceau avalé n’a plus de goût, comme on dit.
    Von diesem Zeitpunkt an kam es bei den beiden
    Familien zu einer gewissen Entspannung. Der Geschmack bleibt nicht lange im
    Mund, wenn man mit dem Essen fertig ist, wie man so sagt.


    Il importait
    de ne point attirer l’attention, surtout celle des agents de la police. Mieux
    valait quitter Belzingen, sans que personne le sût, pour ne pas se voir tirer à
    Dieu et à diable.
    Es war äußerst wichtig, dass wir keine
    Aufmerksamkeit erregten, vor allem nicht die der Polizisten. Besser war es,
    Belzingen zu verlassen ohne dass jemand Kenntnis davon hatte, denn sonst würden
    wir vielleicht so sehr in Kalamitäten geraten, dass wir am Ende nicht mehr ein
    noch aus wussten.
    oder vielleicht „in Teufels Küche kommen“


    Rencontrer
    cet insolent, le provoquer, m’aligner avec lui à la pointe, à la contre-pointe,
    au pistolet d’arçon, à tout ce qui aurait convenu, et se battre jusqu’à ce que
    l’un de nous deux fût par terre!
    Diesem unverschämten Kerl gegenüberzutreten,
    ihn zum Duell zu fordern, dann zum Kampf mit spitzem Degen oder scharfem Säbel
    anzutreten, oder mit Sattelpistolen, mit was auch immer ihm zugesagt hätte, und
    dann miteinander zu kämpfen, bis einer von uns beiden am Boden läge!


    Kapitel 12


    Voilà de quelle façon j’arrivais à raisonner – à déraisonner plutôt!
    Diese Feststellung brachte mich dazu, die
    Sache noch einmal zu durchdenken – oder besser gesagt dazu, meine Phantasie mit
    mir durchgehen zu lassen!


    Là-dessus, je
    m’arrête! J’en dirais de trop! Et, pourtant, en y réfléchissant, ce duel
    était-il possible?…M. Jean avait
    déchiré la lettre, il l’avait rejetée avec un geste de mépris, et rien que ces
    mots s’échappèrent de ses lèvres:«Le
    misérable!»Das soll jetzt genügen! Ich würde sonst zu
    viel darüber schreiben! Davon abgesehen… wenn ich so darüber nachdenke… war
    dieses Duell nicht auch von vornherein unmöglich gewesen?
    Monsieur Jean hatte den Brief zerrissen, er hatte ihn mit einer verächtlichen
    Handbewegung weggeworfen, und nur diese zwei Worte kamen über seine Lippen:
    „Wie erbärmlich!“
    Eigentlich „dieser erbärmliche Schurke“ oder so ähnlich,
    aber da würde der Rhythmus verloren gehen


    Nous
    serait-il jamais donné de le revoir!
    Le soir même, le
    régiment de Leib recevait l’ordre de se rendre à Borna, petit village situé à
    quelques lieues de Belzingen, presque à la frontière du district de Postdam.
    Sollte es uns jemals beschieden sein, ihn
    wiederzusehen?
    Noch am selben Abend erhielt das Leibregiment den Befehl, sich nach Borne in
    Marsch zu setzen, einem kleinen Dorf, das einige Meilen von Belzingen entfernt
    liegt, nahe der Grenze des Bezirks Potsdam.
    Borna, Postdam, ständig ist etwas falsch geschrieben


    Il fallait
    attendre les mesures qu’il conviendrait au gouvernement de prendre relativement
    aux Français résidant actuellement en Prusse. Jusque-là, Kalkreuth ne pourrait
    délivrer de passeports, faute de quoi tout voyage devenait impossible.Quant au
    nommé Natalis Delpierre, ce fut bien autre chose! A moi, touché, comme on dit!
    Es musste abgewartet werden, welche Maßnahmen
    die Regierung in Bezug auf die augenblicklich in Preußen wohnhaften Franzosen
    zu ergreifen für angemessen erachten werde. Bis dahin könne Kalkreuth keine
    Reisepässe ausstellen, in Ermangelung derer jegliches Reisen unmöglich war.
    Was einen gewissen Natalis Delpierre betrifft, so war das noch mal eine ganz
    andere Geschichte! Es hatte mich übel erwischt, wie man so sagt!


    Kapitel 13


    Seul, accoutumé aux privations, aux longs cheminements, habitué à pâmer les
    plus vigoureux marcheurs, je n’eusse pas été gêné de me tirer d’affaire!
    http://www.cnrtl.fr/definition/pamer
    À l'occasion d'une colère, de pleurs, un enfant «se pâme» mais reprend
    vite son souffle
    (Quillet Méd.1965, p.479).
    B. Trans. rare 1550 «faire se pâmer»
    Hätte ich mich allein auf den Weg machen können, so
    hätte ich all diese Schwierigkeiten ohne große Probleme überwunden! Ich war
    Entbehrungen und lange Märsche gewohnt. Auch die Besten kamen regelmäßig schneller
    außer Atem als ich.


    Puis, dans la
    pensée qu’il faudrait aussi se passer de postillons, je m’offris pour remplir
    cet office, ce qui fut naturellement accepté. Et ce n’est pas à un cavalier du
    Royal-Picardie qu’on en eût remontré pour conduire un attelage!
    Angesichts der Tatsache, dass auch keine
    Postillione für uns bereit standen, bot ich an, dieses Amt auszufüllen. Dieser
    Vorschlag wurde selbstredend angenommen. Und einem Kavalleristen des Königlichen
    Regiments hätte was das Führen eines Gespanns angeht niemand etwas vormachen
    können!


    Ce jour-là,
    sur la route, nous eûmes maille à partir avec une espèce de racoleur de
    chevaux, un grand sec, maigre comme un Vendredi-Saint hâbleur comme un
    maquignon, qui voulait absolument réquisitions notre attelage. C’était,
    disait-il, pour le service de l’État. Malin, va! J’imagine que l’État, c’était
    lui, comme a dit Louis XIV, et qu’il réquisitionna pour son compte.
    Mais, minute! quoiqu’il en eût, il lui fallut respecter nos passeports et la
    signature du directeur de police. Nous perdîmes cependant une grande heure à
    batailler avec ce coquin. Enfin, la berline se remit au trot afin de regagner
    le temps perdu.
    An diesem Tag sind wir auf der Straße mit
    einer Art windigem Geschäftemacher aneinandergeraten, der Pferde für die Armee
    beschaffen wollte. Er war groß und dürr, so mager wie das Essen an einem
    Karfreitag, von so loser Zunge wie ein Rosstäuscher, und wollte unbedingt unser
    Gespann in Beschlag nehmen. Er sagte, das geschehe für den Staat. Meinetwegen,
    Schlitzohr! Ich nehme an, der Staat war er, so wie Ludwig XIV. es formulierte,
    und dass er die Pferde im Auftrag eben dieses Staates requirieren wollte.
    Doch Moment mal! Wie auch immer er die Sache sehen mochte, unsere Reisepässe
    und die Unterschrift des Polizeidirektors musste er anerkennen. Indes wurden
    wir durch den Streit mit diesem Burschen mehr als eine Stunde aufgehalten. Dann
    setzte sich die Kutsche endlich wieder in Bewegung. Dabei habe ich die Pferde
    im Trab gehen lassen, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen.