In 79 Tagen um die Welt

  • Einen interessanten Artikel habe ich in Die Zeit gefunden: (August 2003)


    In 79 Tagen um die Welt


    Warum man bei einer Weltreise nach Osten einen Tag gewinnt, nach Westen einen Tag verliert – und wo die Zeit verloren geht


    Von Jules Verne


    Sehr geehrte Herren,



    ich bin von der Zentralkommission der Geographischen Gesellschaft damit beauftragt worden, auf eine recht interessante Frage zu antworten, die zu gleicher Zeit von Herrn Hourier, Zivilingenieur, und von Herrn Faraguet, Chefingenieur des Brücken- und Straßenbauamtes im Departement Lot-et-Garonne, aufgeworfen worden ist.


    Ich denke, man wird im Zusammentreffen zwischen diesen beiden Briefen und dem Ende von In 80 Tagen um die Welt, einem Buch, das ich vor 3 Monaten veröffentlicht habe, nur einen Zufall sehen können; um aber die Frage in den rechten Zusammenhang zu rücken, bitte ich Sie, einige Zeilen zitieren zu dürfen, die dieses Werk abschließen.


    Es handelt sich um das recht sonderbare Phänomen – das schon Edgard [Allan] Poë für seine Erzählung Drei Sonntage in einer Woche zu nutzen verstand – um jenes Phänomen, sagte ich, geht es, mit dem Reisende konfrontiert werden, wenn sie um die Welt fahren, egal ob gen Osten oder gen Westen. Im ersten Fall werden sie einen Tag gewonnen, im zweiten verloren haben – sobald sie zurück an ihrem Ausgangspunkt sind.



    „Indem er nach Osten reiste, fuhr Phileas Fogg (das ist der Held des Buches) der Sonne entgegen, und daher verkürzten sich die Tage für ihn mit jedem Längengrad, den er in dieser Richtung überquerte, um 4 Minuten. Der Erdumfang hat 360 Grad, und diese 360 Grad, multipliziert mit 4 Minuten, ergeben exakt 24 Stunden – also den unbewusst hinzugewonnenen Tag. Mit anderen Worten: Während Phileas Fogg nach Osten reiste, sah er die Sonne 80 Mal den Meridian überqueren, seine in London zurückgebliebenen Clubfreunde jedoch sahen sie nur 79 Mal untergehen.“



    So also stellt sich das Problem dar, und es wird genügen, wenn ich es in wenigen Worten zusammenfasse.


    Jedes Mal, wenn man eine Weltreise nach Osten unternimmt, wird man einen Tag gewinnen. – Jedes Mal, wenn man eine Weltreise nach Westen unternimmt, wird man einen verlieren – das heißt also jene 24 Stunden, die die Sonne bei ihrer scheinbaren Bewegung braucht, um die Erde zu umkreisen –, und dies unabhängig von der Zeit, die man für seine Reise aufwendet.


    Das Ergebnis ist so real, dass die Marineverwaltung eine zusätzliche Tagesration für die Schiffe ausgeben lässt, die nach ihrer Abfahrt von Europa das Kap der Guten Hoffnung passieren, und im Gegensatz dazu eine Tagesration bei denen einbehält, die das Kap Horn umschiffen. Woraus man den bizarren Schluss ziehen kann, dass die Seemänner, die nach Osten reisen, besser ernährt sind als diejenigen, die sich nach Westen wenden. Und tatsächlich werden die einen, wenn sie an ihren Ausgangspunkt zurückgelangt sind und obwohl sie dieselbe Anzahl von Minuten erlebt haben, ein Frühstück, ein Mittag- und ein Abendessen mehr eingenommen haben als die anderen. Darauf wird man entgegnen, dass sie auch einen Tag länger gearbeitet haben. Wohl wahr, aber „länger gelebt“ haben sie nicht.


    Es ist also offensichtlich, meine Herren, dass sich dieses Problem des verlorenen oder gewonnenen Tages, je nach der eingeschlagenen Richtung, und damit auch die Datumsänderung an irgendeinem Punkt des Globus ereignen muss. Aber an welchem? Das ist die Frage, die es zu lösen gilt, und Sie werden nicht verwundert sein, dass sie die Aufmerksamkeit der Verfasser der beiden Briefe geweckt hat.


    Diese beiden Briefe lassen sich kurz wie folgt auf den Punkt bringen: „Jawohl“, sagt Herr Faraguet, „es gibt einen privilegierten Meridian, auf dem der Übergang erfolgt.“ – „Aber wo befindet sich dieser privilegierte Meridian?“, fragt Herr Hourier.


    Zunächst, meine Herren, muss ich Ihnen sagen, dass es schwierig ist, allein vom Standpunkt der Kosmographie zu antworten. Ja, wenn die Herren Hourier und Faraguet mir sagen könnten, auf welchem Horizont die Sonne am ersten Tag der Schöpfung aufgegangen ist, wenn sie wüssten, auf welchem Meridian des Erdballs sich zum ersten Mal der Mittag einstellte, dann wäre das Problem leicht gelöst, und ich würde sagen: Dieser erste Meridian ist der privilegierte Meridian, den Herr Faraguet festlegt und nach dem Herr Hourier fragt. Aber keiner dieser beiden Ingenieure ist so steinalt, um von sich behaupten zu können, den ersten Schein des Strahlengestirns gesehen zu haben; sie können mir also nicht mitteilen, welcher dieser erste Meridian gewesen ist, und deshalb werde ich bis auf weiteres die wissenschaftliche Fragestellung beiseite lassen, um mich der praktischen Seite zuzuwenden, und versuchen, sie in wenigen Worten zu beleuchten.


    Aus der Tatsache, dass über Osten ein Tag gewonnen wird und über Westen verloren geht, resultierte lange Zeit eine Uneindeutigkeit. Die ersten Seefahrer hatten, und zwar unbewusst, ihr Datum auf die neuen Gegenden übertragen. Ganz allgemein zählte man die Tage, je nachdem, ob man die neuen Länder von Osten oder von Westen aus entdeckt hatte. Als die Europäer diese unbekannten Regionen erreichten, in denen Eingeborene wohnten, denen es einerlei war, an welchem Tag und Datum sie ihresgleichen verspeisten, zwangen die Europäer ihnen ihren Kalender auf, und damit war die Sache gegessen. So zählte man Jahrhunderte lang in Canton die Tage nach der Ankunft Marco Polos und auf den Philippinen nach dem Eintreffen Magellans.


    Das Fehlen einer Einheitlichkeit in der Datierung jedoch musste für den praktischen Handel irgendwann Probleme aufwerfen. Und so hat man vor weniger als zwanzig Jahren, zu einer Zeit, die ich nicht näher bestimmen kann, die uns aber unser bedeutender Kollege, der Herr Admiral Pâris [Charles-Edmond Pâris, Admiral und Wissenschaftler, der drei Weltreisen unternommen hatte, d. Red.], angeben könnte, beschlossen, in Manila den europäischen Kalender einzuführen – was die Gegebenheiten regelte und sozusagen ein verbindliches Datum einführte.


    Und ich will hinzufügen, dass es in der Praxis schon lange zum Ausgleich einen Meridian gab, nämlich den vom Nullmeridian aus gezählten 180., auf den die Bordchronometer eingestellt sind, also Greenwich für das Vereinigte Königreich, Paris für Frankreich und Washington für die Vereinigten Staaten.


    Folgendes übersetze ich aus der englischen Zeitung Nature, an welche die von den beiden ehrenwerten Ingenieuren gestellte Frage 1872 gerichtet worden war: „Die Anfrage Herrn Pearsons in […] der Zeitung Nature lässt keine exakte oder wissenschaftliche Beantwortung zu, da es keine natürliche Trennungs- oder Wechsellinie gibt und die Festlegung einer solchen Linie gänzlich eine Frage der Gewohnheit oder der Vereinbarung ist. Vor noch nicht allzu langer Zeit waren die Daten von Manila und Macao unterschiedlich, und bis zur Abtretung Alaskas an Amerika wichen dessen Zeitangaben von denen des angrenzenden englischen Amerika ab. Die nunmehr akzeptierte Regel lautet, dass die Orte, die sich auf östlicher Länge befinden, mit einem Datum versehen werden, als käme man vom Kap der Guten Hoffnung, und dass die auf westlicher Länge das Datum aus der Kap-Horn-Richtung tragen. Diese Regelung wird durch die Ausmaße des Pazifik praktisch annehmbar gemacht. Infolgedessen hat ein Kapitän die Gewohnheit, das Datum seines Logbuches beim Überschreiten des 180. Meridians zu ändern, indem er einen Tag hinzuzählt oder abzieht, je nachdem, in welche Richtung er sich bewegt; der Kapitän jedoch, der diesen Meridian nur überschreitet, um auf demselben Wege wieder zurückzukehren, ändert sein Datum nicht, so dass sich von Zeit zu Zeit Kapitäne mit unterschiedlichen Daten treffen können und müssen. Ein bemerkenswerter Vorfall dieser Art ereignete sich während des Russlandkrieges, als unser Pazifikgeschwader dem Chinageschwader vor der Küste Kamtschatkas begegnete.“


    Das Zitat, das ich Ihnen, meine Herren, gerade vortrug, soll Ihnen die mögliche Lösung nahelegen, die ich zu geben gedenke. Ich habe das Problem zunächst aus historischer Sicht behandelt, anschließend aus praktischer; aber ist es wissenschaftlich wirklich gelöst? Nein, obwohl sich die Lösung im Brief von Herrn Faraguet andeutet.


    Um es vollständig zu klären, bitte ich Sie, meine Herren, mir zu erlauben, einen Brief zu zitieren, den einer unserer großen Mathematiker, Herr Joseph Bertrand vom Institut [Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Académie française, d. Red.], persönlich an mich gerichtet hat.



    Lieber Herr Verne,


    Unsere gestrige Unterhaltung gab mir die Idee zu einer Aufgabe, deren Bedingungen wie folgt lauten: Ein Herr, der mit entsprechenden Transportmöglichkeiten ausgestattet ist, verlässt Paris eines Donnerstagmittags; er reist in Richtung Brest, von dort nach New York, San Francisco, Yeddo usw. und erreicht Paris nach 24 Stunden, wobei er in jeder Stunde 15 Längengrade zurückgelegt hat.


    Bei jedem Halt fragt er: Wie spät ist es? Und dauernd antwortet man ihm: 12 Uhr mittags. Danach fragt er: Und welchen Wochentag haben wir?


    In Brest antwortet man ihm: Donnerstag; in New York ebenfalls … aber bei seiner Rückkehr, zum Beispiel in Pontoise, sagt man ihm: Freitag.


    Wo erfolgt der Sprung? Auf welchem Meridian kann und muss unser Reisender, so er ein guter Katholik ist, den Schinken wegwerfen, der sein Verfallsdatum erreicht hat?


    Es ist klar, dass der Sprung unvermittelt sein muss. Er erfolgt auf dem Meer oder in den Ländern, die die Namen der Wochentage nicht kennen.


    Nehmen Sie einen Breitenkreis an, der sich über einen ganzen Kontinent erstreckt, dass dieser von zivilisierten Völkern bewohnt wird, die alle dieselbe Sprache sprechen und denselben Gesetzen unterworfen sind, und dass zwei Nachbarn durch eine Hecke getrennt sind, von denen einer heute Mittag sagt: Wir haben Donnerstag, während der andere sagt: Wir haben Freitag.

  • Nehmen Sie weiter an, dass der eine in Sèvres lebt und der andere in Bellevue [zwei Vororte von Paris, d. Red.]. Sie werden keine Woche in dieser Situation verbracht haben, ohne sich über den Kalender einig geworden zu sein; die Uneindeutigkeit verschwindet also hier, nur um an anderer Stelle wieder aufzutauchen, und wir sehen uns mit einer ständigen Verschiebung der Wochentage konfrontiert.


    Ihr Ihnen ergebener


    J. Bertrand



    Dieser gleichermaßen logische wie geistreiche Brief, meine Herren, scheint mir die an die Geographische Gesellschaft gerichtete Frage ein für alle Mal zu beantworten.


    Ja, die Uneindeutigkeit ist da, aber sozusagen nur latent. Ja, wenn ein Breitenkreis die bewohnten Kontinente durchquerte, könnten sich Missstimmigkeiten zwischen den Bewohnern dieses Breitenkreises ergeben. Aber wie mir scheint, hat die vorausschauende Natur den Menschenkindern keinen zusätzlichen Anlass zu Diskussionen geben wollen. Weise hat sie zwischen die großen Nationen Wüsten und Ozeane gelegt. Der Übergang vom verlorenen zum gewonnenen Tag erfolgt unmerklich auf diesen Meeren, die die Völker voneinander trennen; aber die Widersprüchlichkeit kann nicht festgestellt werden, da die Schiffe beweglich sind und nicht auf den weiten Wasserwüsten stehen bleiben.


    Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, meine Herren, und ich fasse wie folgt zusammen:



    Vom praktischen Standpunkt aus wird


    1. die Vereinheitlichung der Datierung durch die Anerkennung des Kalenders von Manila geregelt,


    2. das Datum des Logbuchs durch die Kapitäne geändert, wenn sie den 180. Meridian überschreiten, also die Weiterführung des regelnden Meridians, der ihre Chronometer festlegt.


    Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus kann man sagen: Der Übergang erfolgt ohne Erschütterung, unbewusst, ebenso gut in der Wüste als auf den Ozeanen, die die bewohnten Länder voneinander trennen.


    So werden wir zukünftig nicht das schmerzliche Spektakel erleben müssen, dass sich zwei zivilisierte Länder um die Ehre einer Nationalzeit zum Krieg rüsten und aufeinander einschlagen.



    Ins Deutsche übertragen von Volker Dehs



    Der Schriftsteller als Zeit-Experte: Wenige Wochen, nachdem Jules Verne seinen Roman „In 80 Tagen um die Welt“ veröffentlicht hatte, wurde der visionäre Autor (1828-1905) von der französischen Gesellschaft für Geografie gebeten, ein damals drängendes Problem zu lösen: Warum gerät bei jeder Reise um die Erde der Kalender durcheinander? Am 4. April 1873 trug Verne der Gesellschaft in Paris seine Antwort unter dem Titel „Die Meridiane und der Kalender“ vor. Sie ist bis heute gültig (siehe unten stehenden Kasten). Dieses historische Dokument wird jetzt erstmals auf Deutsch veröffentlicht. Der Text ergänzt die Neuausgabe von Jules Vernes „In 80 Tagen um die Welt“, die kommende Woche in einer neuen Übersetzung von Sabine Hübner erscheint (Artemis & Winkler, 365 S., 19,90 Euro)