Hommage an Jules Verne von Ror Wolf

  • Nehmen wir an, es war dreiundvierzig, Dann hatte ich also im Jahr dreiundvierzig, vielleicht gegen Abend, vom Schießteich aus, Hans-Schemm-Straße, Brudergasse Richtung Saalstraße, ein kleines, bräunliches Buch aus dem Verlag Hartleben in der Tasche. Ich ließ die Verdunklung herunter. Ich blätterte ein bißchen herum. Plötzlich wurde ich eingesogen in dieses Buch, aufgeschluckt von einem Autor: Jules Verne. Was wollte ich eigentlich damals haben? Das, was der Verlag Hartleben im Klappentext annoncierte? Einen Autor, aus dessen Schriften man so leicht belehrt, so angenehm unterhalten werden kann? Ich wollte mich nicht belehren lassen. Auch nicht auf angenehme Weise. Ich war auf der Suche nach Lesegrotten, in die ich hineinspazieren konnte, in denen ich mich verlaufen konnte. Diese Begegnung ist nicht ohne Folgen geblieben. Etwas glühte nach von damals, von den Überraschungen im Umgang mit seinen Büchern; und etwas von heute strahlt zurück auf dieses Erlebnis; etwas von heute, wo Jules Verne ganz in der Nähe von Kafka und Beckett und Robert Walser in meinem Regal steht. Lesen und Leben sind bei mir, meine ich, zu stark miteinander vermischt. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Aber gerade deshalb ist es auch schwer, mit Sicherheit zu sagen, was damals diesen außergewöhnlichen Eindruck auf mich gemacht hat. Seine Komik, seine Phantastik, seine eigenartige Poesie haben mich wahrscheinlich mehr fasziniert als das technische Inventar. So wie ich heute (und auf die Kopulation zwischen zwei Zeitabschnitten kommt es mir an) Verne nicht als den großen technischen Vorausschauer sehe.


    Das, was er an technischem Beiwerk anbietet, kann man ohne Mühe auch in den zeitgenössischen illustrierten Zeitungen, in Reiseberichten und Sachbüchern nachlesen. Verne hat das auch gelesen. Er hat alles geplündert, was ihm in die Hände kam. Er schnitt, sammelte, klebte wieder zusammen; und aus diesen Fetzen entstanden unerhört bizarre Bilderbogen mit merkwürdig zusammengeschrumpften Perspektiven. Er ist nicht der Erfinder der Ballone und Unterseeboote und Flugmaschinen, aber er setzt sie in Bewegung, und sie bewegen sich nach seinem Kommando in seinen Büchern, die zugleich magisch sind und real, komisch und melancholisch, grausam zärtlich entsetzlich und poetisch und fratzenhaft und fabelhaft. Und dabei stellt er wie spielend eine sich fortwährend verändernde Umwelt dar. Eine Zeit war Jules Verne aus meinem Leben verschwunden, aber 1960, gegen Abend, tauchte er plötzlich wieder auf. In einer Collage von Max Ernst. In der Ballongondel zusammen mit Fantomas und Dante, etwas in der Hand haltend wie ein Barometer oder wie ein Hygrometer oder ein Manometer. Und wieder kurze Zeit später erschien er beim Blättern in alten illustrierten Zeitschriftenbeständen, die mir die Antiquare damals fröhlich und rasch aus ihren Abstellkammern geholt haben, und die ich für etwas Kleingeld in großen Koffern nach Hause schleppte. In der Leipziger Illustrierten, Jahrgang 1875, las ich: "Man liest diese Bücher anfangs mit Kopfschütteln. Wer soll heutzutage ganze Bände voller Windbeuteleien und Phantastereien lesen. Da ist die Zeit zu kostbar dazu, bald aber findet man, daß die Phantasie des Autors nur Beiwerk ist. Daß uns der Verfasser in allem Ernst" (in allem Ernst! Na also) "populäre wissenschaftliche Vorträge hält. Er ist also ein verkappter Professor." Für Phantasie war also keine Zeit da. Auch 1875 nicht.


    Ein verkappter Professor!? Wohl doch eher einer, der sich als Professor verkleidet hat, um seine Windbeuteleien und Phantastereien an den Leser zu bringen. Nicht seine kolossalen Auftürmungen von Fakten, Zahlen und technischen Mitteilungen hatten mich fasziniert. Ich wollte Platz haben für meine Phantasie. Und als ich im Jahrgang 1878 der Zeitschrift Das Neue Blatt las: dieser Mann belehre ja gar nicht, er "verwirre" vielmehr, weil er "die Grenzen zwischen der realen und der phantastischen Welt absichtlich verwische". Na bitte. Ich glaube, in diesem Moment hatte mich Jules Verne ganz verwirrend und ohne allen Ernst wieder für sich gewonnen. Und heute kommt es mir vor, als seien auch seine wütenden und hinterlistigen und opulenten Angebote von Details, seine stampfenden Wortreihen so etwas wie eine Vorwegnahme einer poetischen Methode von heute. Dieser Mann mit dem Bart, der so fest auf dem Boden der Zahlen, Fakten, Belege zu stehen scheint, er springt fortwährend hinaus in eine knollige wuchernde sinnliche seltsam komische Landschaft, er springt, schnaubt und fliegt in die Luft oder taucht hinab. Er bewohnt eine Welt, in der es zischt, pfeift, und knallt und in der überall die mit Zahlen, Fakten, Belegen gefüllten Mundblasen aufsteigen und zerplatzen. Er läßt seine Phantasie tanzen, wie Robert Walser es mit den Worten macht. So schwirrte ich atemlos mit Jules Verne eine Zeit durch die Gegend, bis er von der krachenden Faust Old Shatterhands zu Boden geschmettert wurde. Dann bestieg ich mein Pferd und ritt ein paar Jahre mit Bärentöter und Henrystutzen beim Untergang der Sonne davon. Schließlich kam wieder was anderes. Und so ging es weiter. Und am Ende war Jules Verne wieder da und rief unerhörte und folgenreiche Worte. Ich glaube so war es.



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    Ror Wolf: Lesen. In: Von Dichtersesseln, Eselsohren, Schuster- jungen und Leseratten. Hrsg. von Günter Affholderbach und Klaudia Strohmann. Siegen: Affholderbach & Strohmann,1985


    http://www.bibliomaniac.de/autor/prim3/wolfror.htm

  • Sehr schön geschrieben und für mich absolut nachvollziehbar, auch die Reise mit Bärentöter und Henrystutzen :up: