Vom Wattenmeer bis zum Tauchgang in den Tiefen des offenen Atlantiks – das Ozeaneum in Stralsund macht Unterwasserlebenswelten auf vielfältige Weise erlebbar. Gleichzeitig ist es mehr als nur ein Naturkundemuseum: Auch die Ausbeutung und Zerstörung der Meere wird eindrücklich thematisiert.
Von Jule Reiner
Spaziergang durch die faszinierende Unterwasserwelt des Atlantiks (imago/Volker Hohlfeld)
Von Ferne muten sie an wie geblähte weiße Segel, diese vier über die Hafeninsel von Stralsund ragenden Kuben des Ozeaneums. Man könnte meinen, dass sie sich lautlos hinter den backsteingotischen Speicherhäusern und den Landepiers vorbeischieben – auf große Fahrt in die Nordmeere. Am langen Pier vorne liegt die Klassikerin der Dreimastbarken, die wunderschöne ‚Gorch Fock’, und wirkt vor der futuristischen Konstruktion des besten Meeresmuseums Europas fast filigran. Doch beide sind sie hochelegant.
Der Name Ozeaneum ist eine Zusammenziehung von Ozean und Mus-eum – abgeleitet aus den griechischen Worten ‚Okéanos’ und ‚Museíon’. Ein Museum also, das auf eine Sammlung mit musischem Charakter hinweist, verbunden mit dem urgewaltigen Ozean der Welt. Als leidenschaftliche Sammlerin von Meeresmuseen, wo immer ich sie unterwegs in der Welt besuchen konnte, stand es auf meiner Wunschliste schon seit seiner Eröffnung vor zehn Jahren ganz oben an. Und jetzt begleitet mich mein Freund, Professor Manfred Niekisch, selbst Biologe und ehemaliger Direktor des Frankfurter Zoos, auf diese besondere Reise unter den Meeren.
„Und plötzlich taucht man ein in die Unterwasserwelt“
Manfred Niekisch: „Das Faszinierende an dem Ozeaneum ist ja schon die Architektur, hinter der sich einiges verbirgt, was man von außen gar nicht ahnen kann. Das macht auf jeden Fall schon neugierig und dann kommt man da rein und wird zunächst konfrontiert mit ein paar Skeletten von riesigen Meereslebewesen, die da über einer langen Rolltreppe hängen. Und plötzlich taucht man ein in die Unterwasserwelt. Das ist nun wirklich faszinierend, weil man nicht den Eindruck hat, ich gehe jetzt in eine Halle wo viele Aquarien sind, sondern man hat wirklich über weite Strecken den Eindruck, ich bin unter Wasser und gucke ohne nass zu werden, was sich da so tut.
Ja, und wenn man sich eingesehen hat und dann auch schnell erkennt, was die Unterschiede bei diesen riesigen Skeletten sind, etwa zwischen einem Bartenwal, der eben keine Zähne hat und einem Zahnwal, nämlich einem Pottwal, dann ist das schon sehr sehr faszinierend. Man sieht das Skelett eines Orcas und dann wieder ein Blick, sozusagen in das Innere des Wals. Da ist ausgestellt unter Glas das Lungensystem und das Herz eines Finnwals.
Das hat nun wieder einen ganz starken Regionalbezug. Denn der ist irgendwann mal im Stralsunder Bodden gestrandet. Also, er ist sozusagen in unmittelbarer Nähe des Ozeaneums damals an Land gespült worden und man hat sein unglaublich beeindruckendes Lungensystem und Herz ausgestellt. Das Spannende dabei ist nicht nur die Größe dieser beiden Systeme, sondern auch wenn man sich anschaut, wie die gebaut sind. Denn die müssen ja riesige Druckunterschiede aushalten, wenn der Wal auftaucht oder wieder abtaucht. Das ist einfach faszinierend, ohne dass man jetzt überfrachtet wird durch Informationen, die man dann doch nicht so liest, weil nämlich die Organe viel spannender sind.“
Der „eingefangene Augenblick“
Auf der überlangen und recht steilen Rolltreppe wird man über die Walskelette hinweg in die Höhe der Halle getragen. Und von dort oben sehen die Skelette aus als seien sie von lichtgekräuselten Wellenkronen umspült. Und wir tauchen ein in die Ausstellung der Weltmeere. Ein hinreißendes Aquarium empfängt uns und lockt in ein schwärmerisches Bild: In fluoreszierender Beleuchtung eine Elegie von kleinen Ukeleien. Sie gehören zu den karpfenartigen Fischen, nur 15 Zentimeter klein, ihre Schuppen wie von reinstem Silber mit zartgrünen Stromungen auf dem Rücken. Anglern dienen sie als gute Köderfische. Und für die Manufaktur von künstlichen Perlen liefern ihre silbrigen Schuppen die wertvolle Perlenessenz.
„Wie geblähte weiße Segel“: Blick auf das Ozeanum, davor die Gorch Fock (imago/Westend61)
Dieses anmutige Bild erinnert mich an eines, das ich den „eingefangenen Augenblick“ nenne. Ich fand ihn zum ersten Mal in einer Disneyfilmproduktion der 60er Jahre bei einer Sonntagsmatinee im Jugendkino. Gespielt wurde „20.000 Meilen unter dem Meer“, die fantastische Abenteuerreise dreier Schiffbrüchiger, die an Bord des Unterseebootes Nautilus unter dem Kommando, oder man müsste sagen unter der Regie des geheimnisumwobenen Kapitäns Nemo als Gefangene aufgenommen werden. Unter ihnen der Wissenschaftler Professor Aronnax, hinter dem sich natürlich der Autor Jules Verne des gleichnamigen Romans verbirgt. Erschienen ist das futuristische Werk 1870 und wurde ein Weltklassiker.
Und hören wir daraus nur einmal wie sich der eingefangene Augenblick liest, wenn sich Professor Aronnax mit Kapitän Nemo und seinen Tauchern auf Expedition durch einen untermeerischen Garten Eden begib:
„Die Sonnenstrahlen trafen in schrägem Winkel auf das Wasser. Da das Licht wie durch ein Prisma gebrochen wurde, zeigten sich die Ränder von Blumen, Felsen, Pflänzchen, Muscheln und Polypen im Gewand der sieben Regenbogenfarben. Es war ein reines Wunder, das ich vor mir sah, eine Augenweide, eine vollendete Mischung, ein wahres Kaleidoskop von grünen, gelben, orangefarbenen, violetten, indigoblauen und blauen Farbtönen, mit einem Wort: die gesamte Palette eines leidenschaftlichen Malers.
Wie sehr wäre mir daran gelegen gewesen, Kapitän Nemo und seine Gefährten an meiner Faszination teilhaben zu lassen, ihnen meine Begeisterung zu bekunden! Doch in Ermangelung dieser Möglichkeit sprach ich mit mir selbst, rief in die Kupferkugel hinein, die meinen Kopf bedeckte, und vergeudete vielleicht mehr Sauerstoff als empfehlenswert war, um Worte von mir zu geben, die doch niemand hören konnte außer mir selbst!“
Tauchgang im Wattenmeer
Unser Tauchgang beginnt im Wattenmeerbecken der Nordsee, wo wir in eine herrliche zarte Komposition aus roten Algen und weißem Kies blicken. Knurrhahn, Seezunge, Haarbutt, Rotzunge und Petermännchen besiedeln den Lebensraum, der hier erscheint wie ein kühles von Künstlerhand inszeniertes Bild, da die Plattfische sich unbeweglich in den feinen Kies einschmiegen. Angehaltene Zeit der frühen Lebensformen.
In der offenen Nordsee zieht indessen ein Schwarm von Kabeljau elegante Bahnen. Lang gezogene kräftige Körper haben sie, weit vorgezogene Oberkiefer und merkwürdige Hautlappen, die Barteln, am Unterkiefer. Die sehr großen Exemplare zeigen runzlige Köpfe wie von Denkfalten gefurcht.
Manfred Niekisch: „Das ist ein ganz mächtiger Fisch mit einem ausgesprochen kräftigen Körper. Er sieht auch irgendwie urtümlich aus mit diesen Barteln am Unterkiefer. Und den in einem Schwarm zu sehen und sich vorzustellen, was das für eine interessante Biologie ist, die man überhaupt nicht erahnen kann, wenn man ihn mal auf dem Teller hat, – einfach faszinierend.“
Inzwischen ist Jules Vernes Professor Aronnax auf seiner Meereswanderung aus den durchleuchteten Fluten immer tiefer in ein ozeanisches Gebirgstal gewandert. Und nun ruhend in einem Algenbeet begegnet ihm der alte Schrecken der Meere, der sich bis weit ins 17. Jahrhundert erhalten hatte. Wo fester Boden aufhörte, lauerten in der Fantasie der Menschen schreckliche Gefahren: Seeungeheuer, Chimären, Stürme als Ausdruck göttlichen Zorns – all das verhieß Reisen ohne Wiederkehr. Erst mit dem Aufkommen des romantischen Ideals im 18. Jahrhundert begannen Dichter und Maler Westeuropas das Schreckliche der Küsten in Erhabenheit zu verwandeln.
Blick auf das Schwarmfischbecken im Ozeaneum von Stralsund (imago/BildFunkMV)
Jules Vernes Werk vereint diesen alten Schrecken mit romantischer Utopie und der realistischen Wissenschaft seiner Zeit des 19. Jahrhunderts. Ich trage das Buch mit vielen Lesezeichen gespickt durch das Ozeaneum:
„Unter einem dichten Geflecht von Braunalgen liegend, hob ich den Kopf und entdeckte riesige, massive Leiber, die, laute Geräusche verursachend, an uns vorüberzogen und dabei phosphoreszierend schimmerten.
Mir stockte das Blut in den Adern, als ich erkannte, dass zwei furchterregende Blauhaie mit gewaltigem Schwanz und kalten, glasartigen Augen über uns kreisten. Aus den Löchern, die um ihre Mäuler herum angeordnet waren, sonderten sie eine phosphoreszierende Substanz ab. Ihre Mäuler ähnelten riesigen Fangeisen, mit denen sie einen Menschen ohne weiteres zermalmen konnten.
Was mich betraf, so betrachtete ich ihren silbrig glänzenden Bauch und ihren scheußlichen, von messerscharfen Zähnen starrenden Rachen gänzlich unwissenschaftlich und eher mit den Augen eines potenziellen Opfers als von der Warte eines Naturforschers aus.“