Ann Cottens Gesellschaftstheorien zwischen Jules Verne und Wittgenstein

  • Ann Cotten wurde 1982 in Iowa in den USA geboren, heute lebt die Schriftstellerin in Wien und Berlin. "Lyophilia" heißt ihr neues Buch – ein Band mit zwölf Erzählstücken. Darin entwirft Sie außergewöhnliche, skurrile Zukunftsutopien, die die Gegenwart fest im Blick haben. Ein experimentelles, höchst originelles Buch, meint MDR KULTUR-Literaturkritiker Jörg Schieke.


    Die US-amerikanische Schriftstellerin Ann Cotten legt den Erzählband "Lyophilia" vor.

    Bildrechte: imago/Stephan Görlich


    Mit ihrem neuen Buch bestätigt Ann Cotten ihren Ruf, einer literarische Avantgarde und Experimentierlust zu folgen, die sich in unkonventionellen, versponnenen und zugleich höchst originellen Erzählungen straff Richtung Zukunft bewegt: Viele ihrer Geschichten spielen tatsächlich in der Zukunft und hier dann auch im Weltall, in Shuttle-Bars oder in den Köpfen von Wesen, die sich vor Bildschirmen "Feedback-Portionen" reinziehen.


    Von Jules Vernes bis Uhura

    Ann Cotten entwirft eine hochgestimmte, phantastische Literatur, in der die Sätze zugleich durch die Sprach-und Denk-Labore des 20. und frühen 21. Jahrhunderts gezogen sind. Robert Musil und Heimito von Doderer, Ludwig Wittgenstein und Oswald Wiener mögen zu Cottens Vertrauten gehören, angereichert mit Jules Verne, Stanislaw Lem und Lieutenant Uhura.


    So etwas hat man in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur lange nicht gelesen – und es hat fast gar nichts zu tun mit den üblichen literarischen Mustern: Nie geht es darum, eine richtige Geschichte mit Konflikten, Figurenpsychologien und am Ende einer Auflösung zu erzählen. Statt dessen: Wesen, die in Straftrupps im Weltall Staubsaugen müssen, wobei jeder Satz eben nicht eigentlich auf das Weiterspinnen der Story zielt, sondern darauf, möglichst viele, freiwerdende Bedeutungen an- und abkoppeln zu können. Pathos und Ironie, Nonsens und Lebensweisheit knallen beständig ineinander.


    Aus "Lyophilia"

    Die auf den ersten Blick brillante Idee, eckenlose Räume zu benutzen, um diese staubigen Ecken abzuschaffen, war ein kurzfristiges Phantasma der alternden Generation der Vollbeschäftigten. Es zeigte sich, dass der Staub, wenn Ecken fehlen, in denen er sich aufhalten kann, überall im Raum im Kreis wirbelt.


    Das Weltall als Labor

    Indem Ann Cotten in die Zukunft verlegte Weltraumgesellschaften entwirft, schreibt sie dann aber doch auch wieder über Machtverhältnisse, über Erlösungsfantasien oder über einen bestimmten Modus der Freiheit. In einem Interview hat sie einmal angemerkt, dass sie zum Beispiel die Erfahrungen der Menschen des früheren Ostblocks interessieren – diese, wie sie es nennt: "Laborsituation", die man natürlich in einer Diktatur genauso errichten kann wie in einer zukünftigen Gesellschaft im Weltall.

    Wo kaum was ist, ist keine Selbstbeschränkung notwendig. Puritanistische Regeln entwickeln sich nur, wo man mit Überfluss umgehen muss.


    Ann Cotten

    Systeme interessieren Ann Cotten sehr – inklusive der Frage, wie man solchen Systemen, seien es nun politische oder sprachliche, entfliehen kann. Und so leuchtet hinter der Sprachwucht und Belesenheit dieser Autorin dann auch immer mal ein letztes Bekenntnis zu einer geradezu selbstzerstörerischen Lebenspraxis auf: Dann nämlich, wenn sie sich selbst anspornt, wieder weniger zu essen, aber dafür mehr Drogen zu nehmen, zu arbeiten, wach und aufmerksam zu bleiben.

    Man muss das nicht streng von vorn nach hinten lesen, kann zwischendurch hin und her springen, denn es gibt in diesen Geschichten genau genommen keinen Anfang und kein Ende. "Lyophilia" ist ein Buch, das aus dem 21. Jahrhundert ins 20. schaut – und dann auch wieder in die Zukunft.



    Ann Cotten: "Lyophilia"

    Bildrechte: Suhrkamp Verlag

    Angaben zum Buch

    Ann Cotten: "Lyophilia"

    Suhrkamp Verlag, 2019

    Gebunden, 463 Seiten

    Preis: 24 Euro

    ISBN: 978-3-518-42869-6


    Quelle: https://www.mdr.de/kultur/buch-lyophilia-ann-cotten-100.html