Das Erbe von Jules Verne

  • In Nantes erblüht dank der Kultur neues Leben aus den Industriebrachen.


    Trompetet und duscht die Besucher: Der fast 50 Tonnen schwere Elefant aus Holz und Stahl auf der Île de Nantes. Foto: Arnaud Robin/«Le Figaro Magazine»/laif


    Das Mädchen mit den dünnen Beinen und nackten Armen rackert sich am Sockel ab. Niemand weiss, ob es rauf- oder runterwill. Die Bronzeskulptur des französischen Bildhauers Philippe Ramette steht im Park Cours Cambronne. Keine zehn Meter entfernt die mächtige Statue von Pierre Cambronne, General des ersten Kaiserreichs. Kein Zweifel, der Mann steht fest auf dem Podest und will oben bleiben. Ein grossartiger Kontrast. Der Park lädt zur Musse, die Statuen zum Nachdenken. Nur ein paar Hundert Meter entfernt, auf der belebten Place du Bouffay, eine andere Bronzeskulptur von Ramette: ein Mann im Anzug, der Blick Richtung Atlantik, das rechte Bein fest auf dem Sockel, das linke macht einen Schritt zur Seite. Der Mann ist bereit, vom Sockel zu steigen und neue Wege zu beschreiten.


    Restaurants und Bars im ehemaligen Bananenhangar


    Nantes, die Stadt an der Loire, 60 Kilometer vom Atlantik entfernt, musste den Schritt in eine neue Zukunft wagen. 1987 schliessen alle Werften; Tausende stehen auf der Strasse. Die Île de Nantes, 5 Kilometer lang, ist nur noch Brache. Zwei Jahre später wird der Sozialist Jean-Marc Ayrault zum neuen Bürgermeister der nordfranzösischen Stadt gewählt. Er führt Nantes in die Zukunft, setzt auf die Karte Kultur; betrachtet sie nicht als lästigen Posten im Budget, sondern als Chance. Er lässt die Visionäre und Spinner in seiner Entourage an der langen Leine. Diese erinnern sich an den berühmtesten Sohn von Nantes: Jules Verne – Visionär und Spinner.


    Die Île de Nantes 2019: Ein fast 50 Tonnen schwerer Elefant aus Holz und Stahl stampft über die Quais, mit 50 Leuten im Bauch und auf dem Rücken. Er trompetet, spritzt Wasserfontänen auf die schaulustigen Besucher. Das 25 Meter hohe «Carrousel des Mondes Marins» dreht sich auf drei Etagen mit 36 skurrilen Meeresviechern im Innern. Der Elefant und das Karussell bilden heute das Herzstück der Insel – eine Hommage an Jules Verne.


    Die Île de Nantes ist zum grossen Freizeitpark geworden, städtebaulich durchdacht, künstlerisch gestaltet. Zwei Krane, Schienen im Boden, Werftrampen und einige Hangars erinnern an die Vergangenheit. Der Justizpalast von Jean Nouvel, Wohnblocks, Hochschulen und ein künstlerisch gestalteter Aussenraum haben das Bild der Insel komplett verändert. Der alte Bananenhangar, 300 Meter lang, beherbergt heute Restaurants, Bars und eine Galerie. 18 Ringe, «Les Anneaux», mit zwei Meter Durchmesser weisen den Weg zur Spitze der Insel und beleuchten nachts das Flussufer. Pingpongtische in allen Formen, Höhen und Grössen zwingen die Spieler, neue Regeln zu erfinden. Der Kinderspielplatz gleicht einer Mondlandschaft, die Erdkugel schwebt darüber. Der Fussgängerstreifen auf der einzigen Durchfahrtsstrasse der Insel ist ein wirres Durcheinander von Linien und Kurven – das Werk eines Künstlers.


    In dieser Stadt ist alleszu Fuss erreichbar


    Ein kleines, vieles erklärendes Detail: Im Schatten der strengen Formen der neuen Hochschule für Architektur bubbelt das Werk «L’Absence» mit seiner Bar im Innern, ein Werk, das sich jeder geometrischen Strenge zu entziehen scheint. Das Beispiel steht für die Kulturpolitik der Stadt: «Le voyage à Nantes», das Tourismusbüro mit über 200 Mitarbeitenden, lädt Künstler ein, den öffentlichen Raum zu bespielen.


    Die Île de Nantes ist ein völlig neuer Stadtteil geworden, der noch mitten in seiner Entwicklung steht. Das «alte» Nantes ist dort, wo das Mädchen sich am Sockel abmüht, wo der Mann im Anzug den Schritt zur Seite wagt. In seinem Rücken erstreckt sich das mittelalterliche Quartier Bouffay, vor ihm das ­noblere Graslin aus dem 18. und 19. Jahrhundert mit schicken Häusern und Boutiquen. Von der ­Place de Bouffay aus lässt sich die Stadt leicht erkunden, weil alles zu Fuss erreichbar ist und weil Nantes die «grüne Linie» erfunden hat. Besucherinnen und Besucher folgen dieser Linie und finden zu all den Sehenswürdigkeiten.


    Zum Schloss der bretonischen Herzöge aus dem 15. Jahrhundert, an dessen Mauer eine Rutschbahn klebt: Kunst im öffentlichen Raum, Kunst für die Bevölkerung. Zum Kunstmuseum, zum botanischen Garten oder zum Sklavenmuseum. Nantes ist die einzige Stadt Frankreichs, die sich intensiv mit diesem dunklen Flecken seiner Vergangenheit auseinandersetzt. Das Museum ist einem Schiffsrumpf nachempfunden, in dem die Sklaven zusammengepfercht übers Meer deportiert wurden. Und wo immer ein Kreis die grüne Linie unterbricht, lohnt es sich, innezuhalten und den Blick umherschweifen zu lassen. Künstlerische Kleinode an allen Ecken und Enden. Und steht das Mädchen im Cours Cambronne für die Entwicklung von Nantes, dann ist klar: Es will auf den Sockel.


    Die Reise wurde unterstützt von Easyjet und Le Voyage à Nantes


    Quelle: https://www.tagesanzeiger.ch/r…ules-verne/story/26249652