FILMKRITIK: "The Wild Boys": Sexuelle Metamorphosen auf hoher See

  • Bertrand Mandicos Film erzählt von der behutsamen Verwandlung der Geschlechter


    Bert Rebhandl 5. Juli 2019


    "The Wild Boys" – auf den Spuren von William S. Burroughs.

    Foto: Filmgarten


    Die Insel der Lüste liegt in einer Welt weit hinter den Horizonten der Bourgeoisie. Sie ist nur zu erreichen auf einem Boot, das eine schwimmende Strafkolonie darstellt. Fünf Jungen nehmen in Bertrand Mandicos Film The Wild Boys diese Passage. Sie haben ein schlimmes Verbrechen begangen: einen Ritualmord an ihrer Literaturlehrerin. Die Strafe für so ein Vergehen lautet: Entfernung aus der Zivilisation. Als sich im Reisegepäck noch ein Buch von Shakespeare findet, fliegt es ins Meer. Der strenge Kapitän duldet keine andere Lektüre als die Hieroglyphen, die er auf den Unterarm tätowiert hat.


    Die Jungen, die auf hoher See zu Ordnung und Disziplin erzogen werden sollen, finden allerdings das ganze Gegenteil davon. Denn The Wild Boys ist eine Fantasie über Grenzüberschreitungen aller Art. Vor zwei Jahren tauchte das eigenwillige Werk von Bertrand Mandico beim Filmfestival in Venedig auf, nun kommt es ins Kino: zu Recht, denn es stellt einen modernen Mythos dar, der perfekt in die Gegenwart passt. In eine Gegenwart, die mit der Fluidität der Geschlechter längst Ernst gemacht hat.


    US-Undergroundkino der 1960er


    Von dieser Vielfalt erzählt Mandico in einer schillernden Geschichte, die zugleich ein Abenteuer der Identität und der Form ist. Bertrand Mandico ist mit den einschlägigen Ästhetiken des queeren Kinos bestens vertraut. Er schließt an die Traditionen des US-Untergrunds aus den 1960ern an und im weiteren Sinn an einen Kanon des experimentellen Kinos, in dem die Spielarten der Identität mit transgressiven Valeurs des filmischen Materials in Verbindung traten.


    Für das Abenteuer hat der aus Toulouse stammende Experimentalfilmer Anleihen bei einem Klassiker genommen: Zwei Jahre Ferien von Jules Verne, eine Pubertäts-Gruppen-Robinsonade, die herkömmlich mit einer Rückkehr nach Hause endet. Für die stärker umstürzlerischen Ideen bezieht Mandico sich auf The Wild Boys: A Book of the Dead von William S. Burroughs, in dem eine homosexuelle Jugendbewegung die westliche Zivilisation überwinden will.


    "The Wild Boys" – der Trailer.

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    Auf dem Boot befinden die Jungen sich in der Obhut von Kapitän Séverins, einem echten Seebären, der in den Jungen zuerst einmal Unterwerfungsfantasien auslöst: Sie wollen die "Hunde des Kapitäns" werden. Als sie die Insel erreichen, geraten sie in ein Reich, in dem die Bäume Schwänze haben, aus denen man Milch nuckeln kann. Wer will, kann auch mit einem Strauch verkehren, der bereitwillig seine "Schenkel" öffnet. Eine Dame tritt auf, die sich als weibliche Gestalt des Kapitäns entpuppt: Diese Séverine (Elina Löwensohn) gibt eine Parole aus. "Profitez des plaisirs." Tatsächlich "profitieren" die Jungen immer stärker vom lasziven Klima. Sie beginnen sich zu verändern.


    Mannsbild mit weiblicher Brust


    Und damit bekommt auch eines der davor rätselhaften Motive eine Erklärung: Denn der Kapitän, dieses Mannsbild, hat eine weibliche Brust. Selbst an einem so vierschrötigen Exemplar der Gattung Mensch findet sich also delikate Anatomie. Damit ist das Vorzeichen für eine Metamorphose gesetzt. Die Jungen verändern sich, sie werden die, die sie immer schon waren, als die sie sich aber erst sehen (und zeigen) mussten.


    "Was geschieht mit uns?" Das Staunen der Jungen, die an sich körperliche Veränderungen bemerken, ist auch ein Staunen, das sich auf das Medium selbst beziehen lässt. Mandico ist offensichtlich daran gelegen, das Kino selbst fluid werden zu lassen, ungreifbar wie das Geschlecht, das er in einem pointierten Spezialeffekt als Prothese ausweist. Es wird in den Ozean geschwemmt, zurück bleiben Tomboys und ein Blondschopf, der sich der Feminisierung widersetzt. (Bert Rebhandl, 5.7.2019)


    Quelle: https://www.derstandard.de/sto…tamorphosen-auf-hoher-see