"Wenn ihr mit Fragen zugesetzt wird, gleicht die Erinnerung einer Zwiebel, die gehäutet sein möchte, damit freigelegt werden kann, was Buchstab nach Buchstab ablesbar steht: selten eindeutig, oft in Spiegelschrift oder sonst wie verrätselt. Unter der ersten, noch trocken knisternden Haut findet sich die nächste, die, kaum abgelöst, feucht eine dritte freigibt, unter der die vierte, fünfte warten und flüstern. Und jede weitere schwitzt zu lang gemiedene Wörter aus, auch schnörkelige Zeichen, als habe sich ein Geheimniskrämer von jung an, als die Zwiebel noch keimte, verschlüsseln wollen. Aber auch Die Zwiebel hat viele Häute.Kaum gehäutet erneuert sie sich. Gehackt treibt sie Tränen. Erst beim Häuten spricht sie wahr".
Günter Grass Autobiografie setzt mit dem 1. September 1939 ein, als mit den Schüssen der deutschen Wehrmacht auf den polnischen Militärstützpunkt Westerplatte der Zweite Weltkrieg begann und dieses Geschehen, das alsbald Tod und Verderben über die ganze Welt bringen sollte, auch das Ende einer behüteten Kindheit für den Autor bedeutete.
Vom Nazi-Überfall auf Polen, der sich in nächster Nähe zu Grass Wohnort, dem Danziger Vorort Langfuhr abspielte, war wenige Tage später die Grass'sche Familie unmittelbar betroffen, als der Cousin der Mutter, Onkel Franz, der als Briefträger zu den Verteidigern der Polnischen Post gehörte, auf deutschen Befehl standrechtlich erschossen wurde. Von den Eltern wird dieser friedfertige Onkel daraufhin wortlos zur Unperson erklärt, Besuche bei dessen hinterlassener Frau und den vier Kindern unterblieben von nun an. Sein Name blieb ausgespart, als hätte es ihn nie gegeben, als sei alles, was ihn und seine Familie betraf, unaussprechlich.
Und aus der Distanz von über 60 Jahren fragt sich Günter Grass in selbstquälerischer Annäherung an den ihm fremd gewordenen Jungen, der anscheinend er gewesen war, dies möglicherweise aus Angst vor einer alles auf den Kopf stellenden Antwort, fraglos hingenommen zu haben mein mal nachsichtiger, dann wieder strenger Blick [bleibt] auf einen Jungen gerichtet, der kniefreie Hosen trägt, allem, was sich verborgen hält, hinterdreinschnüffelt und dennoch versäumt hat, "warum" zu sagen.
Keine Fragen, kein Warum beispielsweise auch, als der Vater eines Schulfreundes, ehemaliger USPD-Abgeordneter im Freistaat Danzig, in KZ-Haft nach Stutthof kam, das bald nach dem Anschluss Danzigs an das Großdeutsche Reich nahe dem Frischen Haff errichtet wurde, und der Freund plötzlich von der Schule verschwunden war. Schweigen auch beim Verschwinden und späteren Wiederauftauchen von Grass Lateinlehrer, der äußerlich unverändert erscheinend, als gebrochener Mensch seine Lehrtätigkeit in St. Johann, dem altstädtischen Gymnasium, wieder aufnahm.
Grass schmerzhaft bohrendes Nachsinnen über die damals nie gestellten Fragen, denn so beflissen ich im Laub meiner Erinnerungen stochere, nichts findet sich, das mir günstig wäre. Offenbar haben keine Zweifel meine Kinderjahre getrübt. Vielmehr machte ich, leicht zu gewinnen, bei allem mit, was der Alltag, der sich aufgeregt aufregend als "Neue Zeit" ausgab, zu bieten hatte, sind das Hauptthema der ersten Kapitel des Buches.
Und wahrlich aufregend war diese "Neue Zeit" für das Mitglied der "Hitlerjugend", der in Zeltlagern und im Geländespiel, bei Sonnwend- und Morgenfeiern unterm Sternenhimmel die "miefige" Enge seines kleinbürgerlichen Elternhauses vergessen und mit seinen Schulkameraden an der nahen Ostsee in immer währender Heldenanbetung für den "Führer"; und die Kriegsmarine über die anfänglichen Siege der deutschen Truppen fachmännisch diskutieren konnte.
Zuhause in dem kleinen Kolonialwarenladen sorgte die geliebte, den schönen Künsten zugewandte Mutter für den Erhalt der Familie, während der gutmütige, aber langweilige Vater; NSDAP-Parteimitglied seit 1936 - für die Beschaffung der Waren und dem Dekorieren des Schaufensters zuständig war. Der sorgsam gehütete Bücherschrank der Mutter, die den Sohn ihren "Peer Gynt" nannte und einmal "Großes" von ihm erwartete, bot vielfältigen Lesestoff für den Jugendlichen, der sich- im Rahmen eines Schreibwettbewerbes für erzählende Prosa - an einem Roman versuchte, der "Die Kaschuben" heißen sollte. Leider waren am Ende des ersten Kapitels bereits alle Helden tot, so dass niemand mehr da war, die toten Helden zu rächen.
Schließlich meldet Grass sich freiwillig als 15-jähriger in Gotenhafen als U-Boot- Fahrer, wurde zunächst nicht angenommen, geriet aber damit in das Räderwerk der Nazi-Maschinerie, wurde Flakhelfer und landet später beim Reicharbeitsdienst. Auch hier wieder rückblickend die tiefe Trauer, das Unverständnis des Autors für all die damals nicht gestellten Fragen.
Im Frühherbst 1944, als sich das Ende des "Tausendjährigen Reiches" schon abzuzeichnen begann, erhielt Grass den Einberufungsbefehl zur Wehrmacht und musste zur Musterung in das bereits zerstörte Berlin. In Dresden wurde ihm mitgeteilt, dass er zur SS-Panzerdivision "Jörg Frundsberg" eingezogen sei und sich zur Ausbildung als Panzerschütze auf einem Truppenübungsplatz der Waffen-SS in den böhmischen Wäldern zu begeben habe.
Zu fragen ist: Erschreckte mich, was damals im Rekrutierungsbüro unübersehbar war, wie mir noch jetzt, nach über sechzig Jahren, das doppelte S im Augenblick der Niederschrift schrecklich ist? Der Zwiebelhaut ist nichts eingeritzt, dem ein Anzeichen für Schreck oder gar Entsetzen abzulesen wäre. Eher werde ich die Waffen-SS als Eliteeinheit gesehen haben.
Was nun im Inferno der letzten Kriegsmonate folgte, geschrieben in Günter Grass unverwechselbarer, wortgewaltiger Sprache, kann man nicht schildern, das muss gelesen werden!
Mit viel Glück und leicht verwundet überlebte der junge Grass die Odyssee seines bereits in Auflösung befindlichen Truppenteils und geriet nacheinander in mehrere Gefangenenlager der Amerikaner in der Oberpfalz und in Bad Aibling.
Auch jetzt noch kaum ein Reflektieren der erlebten Grausamkeiten des Krieges, eher wird von ihm hinter einem zwecks Umerziehung befohlener Gang durch das befreite KZ Dachau feindliche Propaganda vermutet. Nicht die Argumente des Education Officers und die überdeutlichen Fotos, die er uns vorlegte, haben meine Verstocktheit brüchig werden lassen, vielmehr fiel die Sperre erst ein Jahr später, als ich die Stimme meines ehemaligen Reichsjugendführers Baldur von Schirach aus dem Radio hörte. Um die Hitlerjugend zu entlasten, beteuerte Schirach deren Unwissenheit und sagte, er, nur er habe Kenntnis von der geplanten und vollzogenen Massenvernichtung als Endlösung der Judenfrage gehabt. Ihm musste ich glauben. Ihm glaubte ich immer noch.
Zunächst galt es, die Aufbesserung der Hungerrationen und das Überleben unter freiem Himmel im Großlager Bad Aibling zu bewerkstelligen und so belegte Grass den, neben anderen von den Gefangenen organisierten Kursen, angebotene "Kochkurs für Anfänger", der von einem ehemaligen Wiener Chefkoch (Kaine Gans ohne Beifuß!) abgehalten wurde. Großartig zu lesen, wie den hungernden Kriegsgefangenen durch bloßes Anhören der Rezepte für Stunden der nagende Hunger vergeht und Grass sich; wie wir es aus den späteren Romanen kennen, Personen der Weltgeschichte an seine imaginäre Tafel lädt.
Es gibt aber noch unendlich viel mehr in diesem Buch: die Wirren der Nachkriegszeit, die Zeit als Koppeljunge im Untertagebergbau der Burbach-Kali AG bei Hannover, wo ihm die Diskussionen der Kumpels erste politische Einsichten vermitteln, seine Ausbildung zum Bildhauer in Düsseldorf, die wunderbar zart beschriebene Bekanntschaft und spätere Heirat mit seiner ersten Frau Anna, die Übersiedlung nach Berlin, das Entstehen zahlreicher Gedichte und die ersten Begegnungen mit der Gruppe 47. Später dann, ab 1956, in einem Hinterhaus in Paris die Niederschrift der "Blechtrommel".
Ein packendes, ein bewegendes Buch, das ihn mir beim Lesen immer wieder die Lust geweckt hat, auch Günter Grass bisher erschienene Romane wieder "neu" zu lesen.
Nachtrag: Der eigentliche Erscheinungstermin dieses Buches sollte laut Verlag der 1. September 2006 sein, dem Datum, an dem seit vielen Jahren der "Antikriegstag" im Gedenken an den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und zur Ächtung aller Kriege begangen wird. Eigentlich genau der richtige Tag also, "Beim Häuten der Zwiebel" von Günter Grass den Lesern und Leserinnen erstmals zugänglich zu machen. [Helga Wittkopf]
Günter Grass: Beim Häuten der Zwiebel
Leinen | 479 S. m. Illustr. 21 cm 610g | 2006 Steidl | ISBN 3-86521-330-8 | 24.00 EUR