Ein Lotterie-Los

  • Hier schon mal das erste Kapitel (um euch den Mund schon mal etwas wässrig zu machen :)


    I


    „Wie viel Uhr ist es?“, fragte Frau Hansen, nachdem sie die Asche aus ihrer Pfeife geklopft hatte, deren letzte Rauchwölkchen sich zwischen den bunt angestrichenen Deckenbalken verloren.
    „Acht Uhr, Mutter“, antwortete Hulda.
    „In der Nacht kommt wohl kein Reisender mehr hier an; das Wetter ist einfach zu schlecht.“
    „Ich nehme an, dass niemand sich einfinden wird. Auf alle Fälle sind die Zimmer vorbereitet, und ich werde es schon hören, wenn draußen einer ruft.“
    „Ist dein Bruder noch nicht zurück?“
    „Nein, er ist noch nicht da.“
    „Hatte er nicht hinterlassen, dass er heut’ Abend zurückkommen werde?“
    „Nein, Mutter. Joel hat sich auf den Weg gemacht, um einen Reisenden nach dem Tinn-See zu bringen, und da er erst ziemlich spät aufgebrochen ist, glaub’ ich nicht, dass er vor morgen wieder in Dal sein kann.“
    „Dann wird er also in Mæl übernachten?“
    „Ja, wahrscheinlich, außer er fährt noch nach Bamble, um einen Besuch bei dem Pächter Helmbø abzustatten …“
    „Und bei dessen Tochter?“
    „Ja, auch um Sigrid, meine beste Freundin, zu sehen, die ich wie eine Schwester liebe!“, erwiderte lächelnd das junge Mädchen.
    „Nun, so schließ’ die Tür, Hulda, und dann lass uns schlafen gehen.“
    „Geht es dir etwa nicht gut, Mutter?“
    „Nein, aber ich will morgen zeitig aufstehen. Ich muss nach Mæl …“
    „Wozu?“
    „Oh!– müssen wir nicht daran denken, unsere Vorräte für die bevorstehende Touristensaison wieder aufzustocken?“
    „Dann ist der Bote aus Christiania also mit seinem Wagen voll Wein und Esswaren in Mæl eingetroffen?“
    „Ja, Hulda, heute nachmittag“, bestätigte Frau Hansen. „Lengling, der Vorarbeiter der Sägemühle, ist ihm begegnet und hat es mir im Vorbeigehen mitgeteilt. Von unseren Konserven mit Schinken und geräuchertem Lachs ist nicht mehr viel übrig, und ich möchte nicht Gefahr laufen, dass uns die Vorräte ganz ausgehen. Jeden Tag kann es, vor allem wenn das Wetter wieder besser wird, soweit sein, dass die Touristen wieder nach Telemarken reisen. Unser Gasthaus 1 muss so weit vorbereitet sein, dass sie hier unterkommen können und alles vorfinden, was sie während ihres Aufenthaltes benötigen. Du weißt doch, Hulda, dass wir schon den 15. April haben?“
    „Den 15 April!“, sagte das junge Mädchen leise.
    „Also werde ich mich morgen um alles kümmern“, sagte darauf Frau Hansen. „Es wird etwa zwei Stunden dauern, die nötigen Einkäufe zu erledigen, die der Bote dann hierhin fahren soll, und ich werde zusammen mit Joel auf seinem Schusskarren zurückkommen.“
    „Mutter, falls du den Postboten siehst, denk doch daran, ihn zu fragen, ob er einen Brief für uns dabei hat …“
    „Vor allem, ob er einen für dich hat! Das ist gut möglich, wo es doch inzwischen schon einen Monat her ist, dass der letzte Brief von Ole angekommen ist.“
    „Ja!- einen Monat! … Einen ganzen langen Monat!“
    „Mach dir nicht zu viele Sorgen, Hulda! Es ist doch gar nichts Erstaunliches daran, dass lange kein Brief mehr gekommen ist. Und ist es außerdem, auch wenn der Postbote von Mæl nichts mitgebracht hat, nicht immer noch möglich, dass das, was über Christiania nicht gekommen ist, dann eben über Bergen kommt?“
    „Das stimmt wohl, Mutter“, erwiderte Hulda, „aber was macht das schon aus? Wenn mir das Herz schwer wird, dann liegt das daran, dass es von hier aus so weit ist bis zu den Fischgründen von Newfoundland! Ein ganzes Weltmeer ist zu überqueren, und das, wo noch die schlechte Jahreszeit herrscht! Nun ist mein armer Ole schon fast ein ganzes Jahr lang fort, und wer könnte sagen, wann er endlich zu uns nach Dal zurückkommen wird … !“
    „Und ob wir bei seiner Rückkehr überhaupt noch hier sind!“, murmelte Frau Hansen, aber so leise, dass ihre Tochter es nicht hören konnte.
    Hulda schloss die Tür des Gasthauses, die auf die Straße nach dem Vestfjorddalen (West-Fjord-Tal) hinausführte. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, den Schlüssel im Schloss umzudrehen. In Norwegen, diesem gastlichen Land, sind solche Vorsichtsmaßnahmen nicht erforderlich. Es soll auch jeder Reisende, am Tage wie in der Nacht, in die Gårds (Gehöfte) oder Sæters (Almenhöfe) eintreten können, ohne dass ihm erst geöffnet werden müsste.
    Unliebsame Besuche von Landstreichern oder anderen Übeltätern sind hier weder in den Hauptorten der Gerichtsbezirke, noch in den abgelegensten Weilern zu befürchten, und kein verbrecherischer Anschlag gegen Gut oder Leben hat je die Sicherheit der friedlichen Bewohner gestört.
    Mutter und Tochter bewohnten zwei Stübchen an der Vorderseite des ersten Stockwerks der Herberge – zwei kühle, schmucke Räume, freilich mit einer nur bescheidenen Ausstattung, die aber nirgends das Schaffen und Walten verständig sorgender Hände vermissen ließ. Darüber und unter dem wie bei einer Sennhütte vorspringenden Dache befand sich das Stübchen Joels, welches durch ein mit geschmackvoll geschnitztem Tannenholzrahmen versehenes Fenster erhellt wurde. Von hier aus konnte man den Blick über einen Horizont von mächtigen Bergen schweifen lassen und bis zum Grunde des engen Tales hinabschauen, das der Måna – halb ein Bergbach, halb ein Flüsschen – rauschend durchzog. Eine Holztreppe mit massivem Geländer und spiegelblanken Stufen führte von der großen Stube, beziehungsweise Gaststube, des Erdgeschosses aus nach den oberen Stockwerken. Man konnte sich kaum etwas Anheimelnderes denken, als den Anblick dieses Hauses, in dem der Reisende eine in den Landgasthöfen Norwegens sonst seltene Bequemlichkeit vorfand.
    Hulda und ihre Mutter bewohnten also das erste Stockwerk, wohin sie sich, wenn sie allein waren, stets zeitig zurückzogen. Schon war Frau Hansen, die sich mit einer Kerze in einem Halter aus vielfarbigem Glas leuchtete, die ersten Stufen hochgestiegen, als sie noch einmal stehen blieb.
    Draußen klopfte es an die Tür und eine Stimme rief:
    „He, Frau Hansen! Frau Hansen!“
    Frau Hansen ging wieder hinunter.
    „Wer könnte so spät noch kommen?“, sagte sie.
    „Es wird doch Joel kein Unfall zugestoßen sein!“, rief Hulda erschrocken.
    Sie eilte sofort zur Tür zurück.
    Vor derselben stand ein junger Bursche – einer jener halbwüchsigen Jungen, die häufig als Skydskarl (Schussknecht) dienen, als welcher sie hinten auf dem Karren Platz nehmen und nach zurückgelegter Fahrstrecke das Pferd nach der betreffenden Station zurückzubringen haben. Dieser hier war zu Fuß gekommen und stand nun vor der Tür.
    „Nun, was willst du noch zu dieser Stunde?“, fragte Hulda.
    „Für’s erste Ihnen einen guten Abend wünschen“, antwortete der Bursche.
    „Ist das alles?“
    „Nein, gewiss nicht!- doch muss man zuerst nicht immer höflich sein?“
    „Du hast Recht! Doch wer sendet dich?“
    „Ihr Bruder Joel schickt mich.“
    „Joel … Und weshalb?“, ließ sich Frau Hansen vernehmen.
    Sie ging dabei mit jenem langsamen, gemessenen Schritte, der den Bewohnern Norwegens eigentümlich ist, nach der Tür zu. In den Adern ihres Erdbodens mag sich vielleicht Quecksilber finden, in den Adern der Leute hier jedoch nur wenig oder nichts davon.
    Jene Antwort hatte die Mutter aber offenbar etwas beunruhigt, denn sie beeilte sich, ihrer Frage hinzuzusetzen:
    „Was ist denn mit meinem Sohn? Es wird doch nichts passiert sein?“
    „Doch! Er hat einen Brief übergeben bekommen, das ist passiert. Der Brief ist mit dem Postkurier von Christiania von Drammen aus eingetroffen …“
    „Ein Brief, der aus Drammen kommt?“, sagte Frau Hansen, die Stimme senkend, rasch.
    „Ich weiß nicht, ob er aus Drammen ist“, antwortete der Bursche. „Ich weiß nur, dass Joel vor morgen nicht nach Hause kommen kann und dass er mich hierher geschickt hat, um diesen Brief abzugeben.“
    „Ist derselbe denn so eilig?“
    „Es scheint so.“
    „Gib her“, sagte Frau Hansen in einem Ton, der ihre lebhafte Unruhe verriet.
    „Hier ist er, ganz sauber und unzerknittert, für Sie ist der Brief aber gar nicht.“
    Frau Hansen schien erleichtert aufzuatmen.
    „Für wen denn?“, fragte sie.
    „Für Ihre Tochter.“
    „Für mich!“, rief Hulda. „Das ist bestimmt ein Brief von Ole, der über Christiania eingetroffen sein wird. Mein Bruder hat mich auf denselben nicht wollen warten lassen!“
    Hulda hatte den Brief genommen, war, um genug Licht zu haben, zu dem Kerzenhalter getreten, den ihre Mutter auf dem Tische abgestellt hatte, und sah sich nun die Adresse an.
    „Ja, er ist von ihm! Er ist wirklich von ihm! Oh, könnte er mir melden, dass die Viken nun heimkehren wird!“
    Unterdessen sagte Frau Hansen zu dem Burschen:
    „Du kommst ja gar nicht herein?“
    „Nun denn, auf eine Minute! Ich muss noch heut’ Abend zu Hause zurück sein, da ich morgen früh auf einem Schusskarren mitzufahren habe.“
    „So nimm wenigstens den Auftrag mit, Joel zu sagen, dass ich morgen selbst kommen werde; er soll auf mich warten.“
    „Morgen Abend?“
    „Nein, im Laufe des Vormittags. Jedenfalls soll er Mæl nicht verlassen, ehe er mich getroffen hat. Wir werden dann zusammen nach Dal zurückfahren.“
    „Abgemacht, Frau Hansen.“
    „Na, willst du nicht einen Tropfen Branntwein?“
    „Mit Vergnügen!“
    Der junge Bursche war an den Tisch herangetreten und Frau Hansen hatte ihm ein wenig von der landesüblichen Stärkung vorgesetzt, die so vortrefflich gegen die Schädlichkeit der Abendnebel schützt. Jener ließ keinen Tropfen in der ihm dargereichten kleinen Tasse.

  • Und weiter:


    „God aften!“ sagte er dann.
    „God aften, mein Junge!“
    So wünscht man auf norwegisch einen ›Schönen Abend!‹, was hier ganz einfach, ohne die geringste Neigung des Kopfes, gesagt wurde. Und der junge Bursche zog seines Weges, unbekümmert um die lange Strecke, die er noch zurückzulegen hatte. Bald schwand er unter den Bäumen des Weges, der am rauschenden Flüsschen entlang führt, aus den Augen.
    Hulda betrachtete inzwischen noch immer den Brief Oles, beeilte sich aber gar nicht, ihn zu öffnen. Doch man bedenke nur! Diese empfindliche Papierhülle hatte den ganzen Ozean überqueren müssen, um zu ihr zu gelangen, das ganze große Weltmeer, in dem sich die Flüsse des westlichen Norwegens verlieren. Sie nahm die verschiedenen Poststempel in Augenschein. Am 15. März aufgegeben, kam dieser Brief doch erst am 15. April in Dal an; also hatte Ole ihn schon vor einem Monat geschrieben! Was hatte sich nicht alles während dieses Monats ereignen können in den Gewässern von Neufundland! – Newfoundland, das ›neu gefundene Land‹. War jetzt nicht noch Winter, die gefährliche Zeit der Tag- und Nachtgleiche? Und gehören jene Fischgründe nicht zu den unwirtlichsten der Welt, mit den hier sehr häufig vorkommenden furchtbaren Windstößen, die vom Pol über die Ebenen Nordamerikas hinabgesendet werden? Es ist ein mühseliges und gefährliches Leben, das des Hochseefischers, welches auch Ole führte. Und war es nicht so, dass er sich diesen Gefahren nur aussetzte, um den Lohn für sie nach Hause zu bringen, seine Verlobte, die er bei seiner Rückkehr zur Ehefrau nehmen würde? Armer Ole! Was schrieb er wohl in diesem Brief? Gewiss, dass er Hulda noch immer liebte, wie auch Hulda ihn stets lieben würde, dass ihre Gedanken sich trotz der Entfernung begegneten, und dass er den Tag seiner Rückkehr nach Dal herbeisehnte.
    Ja, das musste er sagen, da war Hulda sich sicher. Vielleicht schrieb er auch noch, dass seine Heimkehr nahe bevorstehe, dass diese Fischfahrt, die die Fischer von Bergen so weit wegführt von ihrer Heimat, endlich zu Ende gehen sollte!? Vielleicht berichtete ihr Ole auch, dass die Viken nur noch ihre Ladung verstaue und sich zum Lichten der Anker rüste, dass die letzten Tage des April nicht vergehen würden, ohne sie beide wieder in dem glücklichen Hause des Vestfjorddalen vereinigt zu sehen? Vielleicht meldete er ihr gar, dass schon der Tag festgelegt werden könne, an dem der Pfarrer von Mæl hinüberkommen sollte, um sie in der kleinen hölzernen Kapelle zu vereinen, deren Glockenturm aus einer dichten Baumgruppe, einige hundert Schritte von der Herberge der Frau Hansen, hervorlugte?
    Um das zu erfahren, hätte es ja genügt, das Siegel des Umschlags zu brechen, den Brief Oles herauszuziehen und ihn zu lesen, auch wenn es durch Tränen hindurch geschehen müsste, die Tränen des Schmerzes oder der Freude, die sein Inhalt den Augen Huldas eben entlocken mochte. Und bestimmt hätte ein ungeduldigeres Kind des Südens, ja auch ein Mädchen aus Dalarna, aus Dänemark oder Holland schon längst gewusst, was die junge Norwegerin jetzt noch nicht wusste! Aber Hulda träumte eben, und Träume enden bekanntlich nicht eher, als bis es Gott gefällt, sie abzubrechen. Und wie oft hängt man ihnen nach, da doch die Wirklichkeit nicht selten gar so enttäuschend ist!
    „Mein Kind“, begann da Frau Hansen, „ist denn der Brief, den dein Bruder dir sendet, wirklich von Ole?“
    „Ja, ich erkenne die Handschrift.“
    „Und willst du mit dem Lesen desselben etwa bis morgen warten?“
    Hulda betrachtete ein letztes Mal den Umschlag. Nachdem sie denselben dann ohne besondere Eile entsiegelt hatte, entnahm sie daraus einen sorgfältig schön geschriebenen Brief und las wie folgt:


    Saint-Pierre-Miquelon, 15. März 1862.


    Meine liebste Hulda!


    Du wirst mit Vergnügen hören, dass wir einen sehr erfolgreichen Fischfang gehabt haben und denselben binnen wenigen Tagen schließen. Ja, endlich nähern wir uns dem Ende dieser Fischfahrt! Wie werde ich nach einjähriger Abwesenheit glücklich sein, nach Dal zurückzukehren und die einzige Familie wiederzusehen, die mir noch geblieben und welche die Deinige ist.
    Mein Gewinnanteil ist recht ansehnlich und wird für uns zur ersten Einrichtung ausreichen. Die Herren Brüder Help, die Söhne des älteren Help, unsere Reeder in Bergen, sind schon benachrichtigt, dass die Viken voraussichtlich zwischen dem 15. und dem 20. Mai zurück sein wird. Du kannst also darauf rechnen, mich etwa zu dieser Zeit, d. h. höchstens nach einigen Wochen, zu sehen.
    Teure Hulda, ich gehe davon aus, Dich noch hübscher als bei meiner Abreise und ebenso wie Deine Mutter bei bester Gesundheit wiederzusehen. Und bei bester Gesundheit auch den wackeren, mutigen Kameraden, meinen Cousin Joel, Deinen Bruder, dem es mehr als recht ist, mein Schwager zu werden.
    Beim Empfang dieses Briefes grüße mir Frau Hansen sehr herzlich, die ich von hier aus in ihrem großen Holzlehnstuhl nahe dem Ofen in der großen Stube deutlich vor mir sehe. Sag ihr von mir, dass ich sie zweimal lieb habe, einmal, weil sie Deine Mutter, und dann, weil sie meine Tante ist.
    Jedenfalls bemühe Dich nicht damit, mir nach Bergen entgegenkommen zu wollen. Es wäre möglich, dass die Viken noch eher einträfe, als ich voraussetze. Doch wie dem auch sei, teuerste Hulda, sicher kannst Du darauf rechnen, mich 24 Stunden nach unserer Landung in Dal zu finden, nur erschrick nicht, wenn ich früher als jetzt abzusehen ist ankomme.
    Wir sind durch die raue Witterung dieses Winters tüchtig durchgeschüttelt worden; ja, diese war so schlecht, wie unsere Seeleute sie nie zuvor erlebt haben. Zum Glück hat wenigstens der Kabeljau an der großen Bank einen ausgezeichneten Ertrag erbracht. Die Viken bringt davon 5 000 Zentner mit, die in Bergen abzuliefern und durch die Bemühung der Herren Brüder Help schon verkauft sind. Mit einem Worte, das wird Euch beide ja am meisten interessieren, wir haben einen guten Fang gemacht und der Ertrag wird auch für mich, der ich jetzt einen ganzen Anteil beziehe, recht gut sein.
    Außerdem, wenn ich nun auch nicht gerade Reichtümer mit nach Hause bringe, so hab’ ich doch den Gedanken, ja eine Art Vorgefühl, dass mich diese bei der Rückkehr erwarten. Ja! Reichtümer … und noch dazu natürlich Glück! Wie? … Das ist mein Geheimnis, liebste Hulda, und Du wirst mir schon verzeihen, ein Geheimnis vor dir zu haben. Es ist ja das einzige! Außerdem werde ich es Dir noch verraten … Wann? … Nun, sobald die Zeit dazu gekommen ist – vor unserer Hochzeit, wenn diese durch einen unvorhergesehenen Umstand verzögert werden sollte – nach derselben, wenn ich zur angegebenen Zeit eintreffe, und wenn Du in der Woche nach meiner Rückkehr nach Dal mein Weib geworden bist, wie ich das ja von ganzer Seele wünsche.
    Ich umarme Dich, meine liebste Hulda, und bitte Dich, an meiner Statt Frau Hansen und meinen Cousin Joel zu umarmen. Ich küsse Deine Stirn, der die strahlende Krone der Neuvermählten von Telemarken wie ein Heiligenschein stehen wird. Zum letzten Mal, lebe wohl, meine teure Hulda, lebe wohl!


    Dein Verlobter
    Ole Kamp


    Fußnoten
    Im dünn bevölkerten Norwegen, ebenso wie in Schweden, ruht auf gewissen Häusern, Gjestgiveri genannt, neben dem Recht, Reisende zu beherbergen, auch die Pflicht, diese mittels zweirädriger Wagen, „Schuss“, norwegisch Skyds genannt, zu behördlich bestimmtem Preis zu befördern. (Anmerkung des (anonymen) Übersetzers der deutschen Erstausgabe.)

  • „Schusswagen“ werde ich in meiner Version wohl beibehalten. Ist halt ein spezieller Name für ein norwegisches Gefährt („skyds“).


    skyds ist wohl eine eher ältere, noch am Dänischen mehr orientierte Form des Wortes, heute gibt es das Wort skyss im Norwegischen und heißt Mitfahrgelegenheit. Ansonsten klingt skyds aber auch wie Schuss (å skyte = schießen), es gibt auch das Wort skyts. Aber das ist eventuell schon recht volksetymologisch und nicht ganz akzeptabel.

  • Vielleicht ist auch die Norwegisch-Schwedische Unionsfahne gemeint? (1814 bis 1905)?

  • Danke für die Anmerkungen. Und immer her mit weiteren Anmerkungen, wenn dir noch was auffällt.


    Was nun den Schusswagen angeht, glaube ich eigentlich schon, dass man das Wort beibehalten kann. Der Hartleben-Übersetzer erläutert das ja in einer Anmerkung, da sollten dann keine Verständnisschwierigkeiten beim Leser auftreten. Ich glaube, man kann hier ruhig ein wenig „alterthümelndes“ Flair beibehalten. Es handelt sich ja um einen Roman, nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung.


    Auch wenn man eine „kritische Ausgabe“ von „Paradise Lost“ oder „Faust II“ machen würde, müsste man naürlich mit viel größerer Akribie vorgehen …


    Was die Flagge angeht … da könnte man wohl „einen ganzen Roman“ zu schreiben:
    https://de.wikipedia.org/wiki/…nstreit_Norwegen-Schweden


    Vielleicht hatte Verne die bei Wikipedia erwähnte Flagge von 1814 im Gedächtnis, die ja auf der dänischen basiert:
    https://de.wikipedia.org/wiki/…81814%E2%80%931821%29.svg


    (l’étamine rouge, avec la croix blanche: weißes Kreuz auf rotem Grund, s.o.)


    Von allzu großer Wichtigkeit ist diese Frage nach meinem Dafürhalten aber nicht. Schließlich ist der Fehler nur in der Manuskriptfassung vorhanden, in der endgültigen Fassung ist er korrigiert.

  • Ein paar Sachen ändere ich vielleicht noch. Vielleicht ist „Vestfjorddal“ letztlich doch besser als „Vestfjorddalen“. Aber „Telemarken“ werde ich wohl so lassen, das hört sich (mMn) auch hübsch „alterthümelnd“ an. (Vgl. hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Lofoten#Name )
    Saint-Pierre-Miquelon heißt eigentlich Saint-Pierre-et-Miquelon: https://de.wikipedia.org/wiki/Saint-Pierre_und_Miquelon
    (hatte ich zunächst gar nicht nachgeschaut).
    Im 14. Kap. ist noch eine kleine Lücke:
    – Et s’il le fallait, cependant !
    – Pourquoi le faudrait-il ? » demanda Joël.
    Dame Hansen ne répliqua rien.
    https://fr.wikisource.org/wiki/Un_billet_de_loterie/XIV
    Bei Hartleben fehlt dieses „… fragte Joel.“, da sieht es so aus, als würde Hulda das fragen:
    – Wenn es aber sein müßte?
    – Warum könnte es sein müssen, Mütterchen?«
    Frau Hansen gab keine Antwort.
    http://www.zeno.org/Literatur/…Lotterie-Loos/14.+Capitel

  • Hallo Stahlelefant:


    nix Altertümelndes. Das als Suffix angehängte [en] in Vestfjorddal[en] und Telemark[en] ist eigentlich der bestimmte Artikel im Norwegischen.
    Wir sagen "das/ die Telemark" und im Norwegischen wäre es eben Telemarken. Das hat mich beim Lesen des deutschen Lotterieloses aufgeregt, aber da ich es aus dem Norwegischen als normal empfinde, auch wieder nicht. Ich würde es in einer Übersetzung halt einfach herausnehmen, so wie du es richtig gemacht hast.

  • Danke für die Anmerkungen.

    Ich würde es in einer Übersetzung halt einfach herausnehmen, so wie du es richtig gemacht hast.

    Bis jetzt ja noch nicht … siehe oben.

    Das als Suffix angehängte [en] in Vestfjorddal[en] und Telemark[en] ist eigentlich der bestimmte Artikel im Norwegischen.
    Wir sagen "das/ die Telemark" und im Norwegischen wäre es eben Telemarken.

    Ja, das steht auch im Wikipedia-Artikel, auf den ich verlinkt hatte.

    Das hat mich beim Lesen des deutschen Lotterieloses aufgeregt, aber da ich es aus dem Norwegischen als normal empfinde, auch wieder nicht.

    Hm, wie ist denn da allgemein das Stimmungsbild? Also, soll ich wirklich alles auf den heutigen Stand bringen? Würdet ihr euch aufregen, wenn nicht? Mal abgesehen von den Namen ist natürlich klar, dass man nur Ausdrücke benutzen sollte, die der Leser von heute versteht, bzw. die Ausdrücke aus den alten Übersetzungen nur beibehalten sollte, wenn sie nicht total veraltet sind. Aber ab und zu mal ein etwas altertümelndes Wort, oder ein altertümelnd aussehender Name – das sollte doch nicht groß stören, oder täusche ich mich da?


  • Ja das hatte ich auch gefunden, aber dann anscheinend vergessen, hier zu posten.

  • Ich finde die "altertümlichen" Wörter auch nicht schlimm.

    Ah, gut. (Und ich hätte hier auch „altertümlich“ schreiben sollen, „altertümelnd“ passt in diesem Zusammenhang nicht so gut.)

    Viel wichtiger bei einer Neuherausgabe fände ich, die fehlenden oder echt entstellten Textpassagen einzufügen bzw. zu verbessern.

    Ist in Arbeit :) Wird aber noch eine Weile dauern, bis ich fertig bin.

  • Also mich stören weder" altertümliche" noch "altertümelnde" Wörter in einer Übersetzung.
    Wir reden hier über einen Klassiker der Literatur! Und dieser darf gerne auch den Charme eines Klassikers behalten. Bei einem zu modernen Stil würde dieser komplett verloren gehen, was ich als sehr schade empfinden würde.


    Ich lege ebenfalls viel größeren Wert auf eine vollständige und möglichst nahe am Original bleibende Übersetzung.

  • Ah, gut. (Und ich hätte hier auch „altertümlich“ schreiben sollen, „altertümelnd“ passt in diesem Zusammenhang nicht so gut.)

    Ist in Arbeit :) Wird aber noch eine Weile dauern, bis ich fertig bin.

    Und ich finde das Letztere am wichtigsten: Lass dir lieber Zeit mit der Bearbeitung. Denn WAS immer wieder nervt, sind schnellgestrickte Sachen.

  • Hier noch eine Lücke (oder hatte ich die schon erwähnt?):
    … mit dem skandinavischen Messer, dem »Dolknif«, mit dem der echte Norweger stets ausgerüstet ist.


    [Hier fehlt ein Absatz. In der Heichen-Fassung ist er enthalten:
    So würde es also, wie Joel meinte, an Arbeit für beide Teile wahrlich nicht fehlen, und die paar Wochen Zeit, wenn man bis zu Ole Kamps Rückkehr alles fertig haben wollte, würden wahrlich kaum dazu reichen! und wenn schließlich Ole um ein paar Tage früher käme, als er gesagt hätte, und Hulda noch nicht mit allem ganz fertig wäre, so würde sich Hulda deshalb wohl nicht beklagen und Ole gewiß auch nicht.]


    Unter derartigen Beschäftigungen verstrichen die letzten Wochen des April und die ersten des Mai. …


    http://www.zeno.org/Literatur/…+Lotterie-Loos/5.+Capitel


    Die Heichen-Fassung ist u.a. hier verfügbar:
    http://ebooks.qumran.org/opds/…ion=bookdetails&book=5376


    Original hier:
    https://fr.wikisource.org/wiki/Un_billet_de_loterie/V

  • 7. Kap.:
    Mußte er nicht auf die Vermuthung kommen, daß die Mutter sehr wichtige Gründe haben müsse, so zu handeln, wie sie es gethan hatte? [Or, quelles étaient ces raisons ? (etwa: Was waren das aber für Gründe?)] Und doch, was konnte sie mit jenem Sandgoïst zu thun haben?


    Doch hätte das junge Mädchen gegen Joël schweigen können? [Un secret pour lui ! (Heichen: Joel gegenüber sollte sie Dinge geheim halten?)] Eher schien es, als wenn ein Riß in dem Freundschaftsband entstände, das die beiden Geschwister von jeher vereinte.



    Manchmal fehlt ein (in den meisten Fällen verzichtbares) „sagte er“ oder „antwortete sie“ o.ä., so was braucht hier nicht aufgelistet zu werden, denke ich.


    Predantus: Bitte posten, wenn euch noch Lücken auffallen :)

  • Manchmal fehlen ja wirklich nur einzelne Worte, wie im 3. Kaptel bei der Beschreibung der Kleidung von Frau Hansen, wo bei Hartleben nur von einem "Leibchen" die Rede ist und die braune Farbe weggelassen wird, wobei das Wrt "Leibchen" ja nun auch nicht mehr so unbedingt gebräuchlich ist. Bei Weichert ist die Farbe vorhanden. Oder etwas später im gleichen Kapitel, wo bei der Beschreibung von Huldas Kleidung die Einfügung fehlt, dass das Mieder die Brüste fest einschließt und ihre Schuhe nach vorne spitz zulaufen. Beides übrigens auch bei Weichert enthalten.


    Und dann gibt es bei Hartleben immer wieder mal Sätze, die sehr viel blumiger als das Original daherkommen.

  • Die Rohfassung ist fertig, aber bei so einigen Kapiteln fehlt noch der Feinschliff, was dann auch immer noch mal eine ganze Weile in Anspruch nimmt. Hier erst mal noch ein weiterer Appetithappen:
    II


    Dal – das sind nur einige wenige Häuser, von denen die einen längs
    einer Straße stehen, die eigentlich nur ein Fußweg ist, und die anderen
    auf benachbarten Anhöhen zerstreut liegen. Sie wenden die vordere Seite
    dem engen Vestfjorddal, den Rücken der Reihe von hohen Hügeln im Norden
    zu, an deren Fuße entlang der Måna verläuft. Alle Gebäude zusammen
    würden in etwa einen der im Lande sehr häufigen Gårds bilden, wenn sie
    von einem einzigen Feldeigentümer oder einem Hofverwalter bewirtschaftet
    würden. Doch wenn diese Gesamtheit auch nicht die Bezeichnung Dorf
    beanspruchen kann, so verdient sie jedenfalls, ein Weiler genannt zu
    werden. Eine kleine, 1855 erbaute Kapelle, in deren Chorapsis zwei
    schmale Glasfenster eingelassen sind, erhebt in der Nähe durch das
    Baumgewirr ihren vierseitigen Glockenturm – alles in Holz. Da und dort
    sind über die zum Flüsschen laufenden Bäche einige kleine Brücken
    geschlagen, in Rauten gezimmert, deren Zwischenräume von bemoosten
    Steinen ausgefüllt sind. Ein Stück weiter hört man das Knarren von ein
    oder zwei sehr einfachen, durch Bergbäche getriebenen Sägemühlen, mit
    einem Mühlrad zur Bewegung der Säge und einem weiteren zur Fortschiebung
    der Balken oder der Planken. Aus kurzer Entfernung scheint das ganze,
    Kapelle, Sägemühlen, Häuser und Hütten, in einen weichen Hauch von Grün
    getaucht, hier dunkel durch Tannen, dort blaugrün durch Birken, der von
    diesen einzeln oder in Gruppen stehenden Bäumen ausgeht, die sich von
    den gewundenen Ufern des Måna bis zum Kamm der hohen Berge von
    Telemarken hochziehen.


    So zeigt sich der frische und heitere Weiler namens Dal, mit seinen
    malerischen, farbig angestrichenen Wohnstätten, von denen die einen
    zarte Farbtöne in Hellgrün oder Lichtrosa, die anderen schreiende Farben
    wie knalliges Gelb oder Blutrot zeigen. Ihre mit Birkenrinde gedeckten
    Dächer, überzogen mit frischgrünem Rasen, den man im Herbst abmäht, sind
    mit Wiesenblumen geschmückt. Alles das ist äußerst reizend und gehört
    zum bezauberndsten Lande der Welt. Kurz, Dal liegt eben in Telemarken,
    Telemarken in Norwegen, und Norwegen, das ist das gleiche wie die
    Schweiz – aber mit mehreren tausend Fjorden, welche dem Meere gestatten,
    an den Fuß seiner Berge zu branden.


    Telemarken liegt in jenem breiten, abgerundeten Horn, das Norwegen
    zwischen Bergen und Christiania bildet. Dieser zu dem Amte Bratsberg
    gehörige Gerichtsbezirk hat Berge und Gletscher wie die Schweiz, aber er
    ist nicht die Schweiz; er hat großartige Wasserfälle wie Nordamerika,
    aber er ist nicht Amerika; er hat Landschaften mit angestrichenen
    Häusern und gelegentlichen Umzügen der mit Trachten aus vergangenen
    Zeiten bekleideten Einwohner, wie manche Ortschaften Hollands, aber er
    ist auch nicht Holland. Telemarken ist schöner als diese alle, es ist
    einfach Telemarken, eine durch die natürlichen Schönheiten, die sie
    umfasst, vielleicht in der ganzen Welt einzig dastehende Landschaft. Der
    Verfasser hat das Vergnügen gehabt, sie zu besuchen. Er hat sie auf
    Schusskarren durchstreift, deren Pferd an den Relaisstationen gewechselt
    wurde – wenn denn eines zu haben war – und davon bezaubernde und
    poetische Eindrücke mit heimgenommen, die noch heute so lebhaft in
    seiner Erinnerung sind, dass er versuchen will, dieser einfachen
    Erzählung einen Anflug davon zu verleihen.


    Zur Zeit, wo diese Geschichte spielt – im Jahre 1862 – war Norwegen
    noch nicht von der Eisenbahn durchzogen, welche es heute gestattet, von
    Stockholm über Christiania bis nach Drontheim zu reisen. Jetzt ist ein
    ungeheures Schienenband ausgespannt zwischen den beiden skandinavischen
    Ländern, die so wenig Neigung zeigen, ein gemeinschaftliches Leben zu
    führen. Doch im Waggon der Eisenbahn eingeschlossen verpasst der
    Reisende, während er schneller als früher mittels Schusskarren
    dahinfährt, die besonderen Aussichten, die die alten Wege boten. Ihm
    entgeht die Fahrt durch den Süden Schwedens auf dem sehenswerten
    Göta-Kanal, dessen Dampfboote, von Schleuse zu Schleuse gehoben, eine
    Höhe von 300 Fuß ersteigen. Und schließlich macht er weder bei den
    berühmten Trollhättan-Fällen Halt, noch in Drammen oder Kongsberg, oder
    bei den vielen anderen wunderbaren Orten von Telemarken.


    Jener Zeit war also die Eisenbahn erst geplant. Noch etwa zwanzig
    Jahre sollten vergehen, ehe man das skandinavische Königreich von einer
    Küste zur anderen in nur vierzig Stunden durchqueren und auch zum
    Nordkap gelangen konnte, mitsamt Rückfahrkarte nach Spitzbergen.


    Dal war nun damals – und möge es noch lange bleiben! – der zentrale
    Punkt, der die fremden oder einheimischen Touristen hauptsächlich
    anlockte, letztere übrigens meist Studenten aus Christiania. Von hier
    können dieselben sich leicht über ganz Telemarken und den Hardanger
    zerstreuen, das Vestfjorddal zwischen dem Møsvatn und dem Tinn-See
    erkunden und sich dabei die herrlichen Wasserfälle des Rjukan anschauen.
    In jenem Weiler findet sich freilich nur ein Gasthaus; aber dieses ist
    so anziehend, so hübsch und bequem, wie man sich ein solches nur
    wünschen kann, und es ist die geräumigste Herberge am Platz, denn den
    Reisenden stehen hier vier Zimmer zur Verfügung – mit einem Wort, es ist
    das Haus der Frau Hansen.


    Einige Bänke laufen um den unteren Teil seiner hellrosa Wände, die
    vom Erdboden durch eine feste Grundmauer aus Granit geschieden sind. Die
    tannenen Balken und Planken der Wände haben im Laufe der Zeit eine
    solche Härte angenommen, dass eine stählerne Axt daran stumpf werden
    würde. Zwischen diesen nur grob vierkantig zugehauenen, waagerecht
    übereinander gelagerten Balken füllt mit Lehm vermengtes Moos die Fugen
    wasserdicht aus, so dass selbst vom heftigsten Winterregen nichts nach
    innen gelangt.


    In den Zimmern ist die Sparrendecke rot und schwarz gemalt und
    sticht damit stark ab gegen die gedeckteren und heitereren Farben der
    Wandvertäfelung. In einer Ecke der großen Stube steht der runde Ofen,
    dessen Rohr in den Rauchabzug über dem Küchenherd mündet. Hier wieder
    bewegt die große Kastenuhr ihre schön gearbeiteten und spitz zulaufenden
    Zeiger über ein großes Emaillezifferblatt und lässt von Sekunde zu
    Sekunde ein lautes Tick-Tack hören. Dort steht der alte, oben runde
    Sekretär mit braunen Zierleisten neben einem eisengrau angestrichenen,
    massiven, dreibeinigen Tisch. Auf einem Untersetzer prangt ein Leuchter
    aus gebranntem Ton, der, wenn man ihn umdreht, einen dreiarmigen
    Kandelaber darstellt. Die schönsten Möbel des Hauses zieren diesen
    Raum: – der Tisch aus Birkenwurzel mit gewölbten Füßen, die große Truhe,
    deren Beschläge mit verschiedenen Szenen verziert sind und in der sich
    die Sonn- und Festtagskleidung befindet, der große hölzerne Lehnstuhl,
    der so hart wie ein Chorstuhl in der Kirche ist, die anderen Stühle aus
    farbenfroh bemaltem Holz; das rustikale Spinnrad, dessen Verzierungen in
    verschiedenen Grüntönen lebhaft mit den roten Röcken der Spinnerinnen
    kontrastieren. Ferner der Topf zur Aufbewahrung der Butter und der zum
    Eindrücken derselben gebrauchte Wälzer, sowie die Tabaksdose und die aus
    einem Knochen geschnitzte Reibe. Über der zur Küche hin offenen Tür
    endlich blinken auf breitem Gestelle die Reihen von Kupfer- und
    Zinngeschirr neben Tellern und Schüsseln, glänzend emailliert oder aus
    Fayence oder Holz, der kleine Schleifstein, der halb in seinem
    gefirnissten Behälter verschwindet, welcher einem Schneckenhause
    gleicht, und der alte und ehrwürdige Eierbecher, der nötigenfalls als
    Kelch dienen könnte; dazu noch die das Auge des Betrachters erfreuenden
    Wände, welche mit Stickereien in Leinwand bedeckt sind, die Szenen aus
    der Bibel wiedergeben, in allen bunten und leuchtenden Farben, die man
    auf den Bilderbogen aus Épinal findet! Die Zimmer für Reisende sind zwar
    einfacher in der Ausstattung, doch nichtsdestoweniger sehr wohnlich mit
    ihren schmucken, gepflegten Möbeln, mit dem Vorhang aus frischem Grün
    vor den Fenstern, der von der Kante des Sodendaches herabhängt, mit dem
    breiten Bett und dessen weißem Laken und dem frischen Deckbett aus Åklæde-Stoff, wie mit der Wandtäfelung, auf der, gelb auf rotem Grunde, Bibelsprüche aus dem alten Testament geschrieben stehen.

  • Unerwähnt darf hierbei auch nicht bleiben, dass die Dielen der großen
    Stube, wie die aller Zimmer des Erdgeschosses und des ersten
    Stockwerks, mit Birken-, Tannen- und Wacholderzweigen bestreut sind,
    deren Blätter und Nadeln das ganze Haus mit erfrischendem Wohlgeruch
    erfüllen.


    Könnte sich wohl jemand eine bezauberndere Posada in Italien, eine
    reizendere Fonda in Spanien vorstellen? Gewiss nicht! Und hier hat der
    Schwall englischer Touristen – wenigstens zur Zeit, wo unsere Erzählung
    spielt – noch nicht wie in der Schweiz die Preise in die Höhe schnellen
    lassen. In Dal wird die Börse des Reisenden nicht gleich um Pfunde
    Sterling in Silber und Gold erleichtert, hier bezahlt man mit dem
    silbernen Speciedaler (Speciesthaler), im Wert von gut fünf Franc, und
    seinen Unterteilungen, die Mark im Wert von einem Franc und der
    Kupfer-Skilling, den man ja nicht mit dem britischen Shilling
    verwechseln darf, denn jener entspricht nur einem französischen Sou.1 Ebenso wenig sind es stolze bank notes, welche der Tourist in Telemarken ausgibt oder auch verschwendet. Hier
    sieht man den 1-Species-Schein von weißer Farbe, den 5-Species- (blau),
    den 10-Species- (gelb), den 50-Species (grün) und den 100-Species-Schein
    (rot). Es fehlen also nur zwei, sonst wären alle sieben
    Regenbogenfarben vertreten!


    Ferner – und damit bietet dieses gastliche Haus einen weiteren
    beachtenswerten Vorzug – ist Speise und Trank hier vortrefflich, was man
    von den anderen Gasthäusern der Region meist nicht sagen kann.
    Telemarken rechtfertigt nämlich nur zu sehr den ihm beigelegten Namen
    des „Landes der geronnenen Milch“. Weit draußen, in Nestern wie Tinnes,
    Lysthus, Tinnoset und an vielen anderen Orten, gibt es kein Brot oder
    doch nur so schlechtes, dass man besser ganz davon absieht; nichts als
    eine Art Hafermehlscheiben, das trockene, schwarzbraune und wie steife
    Pappe harte Flatbrød, oder einfach eine Art groben Gebäcks, dem
    Bastfasern von Birkenrinde, gemischt mit Flechten und Häcksel, zugesetzt
    sind. Nur selten findet man Eier, außer vielleicht solche, die schon
    acht Tage zuvor gelegt wurden; in Überfluss dagegen ein minderwertiges
    Bier, süße und saure geronnene Milch (Filbunke) und zuweilen
    etwas Kaffee, dieser aber ist so dick, dass er mehr destilliertem Ruß
    als den Erzeugnissen aus Mokka, von Bourbon oder vom Rio Nuñez ähnelt.


    Bei Frau Hansen dagegen sind Küche und Keller angemessen versorgt,
    so dass auch verwöhnte Touristen keine Ursache zur Klage haben. Hier
    gibt es gekochten, eingesalzenen und geräucherten Lachs, Harren,
    das sind Binnensee-Lachse, welche niemals im Salzwasser gewesen sind;
    Fische aus den Bächen und Flüssen Telemarkens, weder zu zähes, noch zu
    mageres Geflügel, auf alle möglichen Arten zubereitete Eier,
    wohlschmeckende Plätzchen aus Roggen- und Gerstenmehl, Obst, besonders
    Erdbeeren, Graubrot von seltener Güte, Bier und abgelagerte Flaschen mit
    schönem Saint-Julien, der den guten Ruf der Gewächse Frankreichs bis in
    diese entlegenen Gegenden verbreitet.


    In allen Gegenden des nördlichen Europa steht die Gjestgiveri von Dal denn auch in bestem Ansehen.


    Das erkennt man auch sehr leicht beim Durchblättern des großen
    Buches mit vergilbtem Papier, in das die Reisenden gern einige
    Lobsprüche für Frau Hansen eintragen, die sie mit ihrem Namen
    unterzeichnen; in der Mehrzahl sind das Schweden und Norweger, die aus
    allen Teilen Skandinaviens herkommen.


    Indes finden sich auch viele Engländer darunter, und einer
    derselben, der tatsächlich mal eine Stunde hatte warten müssen, um den
    Nebel um den Gipfel des Gausta sich auflösen zu sehen, hatte als echter
    Sohn Albions auf eine jener Seiten geschrieben:




    Patientia omnia vincit.2



    Auch einige Franzosen haben sich eingetragen, von denen einer, der hier besser ungenannt bleibt, sich zu schreiben erlaubte:


    « Nous n’avons qu’à nous louer de la réception qu’on nous a « fait » dans cette auberge ! »3


    „Wir haben uns nur lobend auszusprechen über die Aufnahme, die man uns in dieser Herberge ›gemacht‹ hat!“


    Auf den grammatischen Fehler kommt hierbei ja nicht viel an. Wenn
    die Worte mehr lobend als französisch sind, so enthalten sie doch
    nichtsdestoweniger eine herzlich gemeinte Anerkennung für Frau Hansen
    und ihre Tochter, die bezaubernde Hulda des Vestfjorddals.




    Fußnoten


    Neuerdings –
    seit 1875 – ist in den drei skandinavischen Ländern die Goldwährung
    eingeführt und die Krone (112 1/2 deutsche Pfennige) Münzeinheit
    geworden. (Anmerkung des (anonymen) Übersetzers der deutschen
    Erstausgabe.)


    „Geduld überwindet alles.“


    Richtig
    wäre « faite » gewesen, da « réception » ein Femininum ist. Man könnte
    noch erwähnen, dass hier vielleicht auch nur ein einfacher Schreibfehler
    vorliegt …