puritanisches Hartleben

  • Wenngleich ein paar wenige alten Verne-Exemplare den Weg in mein Regal fanden, bin ich ja nun kein Sammler dieser Ausgaben. Vor einiger Zeit wollte ich wissen, wie 'In 80 Tagen um die Welt' in der Hartleben-Ausgabe übersetzt war und stieß dabei in einer Stadtbücherei auf einen Neusatz des Buches, der nach der alten Übersetzung editiert worden sein sollte. Dabei stellte ich überrascht fest, daß die Beschreibung einer indischen Frauenschönheit komplett fehlte. Allerdings konnte ich mir nicht hundertprozentig sicher sein, wo da die Schere angesetzt wurde, schon bei Hartleben oder erst beim Nachdruck. Die Werke-CD hat die Frage gelöst, offensichtlich empfand man die folgende, der Diogens Übersetzung entnommende Textpassage, als nicht ganz jugendfrei:


    Der Dichterfürst Uçaf Uddaul drückte sich zum Lobe der Anmut seiner Königin von Ahméhnagara etwa so aus: "Ihr leuchtenes Haar, das regelmäßige gescheitelte, umrahmt die harmonischen Linien ihrer zartweißen Wangen, die glänzend und frisch sich zeigen. Ihre ebenholzfarbenen Brauen zeigen die Form und Kraft Kamas, des Gottes der Liebe, und durch die langen seidenen Wimpern leuchtet die schwarze Pupille ihrer großen feuchten Augen (so, als blicke man in die heiligen Seen des Himalaja) der reine Widerschein himmlischen Lichtes. Fein, ebenmäßig und weiß leuchten ihre Zähne zwischen lächelnden Lippen, wie rosafarbene Tropfen im halbgeöffneten Kelch einer Granatblüte. Ihre reizenden Ohren, die rosigen Hände, ihre winzigen Füßchen, gewölbt und zart wie Lotosknospen, sie leuchten stärker als die schönsten Perlen von Ceylon, stärker als die herrlichsten Diamanten von Colconda. Ihre schmale, biegsame Taille, die man mit einer Hand umspannen könnte, erhöht noch den Reiz ihrer runden Schenkel und des vollen Busens, wo die blühende Jugend ihre vollkommensten Schätze bereithält, und unter den seidig fallenden Falten ihres Gewandes scheint sie aus lötigem Silber geformt zu sein, von der göttlichen Hand Vicvacarmas, des unsterblichen Bildhauers.


    Ist dererlei Zensur eigentlich häufig bei Hartleben vorgekommen? Von der 'Reise von Rotterdanm nach Kopenhagen' (als Zusatztext in der 2001-Ausgabe der 'Schule der Robinsons'), weiß ich etwa, daß in der Hartleben-Übersetzung an einigen Stellen - um eas vorsichtig zu formulieren - 'Umdeutungen' hinsichtlich der 'Reseviertheit' Vernes gegenüber den Deutschen vorgenommen worden sind.


    Viele Grüße,
    Thosch

  • Hier noch ein kleines Beispiel für die zeitgenössische Prüderie aus 'Reise um die Erde in 80 Tagen'. Während die Hartleben-Ausgabe Passepartout nur etwas vorstehenden Lippen zubilligt, liest man bei Diogenes vollständig: Seine Lippen waren leicht aufgeworfen, stets bereit zu kosen oder zu küssen


    Es gibt da aber auch seltsame Namenswechsel, so etwa zu Walter Ralph (Hartleben) statt Couthier Ralph (Diogenes). Aber ebenso jenseits von Namensänderungen oder Zensur in Liebesangelegenheiten ist es faszinierend zu lesen, wie unterschiedlich derselbe Text übersetzt werden kann. Darüber hinaus sind bei Hartleben z.B. auch noch mehr francophile Ausdrücke vorhanden, deren Sinn sich manchmal für den des Französisch Un- oder wenigstens Halbkundigen jedenfalls nicht immer gleich erschließt. Wer weiß etwa schon, was ein 'honnettester' Mensch ist? Oder daß ein Lapin ein Kaninchen ist? Daß freilich ein Lapin von den Schilfwiesen (Hartleben) ein Kaninchen aus dem Dschungel (Diogenes) sein soll, daß also der Dschungel eine Schilfwiese sei, ist dann doch wohl eher eine freie Interpretation von einem der beiden Übersetzer.


    PS: Ein 'honnettester' Mensch ist ein hochanständiger Mensch (vgl. auch 'honorabel')