Architektur poetischer Luftschlösser

  • Der Stall von Bethlehem, der Turm zu Babel, Pippi Langstrumpfs Villa Kunterbunt – schon in der Kindheit eines jeden Menschen prägen sich Bauten aus Bibel, Märchen oder Erzählungen ein. Figuren oder Vorgänge tauchen in einem auf, wenn die Bezeichnungen Alexanderplatz oder Dornröschenschloss fallen. Handlungen werden mit Gebäuden verknüpft, da das Gedächtnis ortsbezogen strukturiert ist. Architektur existiert in besonderem Maße als Illusion in der Dichtung; sie stellt sogar einen wesentlichen Bestandteil der Weltliteratur dar. Exemplarisch angeführt seien die havelländischen Güter in den Romanen Theodor Fontanes oder Victor Hugos „Glöckner von Notre-Dame“, in dem eine Person mit einem Bauwerk quasi verschmilzt. Andererseits durchziehen eine Fülle von Architekturmotiven als Metaphern und Symbole das Schrifttum, man denke etwa an das Schloss als Macht- und Herrschaftssymbol bei Franz Kafka, den Turm als Zeichen der Isolation in Schriften Hugo von Hofmannsthals oder Wolfgang Koeppens „Das Treibhaus“ als Sinnbild für abgeschottete politische Zirkel.


    Erstmals bringt nun eine Ausstellung des Architekturmuseums der TU München in der Pinakothek der Moderne die fiktiven Räume aus den Köpfen in eine präsentable Form. Unter den über 400 Objekten, darunter rund 100 Leihgaben, sollen 150 Werke aus der Weltliteratur zum Lesen anregen. Doch die vor blauen Wänden ausgebreiteten Modelle, Zeichnungen, Skizzen, Gemälde, Skulpturen oder Simulationen entbehren jedweder Fadheit, ganz im Gegenteil. Der Besucher erlebt ein Feuerwerk der Fantasie, das Literaten, Künstler und Architekten aus Erfundenem oder Erträumten entfachen, bis hin zur Einmündung des Hypothetischen in die reale Architektur.


    Zu den besonderen Höhepunkten zählen die erstmals gezeigten Skizzen Umberto Ecos für den Roman „Der Name der Rose“, die Originale der belgischen Künstler François Schuiten und Benoît Peeters für die Comic-Serie „Geheimnisvolle Städte“ oder Karl Friedrich Schinkels Gemälde „Die Stadt am Strom“ aus der Alten Nationalgalerie in Berlin, das aus einem künstlerischem Wettstreit des Architekten mit dem Dichter Clemens Brentano entstand.


    Fußend auf den Erkenntnissen, die in einschlägigen Seminaren zum Thema gewonnen wurden, gliedert sich die Präsentation in acht Abteilungen. Den Auftakt bilden legendäre und sagenumwobene Orte. Die Auswahl erstreckt sich von der Vielzahl in der Bibel genannter Handlungsplätze wie dem Salomonischen Tempel oder das Himmlische Jerusalem über das von Daidalos entworfene kretische Labyrinth, dessen Mystik sich Johann Bernhard Fischer von Erlach 1725 in einem Entwurf nähert, bis hin zu den Gralstempeln sagenhafter Märchenburgen. Dabei umschreiben der „große Palast“ und die „enge Kammer“ die soziale Stellung der Handelnden, „verzauberte Gärten“ oder „abgeschlossene Räume“ stehen für Geheimnisse, Ängste, überirdische Kräfte. Jede Epoche interpretiert die literarischen Bildwelten im jeweiligen Zeitgeist neu und entwickelt andersartige Fantasiearchitekturen.


    Am Anfang des zweiten Abschnitt „Handlungsräume und Tatorte“ steht die 1499 erschienene Erzählung „Hypnerotomachia Poliphili“, die die Renaissancearchitektur spiegelt. Hier wird erstmals eine bauliche Anlage genau beschrieben, die zugleich eine bedeutende Rolle in einer Handlung besitzt. In den Schauerromanen des 18. Jahrhunderts kommt dann der düsteren gotischen Architektur die Rolle als wesentlicher, die Handlung tragender Teil zu. Im 19. und 20. Jahrhundert nehmen Bauten Einfluss auf die Personen der Handlung und können deren Charakter bestimmen. Hier begegnet man unter anderem Theodor Fischers Interpretationen des Rosenhauses aus Adalbert Stifters Roman „Der Nachsommer“, das gruselerregende Schloss des Vampirs Dracula bis hin zum absolut vollkommenen Wohnkegel aus Thomas Bernhards Roman „Korrektur“ aus dem Jahr 1975, der seine schneidende Kritik an der geometrisch puristischen Moderne untermauern soll.


    Im Abschnitt der „Architextur“ sind barocke Buchstabenarchitekturen zu bewundern, eine seinerzeit besonders beliebte Demonstration virtuoser Gestaltungskraft, bei der sich Grund- und Aufrisse aus den Buchstaben des Alphabets entwickeln. Sie wollen bildhaft Wissens- und Ordnungssysteme vermitteln. Romantisch wird es da, wo die Architektur in Dichtung aufgeht. Weltberühmt ist die zwischen 1840 bis 1842 bei Reutlingen in Anlehnung an Wilhelm Hauffs Historienroman „Lichtenstein“ errichtete gleichnamige Burg nach Plänen des Konservators Carl Alexander Heideloff, heute eine Touristenattraktion ersten Ranges. Wie sehr die kristallinen Bauten Bruno Tauts und der gläsernen Kette in Paul Scheerbarts Romanen und anderen Werken lange vorgedacht waren, belegt dieser mit „Dichtung wird Architektur“ überschriebene Teil ebenso eindrucksvoll wie die von Émile Zolas Roman inspirierte „Cité industrielle“ eines Tony Garnier oder den von Giuseppe Terragni konzipierten Gang durch Dante Alighieris „Göttliche Komödie“. Dass es auch heute noch poetische Architekten gibt, zeigen die „Häuser für ein Gedicht“ von Peter Zumthor.


    Immer wieder haben Architekten versucht, beschriebene, nicht mehr existente Bauten zeichnerisch festzuhalten. Besonders bei den in diesem Kapitel vorgestellten Projekten zeigt sich, wie der jeweils vorherrschende Wissenstand bei den Rekonstruktionsversuchen einfließt. Das herausgehobene Lehrbeispiel des 18. Jahrhunderts stellt die Villa des Plinius dar, von der sich Karl Friedrich Schinkel ebenso beflügeln ließ wie seine Schüler Wilhelm Stier oder Friedrich Weinbrenner. Beeindruckende Zeichnungen des Letztgenannten beschäftigen sich auch mit dem Aussehen des Mausoleums von Halikarnassos oder des in antiken Traktaten überlieferten Bades des Hippias’.


    Visionen künftiger Bauten und Städte, reale Architekturen, imaginäre Welten aller Zeiten sowie Fantasieentwürfe wie „Entenhausen“ finden sich im Comic, wo sich Bild und Text gegenseitig bedingen und verstärken. Im anschließenden Kapitel wird die „Zeichnung des Dichters“ untersucht. Der Orientierungshilfe, der eigenen Vergewisserung oder auch der Werksillustration dienen Zeichnungen etwa von Thomas Mann zum Buddenbrook-Haus oder die ausklappbaren Raumbilder aus Anna Seghers’ „Tiffelbücher“.


    Abschließend wird es kosmisch-ideal. Wie von der Antike bis heute Entwürfe und Visionen idealer Gesellschaftsformen mit fiktiven, geometrisch organisierten Stadtanlagen verknüpft werden, dafür stehen Platons „Atlantis“, Thomas Morus „Utopia“ oder die im Nachhinein zur Utopie erklärte und realisierte Saline von Chaux von Claude-Nicolas Ledoux. Wie kosmische Strukturen schweben im letzten Saal runde Modellplattformen über den Besuchern, darunter auch die Propellerinsel von Jules Verne.


    Der spannend und vielseitig inszenierte Parcours vermittelt auf lebendige Art instruktive Einsichten in die Genese vieler geläufiger wie ungeläufiger Architekturen, die sich auf dichterische Fantasie gründen. Die in der Präsentation arrangierten Wechselspiele zwischen Literatur und Architektur vermitteln konkret greifbar einen zunächst trocken anmutenden Spezialbereich der Baukunst. Nicht nur die exzellenten, vielgestaltigen Exponate, sondern auch der enorme Erkenntnisgewinn aus dieser Schau lassen einen Rundgang zu einem vortrefflichen Genuss werden.


    Die Ausstellung „Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur“ ist noch bis zum 11. März in der Pinakothek der Moderne zu besichtigen. Geöffnet ist täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, donnerstags und freitags bis 20 Uhr. Der Eintritt beträgt 9,50 Euro, ermäßigt 6 Euro und an Sonntagen 1 Euro. Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog mit 568 Seiten und 380 farbigen Abbildungen erschienen, der im Museumsshop für 39 Euro erhältlich ist.


    Pinakothek der Moderne
    Barerstraße 40
    D-80333 München


    Kontakt:


    Architekturmuseum der Technischen Universität München


    Arcisstraße 21


    DE-80333 München


    Telefon:+49 (089) 289 224 93

    Telefax:+49 (089) 289 283 33



    E-Mail: archmus@lrz.tum.de

    Startseite: www.architekturmuseum.de

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    Jules Verne, Die Propellerinsel



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