Ein Drama in den Lüften

  • Ich schreibe es mal hier hin, auch wenn es nur teilweise um den Text von Verne selbst geht.


    Wie ja sicherlich einige von euch schon wissen, bin ich trotz der kleinen Buchveröffentlichung im letzten September, fleißig am Weitersuchen, um weitere Fassungen nach Vernes „Ein Drama in den Lüften“ zu finden. Und mittlerweile liegen mir sogar schon drei weitere Texte vor. Eine davon, die ich erst gestern bekommen habe, ist ein echter Hammer, doch dazu weiter unten mehr.


    Wer das Buch hat, der weiß, dass ich eine Geschichte ausgespart habe, da ich dort die Urheberschaft nicht klären konnte. Das war die Geschichte „Eine gefährliche Luftreise“ von einem gewissen Fritz Reutter.
    Leider habe ich über den Autor noch immer nichts Verwertbares gefunden, sodass ich sie wohl auch in einer aktualisierten Auflage nicht verwenden kann. Aber dank Wolfgang Thadewald weiß ich, dass der Text auch schon einmal im Jahr 1902 unter dem Titel „Zwischen Himmel und Erde. Eine Ballonfahrt wider Willen“ ohne Autorenangabe abgedruckt worden ist. Beide Versionen unterscheiden sich ansonsten nur durch die Namen der handelnden Personen.


    Ebenfalls durch Wolfgang Thadewald bekam ich auch neuere Informationen zur anonymen Erzählung „Eine grausige Luftfahrt“, die ja in der Karl-May-Szene als möglicher Karl-May-Text galt. Durch diese Information, die auch bei den Karl-May-Leuten schon Interesse geweckt hat, geht es ebenfalls um einen früheren Abdruck, der es nahezu unmöglich macht, dass May sie geschrieben hat.


    Nun zu den oben erwähnten drei neu aufgefundenen Erzählungen. Eine davon habe ich wieder von Wolfgang Thadewald bekommen, die vielleicht erst auf den zweiten oder dritten Blick ihre ideelle Verwandtschaft zum Ursprungstext offenbart.


    Die beiden weiteren Texte habe ich selbst gefunden. Eine davon in einer Publikation, der ich schon eine Erzählung entnommen hatte. Dass noch eine weitere vorhanden war, hätte ich nicht erwartet. Diesmal ist eine Frau die Heldin, die sich eines verrückt gewordenen, verschmähten Liebhabers erwehren muss, der sie mit einem Ballon entführt.


    Und nun zu meiner jüngsten Entdeckung, die ich ja oben schon erwähnt habe. Inhaltlich ist sie nicht wirklich hervorstechend. Sie beginnt wie bei Verne, nur die Beweggründe des Verrückten variieren mal wieder, und das Ende ist ein wenig gewöhnungsbedürftig. Viel interessanter ist das Erscheinungsjahr, denn die Erzählung erschien im September 1842 in einer deutschsprachigen Zeitschrift aus Pest und ist damit älter als Vernes „Drama in den Lüften“. Dies wirft nun die Frage auf, durch welchen Text wohl Verne zu seiner Fassung inspiriert wurde. Es dürfte also sicherlich noch weitere ältere Fassungen zu entdecken geben; sicherlich auch in Frankreich.


    Ich werde jedenfalls noch mindestens ein Jahr weiter suchen und dann mal sehen, ob sich vielleicht noch mehr finden lässt und ob ich dann eine zweite, erweiterte Auflage veröffentlichen werde. Die Chancen für eine solche Auflage stehen im Moment nicht schlecht. Wer also weitere noch weitere Fassungen kennt, vielleicht auch fremdsprachige, kann mir das gerne mitteilen. Eine oder zwei Übersetzungen wären vielleicht auch noch drin, wenn die Texte nicht zu lang sind. Ich weiß, es gibt noch den „Meschuggenen“ (habe jetzt den ganzen Titel nicht im Kopf) in der Sammlung von Wolfgang Thadewald, aber da ist wieder über den namentlich genannten Autor nichts zu finden, und wenn ich es recht verstanden habe, dann ist der Text jiddisch und in hebräischen Schriftzeichen gesetzt.


    Ich finde das ganze also weiterhin sehr spannend.

  • Moin,


    in der Tat, interessant.


    Ich hege zwar einen erheblichen Zweifel an der Überlegung, daß Jules Verne seinen Text möglicherweise ebenfalls nach einer älteren Vorlage abgefasst hat, aber ausschließen kann man das natürlich auch nicht.
    Umgekehrt muß nicht jeder spätere Text ähnlicher Art auf der Vorlage von Vernes Text beruhen.


    Mir scheint fast eher, daß in jenen frühen Jahren der Ballonfahrt der Aspekt "verrückt" und "fliegen" in einem Zusammenhang gesetzt wurde, denn nachdem der Mensch in seinem Werdegang nie dazu in der Lage war und es nun mit einem mal doch machbar war, das scheint Vielen über den Verstand gegangen zu sein...


    Man bedenke wie stark bei vielen Ballonfahrttexten jener Zeit, auch und gerade von JV, immer wieder der Sachverhalt betont wurde, wie "erfahren" der jeweilige Luftfahrer in seinem Metier sei - und somit wie gering die Gefahr anzusehen ist, mit einem solch erfahrenen Mann sich in dieses Wagnis einer Luftfahrt einzulassen.
    Würden wir heute vor jedem Flug uns von den "Qualitäten" des Piloten überzeugen wollen, würde der Vorlauf, einen Flug zu buchen, erheblich länger und aufwendiger sein. Es müsste jeder die Vita des für den jeweiligen Flug eingeplanten Piloten studieren und sich möglichst unabhängig über andere Stellen vergewissern, daß dieser Pilot erfahren und vertrauenswürdig genug erscheint, so daß man ihm sein Leben anvertrauen kann...
    Es mutet fast wie eine Angst jener Zeit an, es könne ein Verrückter trotz der guten Qualitäten des jeweiligen Ballonfahrers den Flug gefährden, und es scheint ein literarischer Leckerbissen gewesen zu sein, dieses Szenario aufzugreifen.


    Ich habe zwar eines der seltenen Exemplare von Nadars eigenem Buch über seinen "Géant", allerdings nie gelesen. Es wäre interessant zu wissen, ob er als Ballonfahrer selbst dieses Thema aufgegriffen hat, um damit evtl. den Ängsten seiner Zeitgenossen zu begegnen? Möglicherweise kann Volker etwas dazu sagen, er hat Nadars Buch ebenfalls, ob allerdings gelesen weiß ich nicht...


    Möglicherweise muß man die Suche vom anderen Ende her aufrollen, nämlich von den Anfängen der Brüder Montgolfier her, was da so literarisch erstmalig aufbereitet wurde und enthält. Vielleicht stolpert man dann bereits schon früh über einen ähnlichen Text, der dann als Urfassung dieses literarischen Motivs gelten kann, und von dem dann theoretisch alle abgeschrieben haben ;-)


    LG


    Bernhard

    :seemann: :baer:


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    I love you, you love me, ja wo lawe ma denn hi??

  • Interessante Entdeckungen von Predantus, und Kompliment für deine Hartnäckigkeit. Es bestehen gute Aussichten, noch weitere Texte dieser Art zu finden, und ich teile Bernhards Begründung dafür. Allerdings ist das Thema "ein Wahnsinniger im Ballon" keine reine Fiktion, sondern hat sein(e) Pendant(s) in der Wirklichkeit, das oder die auch Jules Verne auch zum Vorbild hat nehmen können. Soweit mir bekannt, ist dieses Modell aber noch nicht identifiziert, der Verne-Biograph Charles-Noel Martin erwähnt es in einer seiner beiden Biografien und verweist auf eine Geschichte der Ballonfahrt, die allerdings NACH Vernes Geschichte erschienen ist; was aber natürlich nicht ausschließt, dass das Ereignis VORHER stattgefunden hat. ich schaue mal nach und melde mich wieder, wenn ich ein brauchbares Ergebnis gefunden haben sollte.

  • Ich kann jetzt präziser werden: Zugestoßen ist das Abenteuer dem englischen Ballonfahrer Charles Green (1785-1870), und zwar laut englischer Wikipedia im Jahr 1822. Nacherzählt wird das u.a. in La Navigation aérienne von J. Lecornu (1903), S. 162 (auf Gallica abrufbar). Man kann davon ausgehen, dass Verne auf eine andere Schilderung dieses Ereignisses in einer noch unbekannten Quelle gestoßen ist; möglicherweise liegt dann auch kein Plagiat seiner Erzählung vor, sondern einfach andere Variationen des ursprünglichen Ereignisses.


    Beste Grüße,

  • Ich habe in meinen Büchern noch zwei frühere Wiedergaben der Green-Geschichte gefunden:


    Sircors & Pallier: Histoire des ballons et des ascensions célèbres (1876), S. 335. Hier wird sie indirekt mal auf 1847, mal auf 1836 datiert.


    Louis Figuier: Les Merveilles de la science, Bd. 2 (1868), S. 555-556. Beide Bücher ebenfalls auf Gallica.


    Beide Fassungen ähneln sehr der von Lecornu, bis in Formulierungen hinein, und es steht zu vermuten, dass sie alle auf eine oder mehrere frühere Quellen zurückgehen. Da Green damals der berühmteste englische Ballonfahrer gewesen ist, kann man davon ausgehen, dass sein Erlebnis international Beachtung gefunden hat. Und in der Folge haben alle voneinander abgeschrieben, so wie heute im Internet...

  • Wenn ich auch mit fabulieren darf:
    Es gibt ein frz. Werk: Les Ballons et les voyages aériens von Fulgence Marion. Das stimmt verblüffend bzgl. Erzählreihenfolge mit Un drame dans les airs überein. Zum Beispiel die Aufzählung der verschiedenen Unfälle bei Verne mit dem Kapitel Necrologie bei Marion. Der Haken ist leider der, das Buch erst 1867 erschien. Aber vielleicht haben beide eine noch ältere gemeinsame Quelle?
    LG
    Norbert
    PS: Die Quelle nur bei dem einen Vorfall von Charles Green zu suchen, ist mir nicht ganz geheuer ?(

  • Ohne weitere Detailkenntnis der Quellen teile ich die Meinung, dass die Geschichte Vernes auf externe Materialien bezug nahm.


    a) hatte Verne keine eigenen Erfahrungen und


    b) war das ja auch sein Arbeitsstil, Anregungen aus der Literatur aufzubereiten.


    Das wird noch interessant. Bleibt dran Jungs! Ich drücke allen Suchenden die Daumen !!!


    :prima: :applaus:

  • Wobei es insgesamt sehr interessant ist, einmal durch verschiedene Jahrgänge der "Didaskalia" zu stöbern.


    So gibt es beispielsweise im zwanzigsten Jahrgang (1842) einen Bericht über die Erfindung eines lenkbaren Ballons aus Nürnberg (Nr. 235)


    und in Nummer 279 die Erzählung "Der schreckliche Reisegefährte".
    Die Nummer datiert vom So. 9. Oktober 1842 und beruft sich darauf, einem englischen Schriftsteller nacherzählt zu sein. Der Inhalt dürfte wohl schon beim Titel bekannt sein: Es geht um einen Verrückten, der einen Ballonfahrer begleitet. (Möglicherweise ist es ja ein Nachdruck der schon erwähnten Erzählung aus der Pester Zeitung?)


    Link:http://books.google.de/books?i…cad=0#v=onepage&q&f=false


    (Irgendwie funktionieren die direkten Links hier nicht so richtig, deshalb in dieser Forum zum rauskopieren)


    Martin


  • und in Nummer 279 die Erzählung "Der schreckliche Reisegefährte".
    Die Nummer datiert vom So. 9. Oktober 1842 und beruft sich darauf, einem englischen Schriftsteller nacherzählt zu sein. Der Inhalt dürfte wohl schon beim Titel bekannt sein: Es geht um einen Verrückten, der einen Ballonfahrer begleitet. (Möglicherweise ist es ja ein Nachdruck der schon erwähnten Erzählung aus der Pester Zeitung?)

    Es ist in der Tat die gleiche Erzählung. Aber es ist trotzdem interessant. Danke.

  • Herzlichen Glückwunsch, Maschu1! Dass die Redaktion der Didaskalia den Artikel abschreibt, war ja fast schon zu erwarten gewesen. Diesmal waren sie noch schneller als bei der „Fünfwöchentlichen Luftreise“. Zusammen mit Predantus’ Erstfund gibt es für den möglichen Ausgangstext für Ein Drama in den Lüften also schon zwei deutschsprachige Quellen.
    Das Original stammt von Thomas Hood, dem Herausgeber des englischen New Monthly Magazines. Dort findet er sich im Herbst 1841 unter dem Titel „A Tale of Terror“. Wenn also Hood die Vorlage für Verne geliefert hat, was ich stark annehme, dann fehlt eigentlich nur noch die adäquate französische Übersetzung in den Jahren zwischen 1841 und 1855.
    Zu Thomas Hood siehe wiki,
    der Artikel „A Tale of Terror“ findet sich unter
    http://books.google.ru/books?i…20terror%20editor&f=false


    Liebe Grüße
    Norbert

  • Danke für den Tipp!


    Bei dem frz. Text handelt es sich in der Tat um eine Übertragung des Hood-Artikels, mit einigen Freiheiten. Insbesondere der Schluss ist anders und soll den offenen Schluss erklären: die Kutsche, in der der Erzähler ("ein blasser junger Mann") seinen Mitreisenden die Geschichte seines Aufstiegs erzählt, landet im Graben und der Erzähler wird verletzt.


    Hoods Artikel, der mehrere Abdrücke erfahren hat (ab 1862 auch in seinen Gesammelten Werken) soll übrigens schon 1821 in The London Magazine veröffentlicht worden sein und rückt damit in unmittelbare zeitliche Nähe zum Erlebnis des Ballonfahrers Green; möglich also, dass es sich dabei um ein und dieselbe Geschichte handelt.