Vor der Flagge des Vaterlandes

  • Vorweg Textgrundlage ist Verne, Jules: Vor der Flagge des Vaterlandes, Berlin 1984 (Collection Jules Verne 70).



    Ist jemand aufgefallen das auf Seite 20 von der "Grafschaft Craven" gesprochen wird? Für die UK wäre diese Übersetzung durchweg zulässig; aber da die Geschichte nunmal in dne U.S.A. spielt, handelt es sich hier um einen Bundesstaat. Wie der ürsprüngliche Textlaut im frz. Original ist, ist mir leider nicht bekannt.


    Ich kann mir aber nur schwerlich Vorstellen das JV diese Bezeichnung absichtlich wählte, eben um seinen europäischen Lesern evtl. die größe des Bundesstaats somit besser zu verbildlichen. Denn hiergegen spricht obzwar das Europa des ausgehenden 19. Jh. noch monarchisch gerpägt war, hatten doch viele solcher Nationen bereits konstitutionelle Monarchien und ferner befand sich JV's Vaterland damals schon in seiner sog. "dritten Repulik". Es muss daher doch angenommen werden, dass es sich hierbei um einen bewussten oder unbewussten Übersetzungsfehler des Hartleben Verlags handelt?

  • Hallo,


    ich gebe zu, das klingt sehr merkwürdig und unwahrscheinlich, und ich erinnere mich, ebenfalls schon mal darüber gestolpert zu sein. Aber die Schuld liegt nicht bei Hartleben, Verne schrieb wohl tatsächlich "Ce chef-lieu du compté de Craven", es sei denn hier hat ein Schriftsetzer was falsch gelesen und im Manuskript steht was anderes....


    Bernhard

    :seemann: :baer:


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    I love you, you love me, ja wo lawe ma denn hi??

  • Gemeint ist "county", ein Verwaltungsbezirk in englischsprachigen Ländern: "Circonscription administrative des Îles Britanniques et des pays de langue anglaise", und weiter unten "adaptation de l'angl. county de même sens (1411 ds NED), lui-même empr. à l'a. fr.", siehe hier:
    http://www.cnrtl.fr/definition/comt%C3%A9


    Was gemeint ist, ist klar. Ging ja um die Übersetzung ins deutsche und somit doch gewissen Unterschied in seinem Sinngehalt. Aber wie der Link von Dir so schön aufzeigt, scheint es im frz. wie auch im engl. ein Wort/Begriff für beides gibt, sprich Verwaltungsbezirk und Grafschaft.


    Müsste demnach nicht doch wieder der Fehler beim Übersetzer von Hartleben liegen, der womöglich unreflektiert den erstbesten Begriff wählte der auf das frz. Wort passte wählte und ins Manuskript für den Schrift-/Drucksetzer schrieb?


    Bernhard ich gebe dem Verlag ja nich im ganzen die Schuld, sehe wohl aber ein evtl. Versäumnis in der "textlichen Sorgfaltspflicht" des damalig angestellen Übersetzers bzw. des Übersetzers von welchem der Verlag eben jenen Text bezog. Falls es ein externer Übersetzer gewesen war, so liegt wiederum das verlagstechnische Versäumnis beim Lektorat des Verlages, welches den Text auf orthographische Fehler beüzglich Schreibweise und Sinngehalt hätte überprüfen müssen, aber der "Kernfehler" immer noch beim Übersetzer. (Oje, hoffe das ich habe meinen Gedankengang und Argumentationskette plausibel nachvollziehbar niedergetippt habe)


    Zur Klärung wäre es interessant sich diesbezüglich, auch in anbetracht anderer Werke JV's, dezidierter mit der Veralgsgeschichte auseinander zusetzen. Was das betrifft kann ich leider nur rudimentäre Kenntnisse aufweisen und Quellen an sich überhaupt nicht.

  • Die Feinheiten der Möglichkeiten der Übersetzung von "County" ins Französische bzw. von dort ins Deutsche waren mir nicht bekannt. Es handelt sich also dabei tatsächlich um einen Faux-Pas des Übersetzers bei Hartleben.


    In welchem Umfang oder welcher Art der Verlag Hartleben damals ein Lektorat in unserem heutigen Sinne gehandhabt hat kann nur vermutet werden. Hartleben beauftragte die Übersetzung der Texte bei sich anbietenden Personen, oftmals auch Frauen aus der gebildeteren Schicht, die auf diese Weise einer Tätigkeit nachgehen konnten, was zu jener Zeit ja noch nicht selbstverständlich war. "Geprüfte" Übersetzer gab es zu jener Zeit entweder nicht, oder falls doch, dann waren sie vermutlich zu teuer. Das hat zur Folge, das oftmals in den Hartleben Texten entweder falsch übersetzt wurde, oder, bei vollkommenen Unverständnis des Übersetzers, sogar einfach weggelassen oder durch andere in den Kontext passende, jedoch selbstformulierte Satzteile /Sätze ersetzt wurde. Das eine Kontrolle, also ein Lektorat durch den Verlag erfolgte, erscheint schon unwahrscheinlich, wenn man bei so mancher Übersetzung deutlich die Übernahme des französischen Satzbaus feststellt, den heutzutage jeder Lektor ins Deutsche korrigiert hätte.


    Trotzdem sind die Hartleben - Übersetzungen quasi für alle nicht in neuerer Zeit neu übersetzten Romane das Beste was wir haben. Von gelegentlichen Fehlern, Weglassungen und eigenen Hinzufügungen sowie merkwürdiger Sprache (teils eben dem mangelhaften Anpassen an den deutschen Satzbau, teils durch das altertümliche Deutsch bedingt) abgesehen sind die Übersetzungen überwiegend textnäher an den Originaltexten als viele andere Übersetzungen und vor allem Bearbeitungen.


    Interessant ist in dem Fall "comte Craven" jedoch, daß auch die moderne Übersetzung des Diogenes- Verlags (und die Reprints davon z.B. Bücherbund-Prachtausgabe) den Begriff mit "Grafschaft" übersetzen...


    Man muß hierbei allerdings eines in Betracht ziehen: Da eine der Hauptpersonen in dem Roman der Graf Artigas ist, ist vermutlich den Übersetzern der Widerspruch einer "Grafschaft Craven" in der Republik Nordamerika gar nicht bewusst geworden... Wenn sich dort schon ein Graf herumtreibt, dann sieht man auch keinen Widerspruch darin, daß sich dort eine Grafschaft befinden soll ...


    Gruß


    B.

    :seemann: :baer:


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  • Zur Klärung wäre es interessant sich diesbezüglich, auch in anbetracht anderer Werke JV's, dezidierter mit der Veralgsgeschichte auseinander zusetzen. Was das betrifft kann ich leider nur rudimentäre Kenntnisse aufweisen und Quellen an sich überhaupt nicht.


    Mit der Verlagsgeschichte von Hartleben hat sich Andreas detailliert auseinandergesetzt: http://j-verne.de/menue_1_5.html

  • Jaja da sieht mans mal wieder, schon damals mussten die Verlage sparen und nicht nur heute.


    Wenn wir hier eine Übersetzerin hatten, so ist Sie vielleicht bei der Vorstellung des geheimnisvollen reichen Grafen etwas ins schwärmen gekommen und hat dabei ganz den Kontext und Plott der Geschichte vergessen; oder es handelt sich um einen Übersetzer britischer Herkunft der so kronloyal (bzw. ähnlich patriotistisch wie J. T. Maston) ist und die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten immer noch nicht überwunden hatte und zumindest so sich ein wenig Genugtuung verschaffte. ;-)


    So aber jetzt wieder sachlich


    Auf S. 46 werden die angrenzenden countys ebenfalls als Grafschaften bezeichnet. Im allgemeinen verfuhr man was die Übersetzung der Städte und Regionen betrifft recht willkürlisch wie mir scheint. So wird Noth-Carolina mit Nordcarolina übersetzt, jedoch Neu-Bern bei seinem engl. namen New-Berne belassen.

  • Der / die Übersetzer(in) dieses Titels ist nicht bekannt (wie bei den meisten Hartleben - Übersetzungen).


    Der Einschub mit den Übersetzern meinerseits, war auch leicht ironisdch gemeint ;-)


    Wobei pragmatisch gesehen: Es gibt ja nichts was es nicht gibt.


    Aber wenn man bezüglich der Übersetzer quellentechnisch nachforscht, so muss das eine rechte Sisyphosarbeit sein. Der Erkenntniswert wäre meines e. A. dabei eine Konnexion aus literaturgeschichtlischer Rezeptions- und Gesellschaftsgeschichte. Nämlich indem man sieht wer und welche schicht sich letztenendes mit dieser Arbeit befasste und somit evtl. auch zum Leseklientel JV gehörte, z. B. wie bereits von Dir konstatiert eben Frauen der höhren Schichten zwecks Broterwerb.

  • Fünftes Kapitel: Wo bin ich?


    Beim lesen dieses Kapitels ist mir aufgefallen wie geschickt JV die psyche des Eingesperrten darstellt. Gekonnt lässt er hier die Gedankengänge zwischen Verzweiflung und Hoffnung changieren. Immer wieder die Frage nach dem Grund seiner Entführung; die Enge und Dunkelheit des Raumes, welche so gut wie jede Handlung zum scheitern veruteilen und die Auseinandersetzung seinerseits mit dem Tod durch ersticken oder verdursten bzw. verhungern. Demgegenüber setzt der Autor aber stets die Überlegungen des Protagonisten auf rationaler Ebene, die Ihn hoffen lassen, jedoch ohne wirklich konkrete Antworten finden zu können - außer die, dass seine Entführung im zusammenhang mit seinem Schutzbefohlenen steht.


    Einen ähnliche Szene ist mir bis jetzt nur aus dem Werk "Das Karpartenschloss" dreizehntes Kapitel und vierzehntes Kapitel bekannt. Aber nicht mit solch "klaustrophobischer Wucht" die die Lage Gaydon's auf den Leser übertrug. Da dies jetzt nur mein subjektiver Eindruck ist, wäre es nett andere Meinungen bezüglich dieses Kapitels zu hören oder ging es doch nur mir so?


    Ebenfalls interessant ist, dass wenn man alle Namen der Figuren und den Ort des Sanatoriums aus dem Kapitel streicht, man eine düstere Kurzgeschichte mit offenen Ausgang bekommt.

  • Mich beschleicht mal wieder der Verdacht einer Fehlübersetzung aus dem frz. ins dt. Auf S. 113 mittig (Neuntes Kapitel) der Pawlak-Ausgabe steht "Das Donnergrollen, das die bermudischen Fischer in Furcht jagte, (...)"; könnte es möglich sein das es "in die Flucht jagte" heißen sollte. Es wäre nett, das wenn jemand der des französischen Mächtig ist an entsprechender Stelle einmal im Original nachsehen könnte. Alles in allem wäre aber auch bei einer Fehlübersetzung der Kontext nicht verzehrt. Ob die Fischer die Insel verließen weil in Furcht versetzt oder meiner Vermutung in Flucht getrieben ist gleich, rekurriert doch der letztere UImstand auf den ersteren.


    Eine andere Auffälligkeit ist die plötzlich wechselnde Nationalität von Serkö und Spade. Auf S. 79 ist Serkö noch Hellene und Spade ein Italiener, jedoch auf S. 118 plötzlich Levantiner und der Kapitän Spanier. Es ist zwar anzunehmen das das Feststellen einer Herkunft bei solch dubiosen Gestalten schwer ist, muss man doch vermuten das sie im Laufe ihrer umtriebe oftmals falsche Identitäten an den Tag legten. Jedoch ist sich auf angeführten Seiten Gaydon/Hart jeweils sicher die Nationalität erkannt zu haben, was für mich den plötzlichen wechsel auf S. 118 als Leser nicht mehr ganz so plausibel macht. JV hätte zumindest literarisch einräumen müssen das sich der Protagonist während der Zwischenzeit eines besser belehrt hat, was zur nationalen Verotung von Serkö und Spade auf S. 118. führte.

  • Les grondements qui épouvantèrent les pêcheurs bermudiens n’avaient point pour cause une lutte des forces souterraines…


    "épouvanter" heißt "in Angst und Schrecken versetzen". Vielleicht gab es früher auch den Ausdruck "in Furcht jagen".


    http://de.pons.com/%C3%BCbersetzung?l=defr&q=epouvanter

    Danke fürs nachschauen. Kann gut möglich sein, die Hartleben Übersetzungen entsprechen ja nicht unbedingt der Heute gängigen Sprache und Floskeln. So dass der Ausdruck "in Furcht jagen" damals, vieleicht auch nicht unbedingt mündlich geläufig, als literarisches Stilmittel in der konform war und somit zumindest auch den gepflogenheiten der Leser entsprach. Ob man es im Falle einer Neuübersetzung auch so übernehmen würde sei dahingestellt.

  • So mit dem Buch bin ich mittlerweile durch, womit ich auch gerne hier noch abschließend des bezüglichen Werks ein paar Gedankengänge loswerden möchte.Was das Buch samt seiner Handlung im Ganzen betrifft wird ein essentieller Fakt nicht erwähnt, nämlich die Notwendigkeit Ker Karrajes Thomas Roch zu entführen und seiner Erfindung zu bemächtigen. Denn da er seine Raubzüge erfolgreich weiter fortführen wollte, bedurfte er des Fulgurators Roch. Es ist die Zeit in der Dampfschiffe mit weitaus stärkeren Rümpfen, als deren Vorgänger mit Holzplanken, die nun verstärkt die Meere befahren. Ich weiss nicht ob die besagte Rammwucht des Tugs noch ausreichend Kraft gehabt hätte um eben jene neuen Schiffstypen zum sinken zu bringen. Mit dem Fulgurator hätte er somit die zu gewährende Optionshoheit: Aufgabe des zu enterten Schiffes und Preisgabe der Beute oder unweigerliche Zerstörung - von der Verteidigungskraft gegenüber der Marine einmal abgesehen, spätestens wenn wieder Jagd auf den Pirat gemacht hätten.Was mir während des fast ganzen Verlaufs des Buches gut gefallen hat, ist der Aspekt der subtilen Gewalt oder "gewaltlosen Gewalt" gegenüber Simon Hart. Man lies ihn gewähren, da er und die Piraten sich stets bewusst waren, dass man sich seiner hätte leicht entledigen können. JV zeigt diesen Umstand ja sehr schön an Hand der Gedankengänge Hart's bezüglich seiner geplanten Handlungen bzw. Konsequenzen. Dieser Freiraum ist natürlich auch der weiteren Handlung geschuldet, Simon Hart einfach für den Rest seines Lebens in eine Zelle einzusperren hätte den Roman wohl eher abrupt beendet. ;-)Was irgendwie weniger plausibel war ist, dass es für Thomas Rochs Geisteszustand und Rechts-/Unrechtsbewusstsein am Ende genügte das er die Trikolore Frankreichs sah um zu Sinnen zu kommen. In wie weit die zusätzliche Kenntnis darüber, das der Graf eigentlich Ker Karraje ist mit zum tragen kommt sei offen, aber dennoch am letztlich ein gewichtiger Grund sein mag. Es wäre schöner gewesen, wenn JV am Ende auf ein paar Seiten mehr die psychische Gemütsveränderung Roch's dargestellt hätte, um eben jenes Aufopfernde handeln am Schluss nachvollziehbar zu machen.Wenn man den Titel "Die Erfindung des Verderbens" zynischer und unter technikkritischen Gesichtspunkten betrachtet, so war das Verderben primär für den Erfinder und letzteres für die Piraten. Insbesondere Ersterer musste erst Häme ertragen und verlor immer mehr und mehr seine geistige Mündigkeit bis hin zur "Internierung" in der Genesungsanstalt und dann auf Back-Cup und letzten Endes nach Rückerlangung seiner rational psychischen Konstitution im Selbstopfer samt Erfindung. Das Verderben für die Piraten liegt ja auf der Hand bzw. in Trümmern und im Verlust ihres Lebens.