Wohnen in der Qualle

  • Silvia von der Weiden
    WISSENSCHAFT
    Artikel vom 08.02.2015 / Ausgabe 6 / Seite 1


    Hochhäuser auf dem Ozean zu bauen, mitten ins Wasser hinein, ist die neue Spielart der Zukunftsarchitektur


    Als Kapitän Nemo abtauchte, hatte er mit der irdischen Welt gebrochen und machte sich auf die Suche nach einer neuen Existenz. "20.000 Meilen unter dem Meer", Jules Vernes Roman aus dem 19. Jahrhundert, war seiner Zeit weit voraus. U-Boote waren zwar schon erfunden, aber an Nemos autarkes Unterwasser-Mobil kamen sie nicht heran. Dass sich ein Mensch ins Reich der Tiefsee flüchtet und dort "eine Hoffnung für spätere Zeiten, wenn die Menschheit reif ist, für ein neues besseres Leben" sieht – das galt damals als Science-Fiction, und wäre es eigentlich heute noch. Wenn es nicht Entwürfe wie die von Sarly Adre Sarkum gäbe: Sein "Waterscraper" ist ein schwimmendes, energieautarkes Hochhaus von der Größe des Empire State Building, dessen größter Teil unter Wasser liegt. Gewohnt wird unter der Wasserlinie.


    Glaubt man den Visionen des Stararchitekten aus Kuala Lumpur, "ist der Waterscraper die logische Konsequenz aus den klimatischen Veränderungen, in deren Folge der Wasserspiegel steigt und Land immer knapper wird". Es sei natürlicher Fortschritt, dass der Mensch eines Tages die Meere bevölkern wird, sagt Sarkum. Seine neue Metapolis werde aus einer Ansammlung frei schwimmender Gebäude gebildet. "Es wird eine Stadt sein, die nicht Natur verbraucht, sondern Natur schafft und hervorbringt. Am Ende wird es ganze 'Waterscraper'-Metropolen geben."
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    Sarkum ist kein einsamer Kreativer, mit dem die Fantasie durchgeht – eine ganze Reihe von Architekten und Bauunternehmen beschäftigen sich mit künstlichen Wohninseln, die ins Meer hineingebaut werden und sich selbst versorgen können. Solche Städte könnten die Antwort auf eine Reihe von Menschheitsproblemen geben, von der Überbevölkerung über Klimawandel und Energieversorgung bis hin zur Steuerentlastung. Tatsächlich umgesetzt wurden zwar bisher nur kleine Projekte, doch das bremst die hochfliegenden Ideen derer nicht, die wie einst Nemo eine bessere Zukunft im Wasser sehen.


    "Das Hochhaus ist Inbegriff für unersättlichen Verbrauch. In der Zusammenballung in unseren Städten ist es zu einem bedrohlichen Vorboten einer ökologisch düsteren Zukunft geworden", begründet Sarkum seinen "Waterscraper". Ein System aus Gewichten und Ausgleichstanks hält das nach unten spitz zulaufende Gebäude aufrecht. Lange "Tentakel" verleihen ihm das Aussehen einer riesigen Qualle. Sie dienen ebenfalls als Ausgleichselemente. Zudem werden sie ständig von der Meeresströmung in Bewegung gehalten, sodass sie der Energieversorgung dienen können. Windturbinen auf dem Dachgarten liefern zusätzlich Strom. Auf dem Dach sollen auch Nahrungsmittel angebaut werden.


    Auch andere Architekten träumen vom Wohnen im Meer. Der Entwurf des chinesischen Baukonzerns CCCC und des Londoner Architektenbüros AT will eine künstliche Insel auf dem Ozean aus Modulen zusammensetzen. Mit Luxusappartements, Erholungszonen, Restaurants, Bars, Museen, Galerien, mit Konzertsaal und Themenpark sowie Häfen für Yachten. Sogar eine Anlegestelle für U-Boote soll es geben. Der größte Teil der Anlage wird sich unter dem Meeresspiegel befinden. Tony Fan, Konstruktionsingenieur bei AT, erklärt: "Chinesische Investoren wollen Attraktionen sehen, die es so noch nirgendwo gibt. Dafür sind sie bereit, ihr Geld auszugeben. Der Markt für den Bau solcher Träume unter dem Meer ist derzeit sehr attraktiv."


    Mit dem Projekt wolle man auch zeigen, wie sich der Überbevölkerung begegnen lasse, zumal durch den Klimawandel bewohnbares Land immer knapper wird. Die schwimmende Stadt könne sich selbst versorgen und sei nicht auf Festland in der Nähe angewiesen. Praktisch überall, auch in hoheitsfreien Gewässern, ließe sie sich verankern. Doch die Bauherren favorisieren einen Platz vor Macau. Diese Insel in der Nähe von Hongkong ist als Steuerparadies bekannt.


    Auch der japanische Baukonzern Shimizu will autarke Unterwasserstädte errichten. Sie sollen sich mit Energie versorgen und Meerwasser entsalzen. Fisch soll in eigenen Aquakulturen gezüchtet werden. "Dies alles ist kein Wunschtraum, sondern ein reales Ziel, das wir verfolgen", sagt Unternehmenssprecher Masataka Noguchi. Er erklärt das ehrgeizige Projekt "Ocean Spiral": Eine Kugel mit 500 Meter Durchmesser soll knapp unter der Meeresoberfläche in Wasser schweben. Meterdicke, transparente Wände aus Acrylglas, die mit glasfaserverstärktem Kunststoff verstärkt sind, lassen das blaue Licht des Meeres herein. Sie schützen die rund 5000 Menschen, die in der großen Blase wohnen, arbeiten und leben. Mitten in der Kugel befindet sich ein konkaves Gebäude mit vielen Stockwerken. Darin gibt es Büros, Wohnungen, Geschäfte, Cafés und Hotels. In fünf Jahren will Shimizu diese futuristische Luxuswelt errichtet haben. Geschätzte Baukosten: 23 Milliarden Euro.


    Unter der Wohnkugel schlängelt sich eine 15 Kilometer lange wendelförmige Röhre in die Tiefe mit der die Kugel am Meeresboden befestigt ist. Die begehbare Spirale dient der Energiegewinnung. Sie nutzt Temperaturdifferenzen zwischen verschiedenen Meerestiefen. Mithilfe von oberflächennahem, warmem Wasser wird eine organische Flüssigkeit verdampft, die eine Turbine antreibt. Kaltes Tiefenwasser kühlt das Mittel ab und verflüssigt es. Der Kreislauf, ähnlich dem in einem Kühlschrank, kann von vorn beginnen. Ingenieure nennen dies ein ozeanothermisches Gradientenkraftwerk.


    Auch diese Möglichkeit hatte Jules Verne in "Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer" vorausgesehen. Er lässt Kapitän Nemo Überlegungen zur Gewinnung von Elektrizität aus verschiedenen Tiefen des Ozeans anstellen. Bei geothermischen Kraftwerken kommt heute ein ähnliches Prinzip zum Einsatz. Es ermöglicht eine rentable Stromerzeugung mithilfe bei niedrigen Temperaturen verdampfender Flüssigkeiten auch dort, wo nur mäßig warmes Wasser aus der Tiefe für die Turbinen zur Verfügung steht.


    Die Konstrukteure der "Ocean Spiral" setzen bei der Energieversorgung auch auf Biotechnik. Methan produzierende Bakterien wandeln im Wasser enthaltenes Kohlendioxid in das energiereiche Gas um. Daraus lässt sich Strom und Wärme erzeugen. Die Shimizu-Ingenieure, die von der Universität Tokio, dem japanischen Datenforschungszentrum für Marine- und Geowissenschaften und der staatlichen Agentur für die Fischereiaufsicht unterstützt werden, haben auch an ein Labor gedacht – eine 200 Meter große Kugel unterhalb der Wohnsphäre. Von dort aus soll die Tiefsee erforscht werden, die 800 Meter unter dem Meeresspiegel beginnt: "Es ist an der Zeit, eine neue Schnittstelle mit der Tiefsee zu schaffen, der letzten Grenze auf unserem Planeten."


    Als "technische Utopie" bezeichnet dagegen Städteforscher Christian Dimmer die diversen Vorhaben. Solche Großprojekte seien Reflexe auf globale Umweltkrisen. "Es ist zwar zu begrüßen, dass sich so viele kreative Köpfe damit beschäftigen, wie wir mit dem Klimawandel und dem Anstieg des Meeresspiegels technisch fertigwerden können", räumt Dimmer ein, Professor an der Uni Tokio ist. "Es stellt sich aber die Frage, ob ein derart komplexes, kostspieliges und zentral gesteuertes Projekt die richtigen Antworten für die Herausforderungen der Zukunft bereithält."


    Bislang wurde nur wenig umgesetzt. "Meist handelt es sich um den Umbau von alten Kreuzfahrtschiffen oder die Umnutzung von Ölbohrplattformen", sagt Karlheinz Steinmüller, Direktor beim Zukunftsforschungsinstitut Z-Punkt. "Das ist alles noch wenig zukunftsweisend."


    Doch für Unterwasserstädte interessieren sich immer mehr Architekten, so auch der Niederländer Koen Olthius. Sein "Seascraper" ragt aus dem Wasser heraus und erinnert an ein supermodernes Kreuzfahrtschiff. Der größte Teil des Gebäude liegt freilich unter dem Meeresspiegel. Am Rumpf angebrachte Turbinen reichen bis zu 400 Meter tief und nutzen starke Meeresströmungen zur Stromerzeugung. Über dem Wasser ist das Gebäude mit einer Fotovoltaikhaut zur Gewinnung von Solarstrom versehen. Wie ein tiefer Brunnen zieht sich der konkave Innenteil des Gebäudes weit in die Tiefe. In die große Öffnung fällt der Regen – so wird Süßwasser aufgefangen. Was das Leben im Meer noch ein Stückchen autarker macht.


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    Quelle: http://www.welt.de/print/wams/…Wohnen-in-der-Qualle.html