Jules Verne und die Karten von Gotha

  • 04.04.2015 - 01:00 Uhr


    Gotha. Wie der französische Romancier Jules Verne die Kartografie nutzte, um seinen fantastischen Geschichten den Anschein des Authentischen zu geben.

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    Petra Weigel, wissenschaftliche Referentin der Forschungsbibliothek Gotha für die Sammlung Perthes, präsentiert historische Karten und Lexika, die von der Vermessung der Welt im 19. Jahrhundert erzählen. Foto: Marco Kneise


    Der Ballon schickte sich gerade an, den Duthumi-Berg zu übersteigen, als Samuel Fergusson eine Karte hervorzog. Sie gehöre, beschied er seinen Mit-Abenteurern, zum Atlas der "Neuesten Entdeckungen in Afrika", den ihm sein gelehrter Freund Petermann in Gotha zugesandt hatte.


    Für die folgenden Wochen ein sehr nützliches Requisit, denn die Reisegesellschaft in der Gondel beabsichtigte die Überquerung des Kontinents und bei der Gelegenheit auch gleich die Enträtselung der Nilquellen.


    Ein, wie sich herausstellen sollte, einigermaßen riskantes Unternehmen, bedroht von allerlei Ungemach: hungrige Kannibalen, Dehydrierung, wütende Taliban und dergleichen.


    Eine Expedition, für die Fergusson von honorigen Fachleuten bezweifelt bis belächelt wurde. Doch der konnte sich immerhin auf eine unangefochtene Autorität der Angelegenheiten der Geografie berufen: ". . .Herr Petermann brachte die Genfer Zeitschrift in seinen zu Gotha veröffentlichten ,Mittheilungen gründlich zum Schweigen, denn er kannte den Doctor Fergusson persönlich und leistete für die Unerschrockenheit seines kühnen Freundes Gewähr."


    Am Ende wurde natürlich alles gut, man konnte es nachlesen. "Fünf Wochen im Ballon" erschien 1863 und machte Jules Verne über Nacht berühmt. Dem kühnen Reisebericht beigelegt: eine Afrika-Karte, auf der die kühne Route von Sansibar bis Senegal markiert war.


    Kartenmaterial und Bericht wirkten so seriös, dass viele Leser Fergussons Ballonüberquerung Afrikas für bare Münze nahmen. So überzeugend, dass der im Roman zitierte August Petermann, Chefkartograf im Gothaer Perthesverlag, sich genötigt fühlte, zu dementieren. Schrieb von "dreister Berufung" auf seine Person, wetterte über das "bloße Fantasiestück".


    Die etwas entferntere Gegenwart
    Dabei, bemerkt Historikerin Petra Weigel, waren die beiden Verwandte im Geiste. August Petermann, der die Erkenntnisse von Forschungsreisenden nutzte, um auf Karten das Bild von der Welt zu zeichnen, wie sie war. Und Jules Verne, der begeistert alle Neuerungen aus Geografie und Technik in sich aufsog, um daraus ein Bild von der Welt zu zeichnen, wie sie sein könnte. Zukunft, lässt er seinen furchtlosen Fergusson ausrufen, ist nur eine etwas entferntere Gegenwart!


    Die Historikerin ist wissenschaftliche Referentin der Forschungsbibliothek Gotha für die Sammlung Perthes und weiß eine Menge über Kartografie und Karten. Wie sie Fantasien befeuerten, weil sie weiße Flecken sichtbar und die Ferne zu einem Sehnsuchtsort machten. Wie die geografischen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts die Welt vernetzten, nicht nur in der Theorie, sondern mit praktischen Konsequenzen.


    Sie schlägt eine tischgroße Karte aus dem Perthes-Verlag auf. "Chart of the World", die siebente Auflage. Ein Netz von Linien überzieht die Weltkarte. Telefonkabel, Dampfschifflinien, Kanalprojekte, Eisenbahnstrecken. Die Karte hing in Handelskontoren, auf Poststationen, in Büros von Firmenchefs. Sie ist, sagt die Historikerin, ein Abbild der Globalisierung der Welt im 19. Jahrhundert.


    Sie hätte Phileas Fogg bei seiner "Reise um die Welt in 80 Tagen" gute Dienste leisten können, ihm wäre mancher Umweg erspart geblieben.


    Andererseits, sinniert die Wissenschaftlerin, hätte er sie verwendet, wäre dem findigen Mr. Fogg zweifellos die Datumsgrenze aufgefallen, die auf der Karte markiert ist. Und die glückliche Pointe der Erdumrundung wäre verpufft.


    Außerdem hätte Fogg dann vermutlich hinter Bombay nicht den Elefanten genommen und niemand hätte die schöne Witwe Aouda vor dem Scheiterhaufen gerettet. Woraus man lernen kann, dass der schnellste Weg nicht immer der beste ist.


    Die wirklichen Reisen des Heinrich Barth
    Ach Jules Verne. Als Kind hat Petra Weigel seine Romane verschlungen. Dass ihr der Autor der Kindheit einst im seriösen Wissenschaftlerdasein wiederbegegnen würde, hätte sie damals wohl kaum gedacht.


    Der Franzose hatte in seinen Romanen gern reale Erkenntnisse von Forschungsreisenden zitiert. Ganze Passagen sind Exkurse in die Entdeckungsgeschichte der Erde. Mehr noch. Er hat die Kartografie herangezogen, um seinen fantastischen Geschichten den Anschein von Authentizität zu geben.


    Insgesamt 42 Kartenbeilagen erschienen zu Lebzeiten in seinen Büchern. Teilweise benutzte er publizierte Karten als Vorlagen. Teilweise entwarf er fiktive Welten, wie die der "Geheimnisvollen Insel", die er nach allen Regeln der kartographischen Kunst anfertigen ließ. "Die Kinder des Kapitän Grant" ließ er auf ihrer Suche entlang des 37. Breitengrades nach Karten reisen, die ihnen angeblich Petermann zukommen ließ.


    Nicht auszuschließen ist, dass die Karte mit Fergussons Reiseroute auf genau jener Afrika-Karte beruht, die Petermann nach Gesprächen mit dem furchtlosen Afrika-Forscher Heinrich Barth anfertigte. Nur dass Heinrich Barth wirklich in Timbuktu war.


    Überhaupt, erzählt Petra Weigel, erwies sich Gotha, damals ein Zentrum der Kartografie, als eine dankbare Quelle. In "Zwei Jahre Ferien" bestimmen die schiffsbrüchigen Teenager die Lage ihrer Insel mithilfe eines Stieler-Handatlasses, eines Bestsellers der Gothaer Kartenkunst. Und in der "Reise zum Mittelpunkt der Erde" lässt Jules Verne erneut August Petermann seinen Abenteurern assistieren, indem er dem schrulligen Professor Lindenrock Karten von Island zukommen lässt.


    Dass Petermann über solche Freiheiten nicht gerade amüsiert war, erklärt sich Petra Weigel aus seiner Verpflichtung der exakten Wissenschaft gegenüber. Der Kartograf als Chronist des Tatsächlichen.


    Jules Verne, der Künstler, sah im Tatsächlichen immer auch das Potenzial des Möglichen und des Abenteuers. Was wohl geschehe, fragt er am Ende seiner dreibändigen Geschichte der geografischen Entdeckungen, wenn alles bekannt, klassifiziert und bezeichnet sei? Dabei wird einer wie er am besten gewusst haben: Das Abenteuer des Reisens hört niemals auf.


    Elena Rauch / 04.04.15 / TA


    Quelle: http://www.thueringer-allgemei…rten-von-Gotha-1859903272