Da ja sehr bald die Erstausgabe des Findlings von der Cynthia erscheint, dachte ich mir, ich poste mal den Anfang meiner Übersetzung. Ich hatte vor ca. vier Jahren damit angefangen, war aber nie sehr weit damit gekommen, weil andere Projekte dazwischenkamen … und dann wurde die Clubausgabe angekündigt, da schien es auch nicht mehr so dringend zu sein, an meiner eigenen Version weiterzuarbeiten.
Irgendwann werd ich meine Version fertigstellen … kann aber noch laaange dauern.
Ein paar Sachen werde ich vielleicht noch ändern … Stahlstich … Sandboden … insgesamt bin ich aber ganz zufrieden mit dem Anfang.
Der Freund des Herrn Malarius
Es gibt wahrscheinlich weder in Europa noch irgendwo anders auf der
Welt einen Gelehrten, dessen Gesichtszüge noch bekannter wären als die
des Doktors Schwaryencrona aus Stockholm; sein Porträt, das die Händler
unterhalb seines Warenzeichens auf Millionen mit grünem Wachs
versiegelte Flaschen drucken, gelangt mit diesen bis an die äußersten
Grenzen des Erdballs.
Sie sind, um der Wahrheit die Ehre zu geben, nur mit Lebertran
befüllt, dieser löblichen wie auch gesunden Arznei, die für die
Einwohner Norwegens eine Einnahmequelle darstellt, die ihnen Jahr für
Jahr eine sieben- bis achtstellige Summe einbringt, in der Landeswährung
namens Kronen gerechnet, wobei eine Krone einem Franc neununddreißig
Centimes entspricht.
Früher lag die Herstellung des Trans in den Händen der Fischer.
Heutzutage liegen dem Extraktionsvorgang neuere wissenschaftliche
Erkenntnisse zu grunde, und der Großfürst dieses spezialisierten
Industriezweigs ist niemand anderes als der berühmte Doktor
Schwaryencrona.
Es gibt keinen, dem nicht schon einmal sein Spitzbart ins Auge
gefallen wäre, und seine Brille, seine Hakennase und seine
Otterfell-Mütze. Der Stahlstich ist vielleicht etwas grob ausgeführt,
doch eines ist gewiss – die Ähnlichkeit ist frappierend. Zum Beweis sei
hier geschildert, was sich eines Tages in der Grundschule von Norø
zutrug, das an der Westküste Norwegens liegt, einige Meilen von Bergen
entfernt.
Es hatte eben zwei geschlagen. Die Schüler hatten im großen
Klassenzimmer mit Sandboden Unterricht – die Mädchen saßen links, die
Jungen rechts –, und waren dabei, dem Beweis eines Lehrsatzes auf der
Tafel zu folgen, den der Lehrer, Herr Malarius, gerade führte, als
plötzlich die Tür auf ging und man einen Pelzmantel, Pelzhandschuhe,
pelzgefütterte Stiefel und eine Otterfell-Mütze erblickte.
Sogleich standen die Schüler respektvoll auf, so wie es sich
gehört, wenn ein Besucher in ein Klassenzimmer kommt. Keiner von ihnen
hatte den Neuankömmling schon einmal gesehen. Doch als er nun vor ihnen
erschien, raunten sie alle „Der Herr Doktor Schwaryencrona!“
So gut war der Doktor auf dem Porträt getroffen, das seine Flaschen zierte!
Es muss hier noch angemerkt werden, dass die Schüler des Herrn
Malarius diese Flaschen nahezu ständig vor Augen hatten, denn es ist so,
dass eine der größten Fabriken des Doktors in Norø steht.
Nichtsdestoweniger trifft es aber auch zu, dass der gelehrte Mann schon
lange keinen Fuß mehr in diese Gegend gesetzt hatte, und dass bis zu
diesem Tag kein einziges unter den Kindern von sich behaupten konnte,
ihn schon einmal in Fleisch und Blut gesehen zu haben.
In ihrer Vorstellung war er aber sehr wohl präsent. Es wurde beim
abendlichen Zusammensein oft über den Doktor Schwaryencrona gesprochen.
Viele Leute glauben, dass jemandem, über den man in seiner Abwesenheit
spricht, davon die Ohren klingen, und sei er noch so weit weg. Falls da
auch nur ein wenig dran ist, müssen dem Herrn Doktor abends nicht selten
die Ohren geklungen haben.
Wie dem auch sei, dass die Schüler ihn sowohl ohne Ausnahme wie
auch auf Anhieb erkannt hatten war ein echter Triumph für den
unbekannten Urheber des Porträts – ein Triumph, auf den der ehrbare
Künstler zu Recht hätte stolz sein können, und auf den mehr als nur ein Photograph mit Recht hätte eifersüchtig sein müssen, auch wenn Photographen gerade sehr in Mode sind.
Ja, kein Zweifel möglich, da waren sie, der Spitzbart, die Brille,
die Hakennase und die Otterfell-Mütze des berühmten Gelehrten. Es konnte
weder ein Irrtum noch eine Verwechslung vorliegen. Dafür hätten alle
Schüler des Herrn Malarius ihre Hand ins Feuer gelegt.
Was sie erstaunte und auch ein wenig enttäuschte war, dass sie mit
dem Doktor einen Mann von gewöhnlicher, mittlerer Größe vor sich sahen
anstelle des Riesen, der eher ihrer Vorstellung von ihm entsprochen
hätte. Wie konnte sich ein so hervorragender Gelehrter mit einer
Körpergröße von lediglich fünf Fuß drei Zoll begnügen? Sein graues Haupt
reichte Herrn Malarius kaum bis zur Schulter. Und dabei war Herr
Malarius schon vom Alter gebeugt. Doch er war viel dünner als der
Doktor, wodurch es so aussah, als sei er doppelt so groß wie dieser.
Sein weiter, kastanienbrauner Mantel, der durch den langen Gebrauch eine
ins Grünliche spielende Schattierung angenommen hatte, schlotterte ihm
um die Glieder, dass es einen an eine Fahne erinnerte, die um den Mast
fliegt. Er trug eine Kniehose und Schnallenschuhe und hatte eine
schwarze Seidenkappe auf, unter der ein paar weiße Strähnen hervor
kuckten. Sein rosiges, freundliches Gesicht strahlte die größte Milde
aus. Auch er trug eine Brille, von der, im Gegensatz zu der des Doktors,
kein durchdringender Blick ausging, und durch deren Gläser seine blauen
Augen alle Dinge mit einer unendlichen Güte zu betrachten schienen.
So lange die Kinder zurückdenken konnten hatte Herr Malarius nie
einen seiner Schüler gezüchtigt. Was nicht bedeutete, dass er nicht
respektiert wurde. In seinem Fall kam der Respekt dadurch, dass die
Schüler ihn liebten. Er hatte ein so großes Herz … und jeder wusste das!
In Norø war bekannt, dass er seine Prüfungen mit Auszeichnung bestanden
hatte, als er vor vielen Jahren studierte, und dass auch er akademische
Grade hätte erlangen können, dass er ein ›Herr Professor‹ an einer
bedeutenden Universität hätte werden können, dass er es zu großer Ehre
und Vermögen hätte bringen können. Aber er hatte eine Schwester, die
arme Kristina, die immer krank und schwächlich war. Und da sie um nichts
auf der Welt bereit gewesen wäre, ihr Dorf zu verlassen, weil das Leben
in der Stadt ihr Angst machte und sie dachte, sie würde dort sterben,
hatte Herr Malarius sich selbstlos aufgeopfert. Er hatte die
anstrengenden und glanzlosen Aufgaben eines Schulmeisters auf sich
genommen. Und dann, ungefähr zwanzig Jahre später, als Kristinas
Lebenslicht erloschen ist, nachdem sie ihren Bruder noch gesegnet hatte,
hat Herr Malarius, der sich an sein glanz- und ruhmloses Leben gewöhnt
hatte, noch nicht einmal darüber nachgedacht, ein neues zu beginnen.
Während er in seiner freien Zeit in die Arbeit an verschiedenen Dingen
vertieft war, ohne davon etwas publik zu machen, bereitete es ihm größte
Freude, ein vorbildlicher Lehrer zu sein, die am besten geführte Schule
im ganzen Land zu haben, und besonders, den Bereich des
Elementarunterrichts auch einmal zu verlassen, um höheren Stoff
durchzunehmen. Er liebte es, seine besten Schüler zu fördern, sie in die
Wissenschaften einzuführen, in Alte und Neue Literatur, in alles, was
für gewöhnlich nur den Angehörigen der reichen und wohlhabenden
Schichten vermittelt wird, und nicht den Kindern von Fischern und
Bauern.
„Warum sollte das, was für die einen gut ist, es für die anderen
nicht sein?“ sagte er. „Wenn die armen Leute schon nicht alle Freuden
dieser Welt genießen können – warum sollte man ihnen die Freude
verwehren, die Werke Homers und Shakespeares kennen zu lernen, den Namen
des Sterns zu kennen, der ihnen auf dem Meer zur Orientierung dient,
und den der Pflanze, die an Land unter ihren Füßen wächst! Die Arbeit
wird sie auch so noch früh genug in den Würgegriff nehmen und zum Acker
niederbeugen! Dann sollen sie wenigstens in ihrer Kindheit aus jenen
reinen Quellen getrunken und am gemeinsamen Erbe der Menschheit
teilgehabt haben!“