Aus: Ausgabe vom 09.05.2020, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage
JW-WOCHENENDGESCHICHTE
»Wir breiten nur den Mantel aus …«
»Der Klang von Paris«: Ein Spaziergang durch die Musikhauptstadt des 19. Jahrhunderts
Von Stefan Siegert
Paris von 1868 (mit Arc de Triomphe)
Stefan Siegert ist Autor und Zeichner und lebt in Hamburg. Er schreibt regelmäßig im Feuilleton der jungen Welt, zumeist über Musik. Auf diesen Seiten erschien zuletzt in der Ausgabe vom 21./22. Dezember 2019 Gedanken zu Beethovens »Leonore/Fidelio«-Oper.
Nadar war immer für eine Sensation gut. Am 18. Oktober 1863 lässt er 200.000 Zuschauer unter sich. Richtig gelesen. Unter sich. Denn die Menschen werden langsam immer kleiner, während sich Nadars riesiger Heißluftballon »Le Géant«, windbedingt weniger langsam als gedacht, vom Pariser Startplatz, dem Marsfeld, entfernt und Richtung Kanalküste entschwebt.
Nadar, er heißt eigentlich Félix Tournachon, wurde als einer der ersten Fotografen der Kunstgeschichte weltberühmt. Er war auch Karikaturist, Satiriker, Romancier; als Jungverleger brachte er eine Novelle Balzacs heraus. Was er macht, bringt Geld. So kann er, der befreundete Jules Verne hat ihn dazu angeregt, 1863 mit dem Riesenballon auf die Reise gehen. Sechs Schlafkammern, Küche und Bad, Druckerpresse, Fotolabor und sogar einen Weinkeller hat das Fluggerät an Bord. Noch in derselben Nacht sichten die Luftreisenden Brüssel. Weit unter ihnen Holland, das offene Meer, es leuchtet im Morgenlicht. Irgendwann ein Fluss, es könnte die Weser sein. Dann ein Sturzflug, ein Sturm, sie rasen auf die Erde zu, knapp unter ihnen zwei galoppierende Pferde, von rechts hinten eine Lokomotive, Turbulenzen ohne Ende. Aber der Ballon bleibt, vom Wasser irgendwie gebremst, schließlich im kleinen Flüsschen Alpe hängen. Alle wohlauf.
Ist es Zufall? Das kleine Flüsschen liegt zehn Kilometer vom Schreibtisch und Wohnort Volker Hagedorns entfernt, der das alles in seinem, gerade in zweiter Auflage herausgekommenen Buch »Der Klang von Paris« zusammengetragen und aufgeschrieben hat. Mit dem Ballonflug 20 Seiten vor Ende seiner 350 Seiten starken Riesenarbeit, hat sich Hagedorn einen der echten Höhepunkte bis zuletzt aufgehoben.
Dass er es schafft, am Ende noch sich selbst mit seiner Erzählung zu verbinden, ist Gipfel größter Verknüpfungskunst. Unmengen aus Internet und Bibliotheken zusammengesuchten und vor Ort recherchierten Materials finden im »Klang von Paris« folgerichtig, über längere Strecken romanhaft, informativ und unterhaltsam zusammen.
Hagedorn, wäre er zur Zeit seiner Erzählung geboren, wäre da, wo er jetzt lebt, ein Landeskind des Königreichs Hannover gewesen. Knüpf! Schon ist über den blinden Welfenkönig Georg V. der Bogen zu einer der Hauptfiguren des Buches geschlagen, dem Komponisten Hector Berlioz, den der blinde hannoversche König, so etwas gab es einmal, hoch verehrte.
Den Ballonflug vorbereitet hatte Hagedorn im Verlauf eines Tischgesprächs zwischen – knüpf! – dem Opernkomponisten Giacomo Meyerbeer und seinem Kollegen, dem Goethe-Bewunderer Berlioz mit dem – knüpf! – »Faust« (dem Berlioz ein Werk widmete): »Wir breiten nur den Mantel aus, der soll uns durch die Lüfte tragen«, zitiert Berlioz im Vorausblick auf Nadar gegenüber Meyerbeer Mephisto. Goethe, 1832 gestorben, ragt noch als Zeitgenosse in Hagedorns 1821 beginnende Paris-Geschichte hinein.
Ein Wimpernschlag
Es ist die Geschichte der Stadt des für einen wimpernschlagkurzen Moment revolutionären Bürgertums und eines mit ihm und seiner Ökonomie wachsenden Proletariats, das sich im Verlauf der Erzählung zweimal revolutionär erhebt – ein vor allem musikalisches Panorama der Metropole an der Seine als Hauptstadt der europäischen Musik im 19. Jahrhundert, Hotspot auch der vorwärtsweisenden Literatur, Malerei und Tanzkunst des alten Kontinents in dieser Zeit.
Darüber, so Hagedorn im Nachwort, denkt man in Deutschland traditionell etwas anders. Nicht zuletzt dank Richard Wagner. Er war mit dem Versuch, sich in Paris durchzusetzen, krachend gescheitert, und »redete später wirkungsvoll klein, was er der europäischen Metropole verdankte«. Das Deutsche, möchte man ergänzen, auf das sich nicht unerhebliche Teile einheimischer Musikwissenschaft beim Kleinreden der Bedeutung nichtdeutscher Musik im 19. Jahrhundert berufen, war vor 1871 staatlich und auch sonst weitgehend fiktiv; und fand mit Beethoven, Brahms und dem, da Salzburg bis 1803 zu Bayern gehörte, etwas provokant den Deutschen zuzurechnenden Mozart, in sehr vielen seiner größten Musikleistungen in Wien statt. Musikalisch waren München, Leipzig, Weimar oder Berlin trotz der Weltgeltung von Komponisten wie Bach, Schumann, Mendelssohn oder Weber international ohnehin eher zweitrangig.
Auch Hector Berlioz, Hagedorn hebt ihn als einen der ganz Großen der europäischen Musik nachdrücklich hervor, zählte lange Zeit zu den von der deutschen Musikwissenschaft Vernachlässigten. Es gehört zur Ironie der Musikgeschichte, dass er zu Lebzeiten im Ausland, in Deutschland besonders von Franz Liszt in Weimar, begeistert gefeiert, in seiner Heimat dagegen lange Zeit eher ungenügend gewürdigt wurde.
Mit ihm beginnt Hagedorns Liebeserklärung an Paris. Berlioz bleibt eine der Hauptfiguren des Buchs bis er 1867 – nicht mehr in der Billigkutsche im Verlauf vierer Tage und Nächte, sondern mit der Eisenbahn in elf Stunden – die Strecke von seiner Heimatregion am Fuß der französischen Alpen bis Paris zum letzten Mal zurücklegt. Die Eisenbahn, Symbol zu Beginn des 19. Jahrhunderts explodierender Produktivkräfte, das Verkehrsmittel der bürgerlichen Eisenzeit, taucht, von Hagedorn vermerkt, auch im Kommunistischen Manifest auf, Marx und Engels haben es 1848 in Paris verfasst. Die beiden sind mit dem an der Seine lebenden Heinrich Heine befreundet. Meyerbeer und Marx, liest man erstaunt, kennen und schätzen sich 1848 seit vier Jahren. Immer wieder wirft der Autor Blicke auch auf jene drei Fünftel der Pariser Bevölkerung, denen eine Historiografie keine Aufmerksamkeit schenken mag, die sich seit je auf Feldherren und Dynastien beschränkt. »Les Misérables«, wie sie im Roman Victor Hugos heißen, haben kein Geld für Kultur, sie sind mit dem Überleben beschäftigt. In den Armutsquartieren der Île de la Cité teilen sich zwölf Mieter sechs Betten, 60 Menschen müssen mit einer Toilette auskommen. »Von je 170 Einwohnern«, schreibt Hagedorn, »kann im Jahr 1839 gerade mal einer die 200 Francs aufbringen, deren Zahlung zur Wahl der Abgeordneten berechtigt. Es ist also das Großbürgertum, das die Gesetze macht, es sind Grundeigentümer, Kaufleute, Beamte, Industrielle.«