Aus der Ferne so nah – vom Theatrophon zum Streaming

  • Aus der Ferne so nah – vom Theatrophon zum Streaming


    Seit Ausbruch der Corona-Pandemie wird in immer mehr Wohnzimmern Musik per Live-Stream empfangen. Der Wunsch, Kulturdarbietungen aus der Ferne hören zu können, wurde allerdings schon vor 130 Jahren erstmals Realität.


    Corina Kolbe 02.05.2020


    Das Theatrophon erlaubte schon um 1890 Tonübertragungen aus Oper und Konzert. Farblithografie von Jules Chéret aus Paris.


    Im Frühjahr 2007 trauten Tausende Menschen in Zürich ihren Ohren kaum, als sie zu Hause nichtsahnend ans Telefon gingen. Aus dem Hörer schallten ihnen plötzlich Arien entgegen, die zur selben Zeit im Opernhaus erklangen. Um Strauss’ «Rosenkavalier» oder Puccinis «La Bohème» unter das Volk zu bringen, hatte die Medienkunstgruppe Bitnik unter dem Motto «Opera Calling» einen tollkühnen Hackerangriff auf den Kulturtempel gestartet. Oper sei auch für diejenigen da, die sich keine teuren Eintrittskarten leisten könnten, meinten die Aktivisten. Ähnlich wie Guerilla-Gärtner, die Saatbomben auf Brachflächen werfen, hatten sie heimlich Wanzen in das Haus eingeschmuggelt.


    Die präparierten Handys sandten bei Vorstellungsbeginn Signale an eine Maschine, die nach dem Zufallsprinzip Nummern aus dem Zürcher Telefonbuch anwählte. Nahm jemand ab, konnten wiederum Besucher einer Installation im Cabaret Voltaire das Spektakel verfolgen – über Telefonhörer, die zu Dutzenden von der Decke baumelten. Die Angerufenen reagierten teils konsterniert, teils mit Humor. Wenig amüsiert zeigte sich der damalige Intendant des Opernhauses, Alexander Pereira, der mit rechtlichen Schritten drohte.


    Zehn Wochen lang dauerte der Lauschangriff, bis Mitarbeiter des Hauses Ende Mai das letzte versteckte Mobiltelefon fanden. Bitnik hatte bis dahin mehr als 90 Stunden Oper in über 4000 Privathaushalte übertragen. Medial allgegenwärtige Live-Stream-Angebote, die während der virusbedingten Theaterschliessungen gerade einen Boom erleben, waren vor 13 Jahren noch Zukunftsmusik. Ein Operntelefon für eine privilegierte Minderheit gab es dagegen schon viel früher.


    In der Illusion gefangen

    Bereits 1881 präsentierte der französische Erfinder Clément Ader bei der Ersten Internationalen Elektrizitätsausstellung in Paris einen Fernsprecher, über den man Opernaufführungen und Konzerten auch aus weiterer Entfernung zuhören konnte. Erst sechs Jahre später meldete Emil Berliner das Grammophon und die Schallplatte zum Patent an. Bis das Radio in die Wohnzimmer einzog, sollte es noch Jahrzehnte dauern.


    Die Besucher der Elektrizitätsausstellung im Palais de l’Industrie an den Champs-Elysées standen geduldig Schlange, um die sensationelle Neuerung zu testen. Durch Hörmuscheln, die sie an beide Ohren hielten, lauschten sie Musik, die von Mikrofonen am Rand der Bühne der Opéra Garnier aufgefangen und weitergeleitet wurde. Es entstand ein Stereoeffekt, sogar die Bewegungen der Sänger auf der Bühne liessen sich in der Hörwahrnehmung verfolgen. Manche Zuhörer waren derart in der Illusion gefangen, dass sie schliesslich die Kopfhörer absetzten und zu applaudieren begannen.


    Aders Erfindung sorgte bei der Weltausstellung 1889 erneut für Furore. Unter dem Namen «Theatrophon» wurde das Telefon international zum beliebten Unterhaltungsmedium, noch bevor es sich als Kommunikationsmittel durchsetzen konnte. In Hotels, Restaurants und Cafés der französischen Hauptstadt liess Aders Compagnie du Théâtrophone Münzfernsprecher installieren. Die Abonnentenzahlen stiegen, und besonders Betuchte leisteten sich sogar kostspielige Privatanschlüsse.


    Das belgische Königspaar hörte in seiner Sommerresidenz Rossinis «Guillaume Tell» und den «Barbier von Sevilla». Unter dem Namen «Electrophone» brachte das Telefon dem Publikum in Grossbritannien Aufführungen nicht nur aus dem Royal Opera House Covent Garden, sondern auch aus Paris nahe. Queen Victoria zählte ebenfalls zu den Kunden. In Deutschland experimentierte das Nationaltheater in München mit der Technologie, und aus der alten Berliner Philharmonie wurden Konzerte in Hörkabinette übertragen.


    Literarische Früchte

    Das Theatrophon erschien vielen Zeitgenossen als so utopisch, dass es bald auch die Phantasien von Literaten beflügelte. In seinem 1888 erschienenen «Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887» stellte sich der amerikanische Science-Fiction-Autor Edward Bellamy vor, wie in der Zukunft Orchesterkonzerte über Telefonleitungen rund um die Uhr in Wohnungen empfangen werden. Bezahlt wird – wie auch heute – mit der Kreditkarte.


    Der französische Schriftsteller Jules Verne versetzte in seinem phantastischen Roman «Die Propellerinsel» vier Musiker auf ein künstliches, schwimmendes Eiland. Über Theatrophone, die durch Unterseekabel mit dem Rest der Welt verbunden sind, können sie aus der Ferne miterleben, was in den bekanntesten Konzertsälen vor sich geht.


    Marcel Proust, dessen epochaler Roman «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» vielfältige Bezüge zur Musik aufweist, war selbst Abonnent des Theatrophons. 1911 führte er sich auf diese Weise zu Hause Wagners «Meistersinger» und Debussys «Pelléas et Mélisande» zu Gemüte. Der Hörgenuss wurde allerdings durch die dürftige Tonqualität empfindlich getrübt. Einmal sei ihm gar nicht aufgefallen, dass inzwischen die Pause begonnen habe, scherzte er in einem Brief an seinen Freund Reynaldo Hahn. Eine Verbindung zwischen Fernsprecher und Opernmusik wird auch in der «Recherche» erkennbar. Als der Erzähler Marcel im Band «Sodome et Gomorrhe» eifersüchtig einen Anruf seiner Freundin Albertine erwartet, verquickt sich in seiner Vorstellung die Erinnerung an zwei Szenen aus Wagners «Tristan» mit dem mechanischen Geräusch des Telefons.

  • In dem Fragment gebliebenen «Passagen-Werk» bezeichnet der Philosoph Walter Benjamin das Theatrophon als Vorläufer des Grammophons. Letzteres war für ihn als Vehikel zur mechanischen Reproduktion von Musik den aus seiner Sicht veralteten und somit dem Geist der Pariser Passagen verhafteten Musikkapellen überlegen. In seinem erstmals 1936 veröffentlichten Essay «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit» hebt er die Überlegenheit massenhaft verbreiteter Kopien gegenüber dem einmaligen, in seiner Aura befangenen Kunstwerk hervor.



    Ein gut situiertes Publikum vergnügt sich im Jahr 1903 in einem «Electrophone»-Salon in London.


    Benjamin zitiert aus Paul Valérys visionärem Text «Die Eroberung der Allgegenwart», in dem der Dichter 1928 unter dem Eindruck der ersten Übertragung eines klassischen Konzerts im Radio den Einfluss moderner Technologien auf die Künste reflektiert. «Wie Wasser, Gas und elektrischer Strom von weit her auf einen fast unmerklichen Handgriff hin in unsere Wohnungen kommen, um uns zu bedienen, so werden wir mit Bildern oder mit Tonfolgen versehen werden, die sich, auf einen kleinen Griff, fast ein Zeichen einstellen und uns ebenso wieder verlassen.»


    «Chockwirkung»

    Die wachsende Verbreitung des Radios führte dazu, dass das Theatrophon Anfang der 1930er Jahre in der Versenkung verschwand. In der Schweiz überlebte es indes noch mehrere Jahrzehnte als Telefonrundspruch. Durch dieses 1931 eingeführte Drahtfunkverfahren wurden auch Musikprogramme über Telefonleitungen verbreitet und mit «Biennophonen» empfangen. Die historischen Geräte laufen noch heute in den Zimmern des Hotels Schatzalp in Davos, da UKW-Wellen in das herkömmliche Telefonrundspruch-Signal umgewandelt werden können.


    Mit dem Rundfunk als neuem Massenmedium befasste sich Benjamin bereits seit Mitte der 1920er Jahre. In seinem «Kunstwerk»-Essay spricht er aber mit Blick auf die von ihm nur am Rande erwähnte Musik nicht vom Radio, sondern von der Schallplatte: Das «Chorwerk, das in einem Saal oder unter freiem Himmel exekutiert wurde, lässt sich in einem Zimmer vernehmen.» Das nicht mehr erreichbare Original kommt auf diese Weise dem Rezipienten entgegen. Im Gegensatz zu einer Rundfunkübertragung ist die Schallplattenaufnahme dazu geeignet, Musik materiell zu fixieren und in den eigenen vier Wänden beliebig oft reproduzierbar zu machen.


    Das Medium, das durch seine «Chockwirkung» auf den Betrachter mehr noch als die Fotografie die Zertrümmerung der Aura vollzieht, ist für Benjamin jedoch der Tonfilm. «Im Kino fallen kritische und geniessende Haltung des Publikums zusammen», konstatiert er in seinem bahnbrechenden Text. Dessen Thesen zur Verbreitung und Rezeption von Kunst liefern auch im digitalen Zeitalter noch Denkanstösse.


    Benjamin ahnte nichts von heutigen Opern- und Konzertübertragungen im Internet, die neben der akustischen auch eine visuelle Komponente haben. Anders als früher das Theatrophon sind Live-Streams im Internet nicht nur einer Minderheit, sondern der breiten Öffentlichkeit zugänglich. Bleibt die Frage, ob sie den Zuschauern mehr bieten als bloss die Illusion, in Echtzeit einem räumlich entfernten Ereignis beizuwohnen.


    Wirkung als Opiat?

    Womöglich kann der Live-Stream am Ende erst dann zu einer eigenen Kunstform werden, wenn er die Zuschauer durch verfremdende Schnitte und andere künstliche Effekte wachrüttelt und Distanz zum Dargebotenen schafft. Sobald der Stream «on demand» aus dem Archiv abrufbar ist, kann sich der Nutzer freilich schon durch Vor- und Zurückspulen oder vorzeitiges Abschalten vom passiven Konsumenten zum Akteur wandeln.


    In einem live miterlebten Konzert ist freilich immer eine Spur des kultisch verehrten Originals zu erkennen. Erst die technische Reproduzierbarkeit von Kunst und die Wahrnehmung dieses Prozesses durch den Betrachter lassen, laut Benjamin, die Aura verschwinden.


    «Die Kunst ist sittlich, sofern sie weckt. Aber wie, wenn sie das Gegenteil tut? Wenn sie betäubt, einschläfert, der Aktivität und dem Fortschritt entgegenarbeitet?», so fragt warnend der Aufklärungsliterat Lodovico Settembrini in Thomas Manns Roman «Der Zauberberg», als die Gäste des Davoser Sanatoriums in sich versunken einem Kurkonzert lauschen. Denn er weiss wohl: «Auch das kann die Musik, auch auf die Wirkung der Opiate versteht sie sich aus dem Grunde.»


    Quelle: https://www.nzz.ch/feuilleton/…-zum-streaming-ld.1553814