Literatur trifft auf Brettspiel - und selbst Fallout ist an Bord. Wenn ein Thema zum Start der Spielvertiefung passt, dann ist es Nemo's War: Erstens war der Captain aus dem berühmten Roman von Jules Verne (20.000 Meilen unter dem Meer) auch auf Schatzsuche unter der Oberfläche. Zweitens beginne ich dieses Magazin ebenso auf mich allein gestellt wie man dieses edle Brettspiel mit seinen tollen Illustrationen bestreitet. Diese Rezension gibt es auch als Podcast.
Von Fallout zur Nautilus
Das Besondere ist aber nicht nur der Fokus auf diesen einsamen Spielmodus oder das wunderbare Artdesign von Ian O'Toole, sondern dass der Autor eine prominente Videospielgeschichte vorweisen kann. Überhaupt gibt es mehr Verbindungen zwischen analogen und digitalen Spielen als man denkt. Deshalb ein kleiner Ausflug: Bevor ich erkläre, warum mich Nemo's War so gut unterhält, möchte ich Chris Taylor kurz vorstellen.
Den Kalifornier dürften vermutlich die wenigsten Brettspieler kennen, aber einige ältere Videospieler könnten ihn noch in Erinnerung haben - falls sie ihn nicht mit seinem prominenteren Namensvetter, dem Kanadier Chris Taylor verwechseln, der u.a. Total Annihilation, Dungeon Siege und Supreme Commander designt hat; dessen Studio Gas Powered Games wurde 2018 geschlossen.
Der andere Chris Taylor
Aber dieser Chris Taylor, der Nemo's War konzipierte, war nicht weniger als der Lead Designer von Fallout aus dem Jahr 1997. Später hat er an Star Trek: Starfleet Command, Stonekeep, Fallout 2 sowie The Lords of the Rings Online gearbeitet. Und fast hätte er auch ein Comeback mit Fallout Online gefeiert. Aber das MMO wurde 2012 nach einem Rechtsstreit mit Bethesda eingestampft. Sechs Jahre später ist daraus dann quasi Fallout 76 entstanden.
Zusammen mit einigen Veteranen gründete Chris Taylor 2005 seine eigene Brettspielfirma namens Zero Radius Games. Besonders bekannte Spiele gibt es nicht, aber 2016 erschien die Karten-Taktik Pillars of Eternity: Lords of the Eastern Reach auf Grundlage des gleichnamigen Rollenspiels. Das stammte von welchem Studio? Richtig: Obsidian Entertainment. Und hier schließt sich ein Kreis, denn mit dessen Chef Feargus Urquhart hatte Chris Taylor schon das erste Fallout entwickelt. Doch jetzt zurück zum Brettspiel und zur Nautilus. Worum geht es da?
Offenes Abenteuer
In Nemo's War gilt es, so lange wie möglich als Kapitän mit der Nautilus zu überleben. Dabei sammelt man Siegpunkte und erreicht im Idealfall nach drei Akten das Finale, so dass einer von 20 (!) Epilogen vorgelesen wird. Dabei handelt es sich nicht um eine schnöde Zeile mit Gratulation, sondern um einen kleinen ideologischen sowie politischen Ausblick unter einem jeweils anders gezeichneten Portrait Nemos. All das wird in einem separaten Heft gesammelt - eine klasse Idee, die der literarischen Vorlage gerecht wird und zur Vorfreude auf das Ziel beiträgt.
Aber bis dahin ist es ein weiter Weg! Auf der gefährlichen Reise, die einen gut zwei Stunden beschäftigen kann, hat man es mit der Kriegsmarine diverser Nationen sowie zig Gefahren auf den Weltmeeren zu tun. Man ist mit einer Crew samt Geiseln unterwegs, darunter auch Professor Aronnax, der Erzähler aus 20.000 Meilen unter dem Meer. Man kann sein U-Boot verbessern, geheime Routen finden, Schätze bergen, Schiffe versenken und nicht nur reichlich Beute machen, sondern auch Rebellionen anzetteln oder direkt gegen den Imperialismus kämpfen.
Klingt ein bisschen nach einem Steampunk-Piraten-Leben? Tatsächlich ist die Nautilus der fiktiven 1920er Jahre ähnlich anarchistisch und frei unterwegs, während ihr geheimnisvoller Kapitän gefürchtet wird. Auch dieser Konflikt wird im Brettspiel thematisiert. Also Vorsicht: Je mehr man aufgrund seiner Taten auffällt, desto negativer hallt der Ruf in den Medien nach, was eine gezielte Jagd oder gar Ächtung nach sich ziehen kann - dann heißt es sofort Game Over. Aber keine Bange, die Balance ist so gelungen, dass man meist gegensteuern kann. Nemo's War ist ein sehr gutes Beispiel für offenes Design mit sinnvollen Wechselwirkungen und zig hilfreichen Modifikationen, die zum Grübeln einladen.