Graphic Novels von Literaturklassikern

  • Graphic Novels von Literaturklassikern

    Mehr als nur bebilderte Romane


    „20.000 Meilen unter dem Meer“ wurde schon oft als Comic adaptiert – jüngst von Thilo Krapp. © carlsen Verlag / Thilo Krapp


    Von Christian Blees · 17.06.2022

    Audio herunterladen 29:34 Minuten


    Viele Klassiker liegen mittlerweile als Graphic Novel vor – von Büchners „Woyzeck“ über „Frankenstein“ bis zu Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Nicht alle sind gelungen, aber manche sind sogar reizvoller als die Originale.


    „Für mich persönlich sind gute Literatur-Adaptionen solche, die sich was trauen. Die sich mit einem literarischen Text auseinandersetzen – und nicht einfach nur versuchen, ihn abzubilden“, sagt die Literaturwissenschaftlerin Juliane Blank.

    Der Illustrator Thilo Krapp meint: „Ich denke nicht an einen Mehrwert. Weil: Der Mehrwert ergibt sich dadurch, dass ich es überhaupt umsetze in ein anderes Medium. Und wenn man etwas adaptiert, dann bringt man sich zwangsläufig mit ein, sonst kann man gar nicht adaptieren.“

    Und der Autor Kai Meyer sagt: „Gelungen ist sie für mich in dem Moment, in dem ich das Gefühl habe, der Comic gibt wirklich den Roman wieder.“


    Keine Comics, sondern Graphic Novels

    Im deutschsprachigen Raum sind Literaturadaptionen in Comicform seit jeher stark von der Tradition der Illustrierten Klassiker beeinflusst, einer Reihe, die bei verschiedenen Verlagen zwischen 1952 und 1972 erschien und in der, wie es im Untertitel heißt, „die spannendsten Geschichten der Weltliteratur“ als Comic veröffentlicht wurden. Darum beruhen viele derartige Titel auch heute noch auf berühmten Romanen. Allerdings wird eine mehr oder weniger umfangreiche grafische Erzählung heutzutage nicht länger als Comic bezeichnet, sondern als Graphic Novel – also als „grafischer Roman“.

    Der Berliner Illustrator Thilo Krapp sagt: „Je mehr man das Original schätzt, desto mehr sollte man versuchen, dem auch gerecht zu werden, indem man sich nicht zu weit davon entfernt.“

    Anfang 2017 veröffentlichte Thilo Krapp den H.-G.-Wells-Klassiker „Der Krieg der Welten“ als Graphic Novel. Jetzt, gut fünf Jahre später, legt der 36-Jährige erneut eine Literaturadaption vor: „20.000 Meilen unter dem Meer“ von Jules Verne ist kürzlich beim Hamburger Carlsen Verlag erschienen.

    Wie der Roman aus dem Jahr 1870 schildert auch die Comicfassung die Erlebnisse des französischen Meereskundlers Pierre Aronnax. Aronnax stößt in Begleitung seines Dieners Conseil sowie des kanadischen Harpuniers Ned Land im Nordpazifik auf das mysteriöse Unterseeboot von Kapitän Nemo. An Bord der „Nautilus“ erleben Aronnax, Conseil und Ned Land aufregende Abenteuer.


    Eine eigene Architektur entwickelt

    Krapp erläutert: „Allein durch die Art schon, wie ich es zeichne, ergibt sich ja eine eigene Interpretation. Ich habe mir zum Beispiel ein ganzes Gestaltungskonzept überlegt für die „Nautilus“ von innen.“ Bei Krapp fällt der Salon der „Nautilus“ nicht so gewaltig aus wie im Roman, aber doch zumindest deutlich höher als in der Walt-Disney-Verfilmung von 1954. Und dennoch wird dem Betrachter auf jeder Seite klar, dass sich die Protagonisten an Bord eines Unterseebootes bewegen.

    Krapp sagt dazu: „Dann habe ich eine Architektur entwickelt, die sich an Jugendstil-Eisenarchitektur orientiert, die es zwar erst später gegeben hat, als die Geschichte spielt, aber Nemo ist ein Visionär. Der ist gestalterisch und von der Konstruktion her seiner Zeit voraus. Und das hat sehr gut funktioniert.“

    Im Vergleich zu Jules Vernes Vorlage hat Thilo Krapp seine Graphic Novel kaum gekürzt. Darum fällt die Adaption mit 250 Seiten ziemlich umfangreich aus und unterscheidet sich damit von all den anderen 20.000-Meilen-Comics, die im Laufe der vergangenen Jahrzehnte bereits erschienen sind.


    Lieber auf die Stärken gucken

    Juliane Blank ist Leiterin des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft an der Universität des Saarlandes sowie Autorin des Buches „Literaturadaptionen im Comic“. Sie findet illustrierte Klassiker dann überzeugend, wenn diese sich mit einem literarischen Text auseinandersetzen und nicht einfach nur versuchen, ihn abzubilden. Eine Adaption – egal, ob im Comic oder im Film – sei dem Ausgangstext keineswegs zu irgendwas verpflichtet und müsse ihn nicht nachbilden oder nacherzählen.

    Ähnlich wie bei Literaturverfilmungen bleibt bei der Umsetzung in ein anderes Medium manches vom Originalstoff auf der Strecke. Doch mit dem Blick, was bei einer Adaption alles fehlt, sollte man nicht an die Sache rangehen. Blank meint: „Dann sieht man die eigentlich interessanten und wichtigen Sachen nicht mehr. Dann verpasst man die Chance, sich genau anzugucken, was diese Adaptionen eigentlich tun.“

    Juliane Blank rät, stattdessen auf die potenziellen Stärken einer Graphic Novel zu achten. Dazu gehört nicht zuletzt die Anordnung der Bilder – im Fachjargon Panels – auf einer einzelnen Seite: „Wie sieht das Layout aus? Denn das Layout hat eine wichtige Aussagefunktion im Comic. Das Layout ist selten einfach nur ästhetisch, das Layout erzählt. Das Layout ist sozusagen ein strukturelles Mittel, das die Literatur-Adaption im Comic verwendet, um mehr zu tun, als einfach nur etwas abzubilden oder etwas nachzuerzählen.“


    Science Fiction oder schizoider Schub?

    Ein gutes Beispiel dafür, wie eine Graphic Novel ihre spezifischen Stärken im Zuge einer Literaturadaption zur Geltung bringen kann, ist im April 2022 beim Ludwigsburger Verlag Cross Cult erschienen. Der Comic „Schlachthof 5“ des spanischen Künstlers Albert Monteys basiert auf Kurt Vonneguts gleichnamigem Roman von 1969. In diesem hatte der US-amerikanische Autor seine Erlebnisse als Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg während der Luftangriffe auf Dresden verarbeitet.

    Der Comicexperte Filip Kolek erläutert: „Es erzählt ja auf zig verschiedenen Zeitebenen seine Geschichte und es erzählt auch auf ganz vielen verschiedenen psychischen Zustandsebenen. Man weiß nie genau: Wo ist der Protagonist jetzt unterwegs, weil er schwer traumatisiert ist von seinem Kriegseinsatz. Und er reist sozusagen durch die Zeit, er ist aus der Zeit herausgebrochen. Man weiß nie genau, ob das jetzt tatsächlich ein Science-Fiction-Buch ist, was man liest oder einfach ein schwer traumatisierter Mensch, der so eine Art schizoide Schübe hat. Und dann so ein Werk zu nehmen, was schon so fragmentiert ist, und als Comic zu erzählen – einem Medium, was ja auch wunderbar fragmentarisch arbeiten kann, durch diese ganzen Panelstrukturen – das ist schon eine ganz besondere Lesefreude.“

    Der Zeichner Albert Monteys bedient sich in seiner Version von „Schlachthof 5“ einer breiten Palette an grafischen Mitteln. Indem Monteys die verschiedenen Stile und Layouts gekonnt miteinander vermischt, werden die psychischen Brüche des Protagonisten auch für ungeübte Leser auf Anhieb deutlich.

  • Literatur und Comic nähern sich an

    Neben reinen Comicverlagen sind in den vergangenen Jahren auch vereinzelte Traditionsverlage dazu übergegangen, Graphic Novels zu veröffentlichen. So etwa der Suhrkamp Verlag oder die Büchergilde Gutenberg. Dadurch wurde die vormals strikte Abgrenzung zwischen Literatur und Comic zusätzlich aufgeweicht.

    „In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Graphic Novel nach und nach immer mehr etabliert im Buchhandel, im Feuilleton, im Kulturbetrieb allgemein“, erzählt Kolek. „Und da ist die Literatur-Adaption ein starker Pfeiler für diese Entwicklung gewesen. Viele BuchhändlerInnen und auch viele Eltern haben den Comic durch die Literaturadaptionen entdeckt.“

    „Ich bin da ganz egoistisch. Ich möchte meine Romane als Comic sehen“, sagt Kai Meyer, Schriftsteller und Comicfan. Inzwischen liegen knapp zwei Dutzend Bücher des Bestsellerautors aus Herford auch als Graphic Novel vor. Zuletzt erschien bei Splitter im März 2022 der Gruselroman „Phantasmen“.


    Kängurus und nasse Fische

    Kai Meyer ist ein gutes Beispiel dafür, dass Literaturadaptionen in Comicform hierzulande selbst dann erfolgreich sein können, wenn diese nicht auf einem Klassiker basieren – und die Vorlage auch noch von einem deutschen Autor stammt. Andere Belege sind zwei bei Carlsen erschienene Graphic Novels, die auf Marc-Uwe Klings „Känguru-Chroniken“ beziehungsweise Volker Kutschers Roman „Der nasse Fisch“ beruhen. Letztere war sogar derart erfolgreich, dass der Hamburger Illustrator Arne Jysch momentan bereits an der nächsten Umsetzung eines Gereon-Rath-Krimis sitzt. Während Jysch dabei weitgehend selbstständig vorgeht, arbeitet der Autor Kai Meyer seit jeher eng mit den verschiedenen Künstlern und Szenaristen zusammen, die seine Bücher in Bilder übertragen.

    Die Vorgehensweise der einzelnen Künstler ist sehr unterschiedlich. Für Meyer ist es essenziell, dass die Leser der Graphic Novel beim Betrachten der Bilder auf Anhieb verstehen, was passiert. Mit gewissen Einschränkungen beim Umsetzen ins grafische Medium hat sich Meyer längst abgefunden. Er meint: „Gelungen ist sie für mich in dem Moment, in dem ich das Gefühl habe, der Comic gibt wirklich den Roman wieder. Also, die Leute, die den Roman nicht kennen und nur die Graphic Novel oder nur den Comic lesen, haben trotzdem letztlich dieselbe Geschichte vor sich wie diejenigen, die den Roman lesen.“

    Der Splitter Verlag ist einer der Vorreiter, wenn es um Comic-Literaturadaptionen geht. Neben zeitgenössischen Autoren wie Kai Meyer oder Sebastian Fitzek bestimmen auch hier nach wie vor Klassiker das Programm. So erscheinen bei Splitter im Sommer 2022 unter anderem Shakespeares „Macbeth“ und Mary Shelleys „Frankenstein“ als Graphic Novel. Die passenden Zeichner für derlei Umsetzungen zu finden, scheint dabei keineswegs einfach zu sein.


    Zeichner gesucht

    „Viele Zeichnerinnen und Zeichner, vor allem auch junge, wollen lieber ihre eigenen Projekte machen“, erläutert Splitter-Pressesprecher Max Schlegel: „Aber für so eine Adaption muss man sich dann halt auch einfach mal zwei oder drei Jahre mit dem Werk eines anderen befassen, und das wollen viele nicht oder haben nicht den Nerv, das durchzuziehen.“

    Für die 200-seitige Umsetzung des Sebastian-Fitzek-Thrillers „Der Augensammler“ als Graphic Novel benötigte der Zeichner Frank Schmolke gerade einmal 18 Monate – ein rekordverdächtig kurzer Zeitraum. Zum Vergleich: Thilo Krapp nahm sich für die 250 Seiten seiner Graphic Novel „20.000 Meilen unter dem Meer“ über vier Jahre lang Zeit.

    Schlegel sagt: „Das ist ein wahnsinniger Arbeitsaufwand, den auch Außenstehende, vor allem auch Autorinnen und Autoren, häufig nicht realistisch einschätzen. Sehr gute, herausragende Zeichnerinnen und Zeichner brauchen für eine Seite auch gerne mal drei Tage – oder vier.“


    Eine neue Perspektive auf das Werk

    Liegt eine Graphic Novel endlich fertig gezeichnet vor, dann ist die Arbeit daran noch lange nicht getan. Als nächste Schritte folgen die Kolorierung sowie oft mehrere Korrekturdurchgänge. Damit sich der Comic am Ende hoffentlich gut verkauft, muss das Ganze aber nicht nur optisch etwas hermachen. Die Graphic Novel muss auch gut erzählt sein. Und dahinter steckt weitaus mehr, als lediglich ein paar Hundert Bilder einigermaßen sinnvoll aneinanderzureihen.

    Schlegel meint dazu: „Das hat viel damit zu tun, dass man die Leserichtung der Leserinnen, der Leser, manipuliert und in korrekte Bahnen lenkt, dass man Dialoge so verfasst, dass die in sich stimmig sind, dass man Formsprachen, Bildsprachen, Farbwelten entwickelt. Das ist in dem Zusammenhang fast mehr wie einen Film zu machen, als wie einen Roman zu schreiben. Und wenn diese ganzen handwerklichen Sachen stimmen, denke ich, dass eine Adaption für ein Literaturwerk eine neue Perspektive auf das Werk geben kann.“

    Eine eigenständige Kunstform sind Graphic Novels inzwischen längst – völlig unabhängig davon, ob es sich im Einzelfall um ein eigenständiges Werk oder um eine Literaturadaption handelt.

    (DW)


    Sprecher: Tilmar Kuhn

    Regie: Stefanie Lazai

    Ton: Martin Eichberg

    Redaktion: Dorothea Westphal


    Quelle: https://www.deutschlandfunkkul…rierte-klassiker-100.html