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Das zweite Gesicht oder die Verfolgung rund um die Erde Band 2
von Thomas Harbach
Robert Kraft
Der zweite der vierbändigen Neuauflage von Robert Krafts “Das zweite Gesicht oder die Verfolgung rund um die Erde” umfasst die Lieferungen 32 bis 58. Im Gegensatz zu Karl May, der gerne umfassend auf einzelne Ereignisse zurückblickt und sie sie den Lesern noch einmal zusammenfasst, treibt Robert Kraft die Handlung auf verschiedenen Handlungsebenen mit einer fast unüberschaubaren Anzahl von Protagonisten voran. Es ist wichtig, die Lieferungen in der chronologischen Reihenfolge zu lesen.
Schon die ersten hier zusammengefassten Lieferungen zeigen die handlungstechnische Bandbreite, die Robert Kraft fast ein wenig überambitioniert vor den teilweise überforderten Lesern ausbreitet.
Am Zugänglichsten und Karl May am Ähnlichsten ist die Befreiung einer natürlich weißen Frau aus der bevorstehenden Sklaverei. Während bei Karl May meistens Kara Ben Nemsi alleine in den Ring treten muss, um die Frau vor einem schlimmen unaussprechlichen Schicksal zu bewahren, ist es hier eine ganze Gruppe von aus den USA angeforderten Cowboys, welche sich mit den arabischen Gegnern messen müssen. Hinzu kommt, dass bei Robert Kraft diese Duelle auch tödlich enden können. Die Herausforderungen könnten nicht unterschiedlicher sein.
An einer anderen Stelle müssen sich Männer ebenfalls um eine Frau streiten, die dem Sieger eine Art Ehevertrag für ein Jahr anbietet. Natürlich auch gegen ihren eigenen Willen. Dabei reicht das Spektrum von roher brutaler Kraft bis intellektueller Schlitzäugigkeit. Die zweite Handlungsebene ist das Mystische oder besser Obskure. Mit dem über das zweite Gesicht verfügende und gesuchte Mädchen verfügt Robert Kraft über ein Element, das es ihm ermöglicht, Teile der Handlung vorwegzunehmen. So prophezeit das Mädchen einem der Protagonisten, das er gefoltert, aber auch gerettet wird. Ihre Fähigkeiten sind wie vieles in diesem Roman eher ambivalent. Sie kann mit dem zweiten Gesicht auch Ereignisse sehen, die außerhalb ihrer Wahrnehmung ist. Der Blick ist die Zukunft wie bei der Vorhersage der Folter wird dabei von Robert Kraft nicht konsequent genug umgesetzt. Mal kann sie klar etwas erkennen, dann ist wieder alles verschwommen.
Ein weiterer mystischer Aspekt des Buches ist die Seelenwanderung. Dabei übernimmt Robert Kraft Ideen aus Indien, die er mit utopischen Elementen kombiniert. So kann die menschliche Seele auch in Tiere wie einen kleinen Fuchs eindringen. An einer anderen Seele “überlebt” der Erzschurke seinen Tod, in dem sein Bewusstsein in den Körper eines jungen Mannes eindringt. Der Mann wird halbtot aus dem Meer gefischt. Er hat sein Gedächtnis verloren. Das gilt auch bis zu einem bestimmten Grad für die in ihn eingedrungene Seele. Ein alter Jude - Dieter von Reeken weist auf den rassistisch erscheinenden Gehalt dieser Sequenzen hin, will sie aber für die Neuauflage aus dem historischen Kontext der Erstveröffentlichung nicht bereinigen - versucht das Gedächtnis des Mannes wieder zu reaktivieren, in dem er ihn mit den verschiedenen bisher auch den Lesern bekannten Persönlichkeiten konfrontiert.
Klassische an Karl May erinnernde Abenteuer Sequenzen stehen in diesem Lieferungsroman den technisch utopischen Stoffen gegenüber, die Robert Kraft zu einem marketingtechnisch deutschen Jules Vernes gemacht haben.
Almansor bekämpft die Bande der Schlüsselbrüder. Er verfügt über einen Zeppelin, der sich unsichtbar machen kann. Hinzu kommt anscheinend auch eine schwer bewaffnete Yacht, mit welcher er das unter türkischer Flagge fahrende Schiff angreifen und versenken will. Im Gegensatz zu Kapitän Nemo hat Almansor zwar die technischen Möglichkeiten, sich zu einer Art Herr der Welt aufzuschwingen, aber nicht keine Ambitionen in diese Richtung. Es geht ihm um die Bekämpfung des Bösen in Form der Schlüsselbrüder. Auch hier ist Robert Kraft deutlich weniger
zimperlich als Karl May. So werden die Mitglieder einer der Karawanen mittels Gift getötet. In der Wüste werden mehr als einhundert Leichen gefunden.
Robert Kraft überspannt allerdings auch den Bogen. So führt ein Indianer die mumifizierte Leiche seiner Frau mit sich und hat in Ägypten Schwierigkeiten mit dem Zoll. Der will sie untersuchen und noch ein weiteres Mal aufschneiden. Diese Sequenz nimmt im Vergleich zu anderen die Handlung voran treibenden Szenen sehr viel Raum ein und endet schließlich im inhaltlichen “Nichts”.
Die ersten Lieferungen sind die am meisten faszinierenden Abschnitte des Buches.
So gibt es einen kleinen Planeten namens Gnom, auf dem die astralen Körper der Besucher leben können. Ein alter Norweger hat den Planeten so getauft. Sein Körper liegt in Christiania, dem heutigen Oslo. während sein Geist sich auf dem kleinen idyllischen Planeten frei bewegen kann. Die Bewohner sind nur noch bedingt an den irdischen Leib gebunden und so kann auf der Welt die Zeit viel schneller vergehen.
Aus einem Tag werden im Reich der Phantasie - Robert Kraft hat zu diesem Thema eine kleine Serie von nicht miteinander verbundenen Geschichten geschrieben - Jahrhunderte. Der alte Norweger kann sich mit seinem freien Willen auf diese Welt versetzen lassen, die in Miniaturform der Erde als frühzeitliches Paradies mit Holzhüttenidylle gleicht. Andere Menschen müssen sich mittels einer Nadel, also wahrscheinlich eines Betäubungsmittels entsprechend versetzen lassen.
Auch hier greift Robert Kraft weniger auf die utopisch technischen Hilfsmittel eines Jules Verne und vor allem ganz weit entfernt von den technokratischen Ideen eines Hans Dominiks zurück, sondern folgt eher Kurd Laßwitz und Carl Grunert mit ihren modernen Märchen. Im Gegensatz allerdings zu Laßwitz und Grunert entwickelt Robert Kraft für seine Theorien eine auf den Mythen des Orients und einem sagenhaften Volk basierende Legende.
Wie in den ersten knapp dreißig Lieferungen baut Robert Kraft sein Szenario immer weiter aus. Dabei steuert der Autor mindestens vier noch nicht miteinander verbundene Spannungsbogen mit unterschiedlicher Gewichtung. Das Schicksal des Mädchens mit dem zweiten Gesicht und ihrem sie suchenden Vater gerät genau wie die als Sklavin entführte Europäerin in den Hintergrund. Robert Kraft konzentriert sich auf die blutige Auseinandersetzung mit den Schlüsselbrüdern und mehrere Konflikte von origineller körperlicher Intensität.
Das Vorwärtstreiben der Handlung wirkt teilweise unübersichtlich und der Leser hat manchmal das Gefühl, als wenn Robert Kraft aus terminlicher Not eher neue Ideen aus seinem umfangreichen Werk aufgegriffen hat anstatt die Handlung konsequent weiterzuentwickeln. Aus heutiger Sicht erscheint es erstaunlich, daß als Lieferungshefte und damit über den Zeitraum von mindestens einem Jahr veröffentlichte derartig komplex, vielleicht sogar kompliziert angelegte Geschichten mit einer Vielzahl von Charakteren und Interaktionen die einfache Leserschicht bei der Stange halten konnten. Im Vergleich zu Karl Mays Lieferungsromanen mit ihren im Kern sehr stringenten Handlungen und klar definierten Protagonisten sind die Romane Robert Krafts selbst heute noch eine faszinierende wie herausfordernde, die Phantasie antreibende Lektüre. Herausgeber Dieter von Reeken hat die ursprünglichen Zeichnungen wieder liebevoll übertragen und in den Text dieses schön gestalteten Hardcovers integriert.
Band 2 (Kapitel 32–58), 455 S., 35 Illustrationen - 30,00 € — ISBN 978-3-945807-64-4
Verlag Dieter von Reeken
Hardcover
Quelle: http://www.robots-and-dragons.de/buchecke/26836…-um-erde-band-2