Mit Jules Verne und Karl May am goldenen Horn

  • Wenn man etwas über das Verhältnis von Jules Verne und Karl May nachforscht, so zeichnet sich ein einseitiges Bild. Karl May hat in den frühen Jahren seiner Schriftstellerkarriere nachweisbar einige Schriften Jules Vernes gelesen, entsprechend zeigen sich in einigen frühen Texten Mays auch der Einfluß dieser Lektüre. Umgekehrt hat Verne May wohl nicht gelesen, obwohl es dazu durchaus Gelegenheit gegeben hätte. So wurden einige Erzählungen Mays schon relativ früh ins Französische übersetzt, in der Zeitschrift 'Le Monde' (nicht identisch mit dem heutigen Blatt' erschien ab 1881 der erste Teil des Orientzyklus (entspricht 'Durch die Wüste', 'Durchs wilde Kurdistan' & Von Bagdad nach Stambul' sowie einige weitere kleinere Geschichten, welche zwischen 1884 und 1887 sogar in einer kleinen sechsteiligen Buchausgabe veröffentlicht wurden ['La vengeance du farmer' (= 'Deadly Dust' aus 'Winnetou III') 'Les pirates de la Mer Rouge', 'Une visite aupays du diable', 'La caravane de la mort', 'Une maison mystérieuse à Stamboul' & der Sammelband 'Le roi des requins/Le Brelan américain/L'Anain du brigand' (= 'Der Ehri/Three Carde Monte/Die Gum'). Damit erschien in Frankreich früher als in Deutschland eine erste kleine Werkausgabe Mays in Buchform, die Jugendbücher wurden erst ab 1890 , die bekannten 'Grünen Bände' gar erst ab 1993 verlegt.


    Theoretisch ist es also nicht ausgeschlossen, daß Jules Verne etwas von Karl May gelesen haben könnte, zumal bis zum Tode Verne 1905 noch zwei weitere Werke Mays ins Französische übersetzt wurden ['L'empire du Dragon' (1891/92, = 'Der Kiang-lu' aus 'Am Stillen Ocean'), 'Le fils du chasseur d'ours' (1892, = 'Der Sohn des Bärenjäger'), und diese frühen französischen Buchausgaben Mays auch mit Illustrationen versehen sind, die u.a. auch von Künstlern wie Ferat und Riou geschaffen wurden, die ja auch einige der bekanntesten Werke Jules Vernes bebildert haben. Es ist aber - zumal der Absatz der erwähnten Karl-May-Bücher in Frankreich eher bescheiden war - davon auszugehen, daß Jules Verne, der nach 1970/71 ehedem auf alles was deutsch war, nicht besonders gut zu sprechen war und nach dem deutsch-französischen Krieg niemals wieder eine so sympathische deutsche Figur wie den Prof. Lidenbrock geschaffen hat, den sächsischen Autor nicht gelesen hat.


    Immerhin aber gibt es eine zufällige zeitliche Parallelität bezüglich des Abdrucks von Romanen mit dem gleichen von beiden Autoren gewählten Handlungsort. In 'Le Monde' erschien vom 14.4.1883 bis 1.5.1883 als Forsetzung der Orientreise Kara Ben Nemsis die in Stambul spielende Episode 'Une maison mystérieuse à Stamboul', parallel dazu wurde 'Kéraban-le-têtu' im 'Magasin' vom 1.1.1883 bis zum 15.10.1883 abgedruckt. Auch in diesem Falle kann Verne nicht durch may beeinflußt worden sein. Dennoch ist es vielleicht mal ganz reizvoll, die Beschreibungen beider Autoren, die sich jeweils auf die Beschreibungen fremder Gewährsmänner stützen, mal miteinander zu vergleichen. Verne wird dabei nach der Hartleben-übersetzung zitiert, von May sind auch Ausschnitte aus dem etwas später niedergeschrieben Kolportageroman 'Deutsche Herzen, deutsche Helden' (1886-1888) zu lesen, der allerdings nicht ins Französische übersetzt wurde.


    Jules Verne - Keraban, der Starrkopf: Am Tage des Beginns unserer Erzählung, dem 16. August, war der, sonst von dem Hin- und Herwogen und dem Getöse der Menge so belebte Top-Hane- Platz in Constantinopel auffallend still, düster und fast menschenleer.
    Betrachtete man ihn von der Höhe der Terrassentreppe, welche nach dem Bosporus hinabführte, so bot derselbe immer noch ein reizendes Bild, dem es nur an allem Leben fehlte. Kaum einige Stadtfremde eilten über den Platz nach den engen schmutzigen, oft mit üblem Geruch erfüllten und von herrenlosen gelbhaarigen Hunden belagerten Straßen, durch die man von hier aus nach der Vorstadt Pera gelangt. Letztere bildet bekanntlich das eigentliche Quartier der Europäer, deren steinerne Häuser sich weiß von dem dunkelgrünen Hintergrunde mit Cypressen besetzter Hügel abheben.
    Malerisch aber bleibt jener Platz immer, selbst ohne das schillernde Farbenspiel von Costümen, welches ihn sonst gewöhnlich schmückt, malerisch und augengefällig durch seine Moschee Mahmud's mit den schlanken Minarets, durch seinen hübschen Springbrunnen in arabischem Style, von dem das frühere chinesische Dach entfernt worden ist, durch seine vielen Läden, in denen hier Sorbet und tausenderlei Zuckerbackwaren verkauft werden, dort ungeheure Mengen von Kürbissen, Melonen aus Smyrna, Weintrauben aus Scutari aufgehäuft sind, während dazwischen noch Specereihandlungen liegen und Händler mit Rosenkränzen umherziehen, endlich auch durch seine Ufertreppe, an der Hunderte von buntgemalten Kajiks anlegen, deren Doppelruder unter den gekreuzten Händen der Kajiktschi (d. s. Schiffer) die blauen Wellen des Goldenen Horns und des Bosporus mehr liebkosen als durchschneiden.
    Wo waren jetzt aber die gewöhnlichen Flaneurs des Top-Hane-Platzes; jene Perser mit der coquetten Astrachan-Mütze; jene Griechen, die sich in ihrer Fustanella mit tausend Falten und Fältchen nicht ohne Eleganz hin- und herwiegen; jene Circassier mit fast ausnahmslos militärischer Haltung; jene Georgier, die bezüglich des Costüms auch jenseits ihrer Grenze noch Russen geblieben sind; jene Arnauten, deren vom Sonnenbrande geröstete Haut durch den rundlichen Ausschnitt ihrer gestickten Westen hervorsieht, und jene Türken endlich, jene Türken oder Osmanlis, die Söhne des alten Byzanz, des alten Istambul - ja, wo waren sie Alle?
    Keinesfalls hätte man eine solche Frage an zwei Fremdlinge richten dürfen, zwei Occidentalen, welche eben jetzt neugierigen Blickes, mit hoch erhobener Nase und unsicheren Schrittes fast allein auf dem genannten Platze lustwandelten; sie hätten darauf keine Antwort geben können. Aber noch mehr. Selbst in der eigentlichen Stadt, jenseits des Hafens, hätte ein Tourist dasselbe Schweigen, dieselbe Oede angetroffen. Auf der anderen Seite des Goldenen Horns - dieses tiefen Einschnittes zwischen dem alten Serail und den mit dem rechten durch drei Schiffbrücken in Verbindung gesetzt wird, schien das ganze Amphitheater von Constantinopel in Schlummer versunken zu sein. Wachte jetzt wirklich kein Mensch im Palaste von Serai-Burnu? Gab es keine Gläubigen, keine Hadjis mehr, welche nach den Moscheen Ahmed's, von Bayezidieh, der heiligen Sophie Suleïmanieh pilgerten? Hielt auch er Siesta, der sorglose Thurmwächter des Seraskierats, ebenso vielleicht, wie sein College auf dem Thurme von Galata, welche auf den Ausbruch der gerade in dieser Stadt so überaus häufigen Schadenfeuer ein wachsames Auge haben sollen? In der That, hier war nichts zu bemerken, als höchstens das nie ganz aussetzende Leben im Hafen, welches jedoch ebenfalls etwas gedämpft erschien, trotz der Flottille österreichischer, französischer und englischer Dampfer, der Zollkutter, Kajiks und Dampfschaluppen, welche sich längs der Brücken und der Häuserzeilen hindrängen, deren Grund die Wässer des Goldenen Horns umspülen.


    Zum Vergleich dazu den Anfang von Mays Kolportageroman (Titel der sog. Fischer-Ausgabe: 'Eine deutsche Sultana', erschien auch in der bearbeiteten Textfassung 'Der Derwisch' als 61. Band der 'Gesammelten Werke' des Karl-May-Verlages):


    Karl May: Deutsche Herzen, deutsche Helden: Ein schöner, nicht zu heißer Sommertag lag warm auf den schlanken Thürmen von Konstantinopel. Tausende von Anhängern aller Nationen erfreuten sich, über die beiden Brücken gehend, des zauberischen Panoramas, welches die Stadt von Außen her bietet. An den Quais lagen die Dampf- und Segelschiffe aller seefahrenden Völker, und auf den glitzernden Wogen wiegten sich die eigenthümlich geformten türkischen Gondeln und Kähne, zwischen denen zuweilen ein kühner Delphin lustig aus dem Wasser emporschnellte oder eine Gesellschaft fliegender Fische eine schwirrende Luftparthie machte.
    Von Osten her, aus der Gegend des schwarzen Meeres, kam eine kleine, allerliebste Dampfyacht geschossen, leicht und graziös zur Seite biegend, wie eine Tänzerin, welche sich am Arme ihres Tänzers, das schöne Köpfchen hingebend neigend, den berauschenden Tönen eines Strauß'schen Walzers hingiebt.
    Das schmucke, außerordentlich schnelle Fahrzeug bog um die Spitze des Stadttheiles Galata herum, ging unter den Brücken hindurch und legte sich vor Pera vor Anker. Pera ist derjenige Stadttheil von Constantinopel, welcher vorzugsweise von den Europäern und ihren Gesandten und Consuls bewohnt wird.


    Verne geht schließlich noch auf die 'Düfte des Orients' ein:


    Jules Verne - Keraban, der Starrkopf: Eben dröhnte in der Entfernung ein Kanonenschuß. Die Sonne war unter dem Horizont des Marmarameeres untergegangen, das Ramadanfest war für heute vorüber, und die getreuen Unterthanen des Padischah konnten sich schadlos halten für die Entbehrungen des langen Tages.
    Plötzlich, wie durch den Zauberschlag eines Genius, verwandelte sich nun Constantinopel. Auf die Stille auf dem Top-Hane-Platz folgte lautes Jubelrufen und Hurrahgeschrei. Cigaretten, Tschibuks, Narghiles wurden in Brand gesetzt, und die Luft erfüllte sich mit wohlriechendem Dufte. Die Cafés strotzten bald von hungrigen und durstigen Gästen.
    Gebratenes aller Art, »Yaurth«, geronnene Milch, »Kaimak«, eine Art heißer Erême, »Kebab«, Lammfleisch in seinen Scheibchen, Brotkuchen von »Baklava«, die frisch aus dem Ofen kamen, mit Weinblättern umwickelte Fleischklöschen, Schüsseln voll gesottenem Mais, ganze Fässer mit Oliven, Caviartonnen, Pilaws von Huhn, in Fett gebackene kleine Kuchen mit Honig oder Syrup gefüllt, Sorbets, Eis, Kaffee, Alles, was man im Morgenlande nur zu essen und zu trinken pflegt, erschien auf den Tafeln der Läden, während kleine, an Kupferfäden hängende Lampen auf und nieder schwankten, da die Cawadjis unablässig an dieselben stießen.
    Dann erglänzte die alte wie die neue Stadt bald in magischem Lichte. Die Moscheen der heiligen Sophia, der Suleïmanieh, des Sultan Ahmed, alle öffentlichen, religiösen und profanen Gebäude vom Seraï- Burnu bis zu den Hügeln von Eyub bedeckten sich mit vielfarbigen Laternen. Leuchtende, von einem Minaret zum anderen reichende Streifen zeigten Sprüche aus dem Koran am dunklen Himmel. Der Bosporus, dessen Wellen zahllose, mit hin und her schaukelnden Papierlaternen geschmückte Kajiks durchfurchten, glitzerte wirklich, als wenn die Sterne des Firmaments in sein Bett herabgefallen wären. Die Paläste am Ufer, die Landhäuser an den Küsten Asiens und Europas, Scutari, das alte Chrisopolis und seine amphitheatralisch über einander liegenden Häuser boten unendliche Feuerlinien, welche durch den Widerschein im Wasser verdoppelt schienen.
    Von weither dröhnte die baskische Trommel, erklangen die »Luta« oder Guitarre, der »Taburka«, der »Rebel« und die Flöte, vermischt noch mit frommen Gesängen, die den scheidenden Tag begleiteten. Und von der Höhe der Mirarets fangen die Muezzins mit einförmiger, nur drei Töne wiedergebender Stimme über die festlich glänzende Stadt das letzte kurze, aus einem türkischen und zwei arabischen Wörtern bestehende Abendgebet : »Allah, hoekk kebir!« (Gott, Gott ist groß!)


    Während in Mays Roman 'Deutsche Herzen, Deutsche Helden' ebenfalls Top-Hane erwähnt wird (z.b: Normann warf einen Blick zum Kajütenfenster hinaus und antwortete:»Wir sind bei Top Hane.« spielt dieser Stadteil im Orientzyklus keine Rolle, hier konzentriert sich May vorallem auf einige der eigentlichen Stadt vorgelagerten Quatiere, sodaß eine allzu getreue Beschreibung gar nicht von Nöten ist:


    Karl May: Von Bagdad nach Stambul: Man sagt, Kopenhagen, Dresden, Neapel und Konstantinopel seien die vier schönsten Städte Europas; ich habe keine Veranlassung, dieser Behauptung entgegenzutreten. Aber in Beziehung auf Konstantinopel muß ich doch erwähnen, daß man diese Stadt nur dann schön zu finden vermag, wenn man sie nur von außen, vom goldenen Horn aus, betrachtet; sobald man dagegen ihr Inneres betritt, wird die Enttäuschung nicht ausbleiben. Ich erinnere mich dabei jenes englischen Lords, von welchem man erzählt, daß er zwar mit seiner Dampfjacht Konstantinopel besucht, aber dabei nicht sein Fahrzeug verlassen habe. Er fuhr von Rodosto am Nordufer des Marmarameeres hin bis Stambul, lenkte in das goldene Horn ein, in welchem er bis hinauf nach Eyub und Sudludje dampfte, kehrte zurück und ging im Bosporus bis an dessen Mündung in das schwarze Meer und fuhr dann wieder zurück, in dem Bewußtsein, sich den Totaleindruck Konstantinopels nicht durch Eingehen auf die garstigen Einzelheiten verdorben zu haben.
    Betritt man hingegen die Stadt, so kommt man in enge, krumme, winkelige Gäßchen und Gassen, welche unmöglich Straßen zu nennen sind. Pflaster gibt es nur selten. Die Häuser sind meist aus Holz gebaut und kehren der Gasse eine öde, fensterlose Fronte zu. Bei jedem Schritte stößt man auf einen der häßlichen, struppigen Hunde, welche hier die Wohlfahrtspolizei zu versehen haben, und wegen der Enge der Passage muß man jeden Augenblick gewärtig sein, von Lastträgern, Pferden, Eseln und anderen tierischen oder menschlichen Passanten in den Kot gerannt zu werden.
    So war es auch auf unserem Wege nach St. Dimitri. Die Gassen waren von den Ueberresten, welche die Fisch-, Fleisch-, Obst- und Gemüsehändler weggeworfen hatten, verunreinigt; Melonenschalen faulten in ungeheuren Mengen am Boden; neben den Fleischereien stank das Blut in breiten Löchern; Kadaver von Hunden, Katzen und Ratten, abgerissene Stücke von gefallenen Pferden hauchten einen fürchterlichen Geruch aus; Geier und Hunde waren die einzigen Wesen, welche für die Milderung dieses unerträglichen Zustandes sorgten. Wir konnten kaum den Hammals ausweichen, welche große Steine, Bretter und Balken durch die verwahrlosten Gassen schleppten, und begegnete uns einmal ein bepackter Esel, ein dicker, berittener Muselmann oder ein mit Ochsen bespannter Frauenwagen, so war es geradezu eine Kunst, vorüber zu kommen, ohne zerquetscht zu werden.

  • Ein anderer Vorort Stambul, den May häufig erwähnt, da es die Heimat einiger Charaktere wie den französischen Kaufmann Galingré sowie der Schurkenfamilie der Amasats ist, ist Skutari. Da der Ort selber aber im Roman nicht bereist wird, gibt es bei May entsprchend keine Beschreibung dieses Flecken Erde. Anders hingegen bei Verne:


    Jules Verne - Keraban, der Starrkopf:Es war eine der schönsten Lagen, die sich nur träumen lassen, in der sich, auf der Höhe des Hügels, den das Häusergewirr von Scutari einnimmt, die Villa des Seigneur Keraban erhob.
    Scutari, die asiatische Vorstadt von Constantinopel, das alte Chrysopolis, seine Moscheen mit vergoldeten Dächern, das merkwürdig bunte Bild seiner Stadtviertel, in denen sich eine Bevölkerung von 50.000 Seelen zusammendrängt, sein auf dem Wasser der Meerenge schwimmender Ausladeplatz, der ungeheure Hintergrund von Cypressen auf seinem Friedhofe, der bevorzugte Ruheplatz der reichen Muselmanen, welche fürchten, daß die Hauptstadt, einer lang fortgeerbten Sage nach, einst erobert würde, wenn die Gläubigen beim Gebete sind - ferner, eine Lieue von hier, der Berg Bulgnotu, der das Ganze überragt und einen weiten Ausblick gewährt über das Marmarameer, den Golf von Nicomedien, den Canal von Constantinopel - nichts vermag eine Vorstellung zu geben von diesem, in der Welt geradezu einzigen Panorama, nach welchem sich die Fenster der Villa des reichen Kaufmannes öffneten.
    Diesem Aeußeren, dem terrassenförmigen Garten mit schönen Bäumen, wie Platanen, Buchen und Cypressen, welche jenen beschatten, entsprach ganz das Innere der prächtigen Wohnstätte. Wahrlich, es wäre schade gewesen, sich derselben zu entäußern, um nicht täglich die wenigen Paras zu erlegen, mit welchen augenblicklich die Cajiks des Bosporus besteuert waren.
    [2. Buch, Kapitel 14]


    Dieser Kajiktschis giebt es auf den Gewässern des Bosporus und des Goldenen Horns Tausende. Ihre Boote laufen am Vorder- wie am Hintertheile gleichmäßig spitz aus, um in beiden Richtungen bequem fahren zu können, und haben etwa die Form fünfzehn bis zwanzig Fuß langer Schlittschuhe, welche aus einigen mit Bildhauerarbeit und im Innern mit Malereien geschmückten Planken von Buchen- und Cypressenholz gezimmert werden. Es ist überraschend zu sehen, mit welcher Schnelligkeit diese schlanken Boote dahingleiten, einander kreuzen oder überholen in der herrlichen Meerenge, welche das Ufer beider Continente trennt. Die einflußreiche Zunft der Kajiktschis versieht diesen Dienst vom Anfang des Marmarameeres bis zu dem Schlosse Europas und dem Asiens, welche sich im nördlichen Theile des Bosporus gegenüberstehen. Es sind im Allgemeinen hübsche Gesellen, bekleidet mit dem »Burudjuk«, einer Art seidenem Hemd, mit lebhaft gefärbtem und mit Goldstickereien verziertem »Yelek«, einem kurzen Beinkleid aus weißer Baumwolle, wozu sie einen »Fez«, und, während Schenkel und Arme nackt bleiben, an den Füßen selbst »Yemenis« tragen.[1. Buch, Kapitel 4]


    Auch bei May werden diese besonderen Boote erwähnt::


    Karl May: Von Bagdad nach Stambul: Ich begab mich mit Omar an das Wasser, wo wir ein Kaik nahmen und im goldenen Horn aufwärts fuhren, um in Eyub zu landen. Von hier aus gingen wir zu Fuße nach Baharive Keui, welches der nordwestlichste Stadtteil von Konstantinopel ist. Es war ein beschwerlicher Weg durch Schmutz, Unrat und Häusertrümmer, bis wir in eine Art Sackgäßchen gelangten, in welches wir einbogen.


    Ausführlicher schildert May so eine Fahrt indessen in dem Kolportageroman, für den er die Stadt Stambul wohl ausführlicher recherchiert hat:


    Karl May: Deutsche Herzen, deutsche Helden: Bereits nach einigen Minuten saßen sie in einem Kaik, um sich über das goldene Horn setzen zu lassen. Diese Kaiks sind lange, schmale, sehr leicht und schnell rudrige Boote, in denen man meist nur nach orientalischer Gewohnheit, das heißt mit untergeschlagenen Beinen sitzen kann. Der Kahn, welchen die beiden Freunde nahmen, war für mehrere Personen eingerichtet und zufälliger Weise der einzige, den es hier an dieser Stelle des Ufers gab. / Eben tauchten die beiden Kaiktschi, wie die Ruderer genannt werden, ihre Ruder in das Wasser, um vom Lande zu stoßen, als ein Mann mit beschleunigten Schritten sich näherte.
    Sie gingen an das Wasser hinab und nahmen sich ein zweirudriges Kaik. Zwischen Tophane und Fonduki stiegen sie aus.


    Im Gegensatz zur Handlung in Vernes eher heiteren Roman verschlägt es Mays Charaktere auch schon mal in düstere Gefilde:


    Karl May: Von Bagdad nach Stambul: Wir traten durch den weit geöffneten Torflügel des Gitters in den mit breiten Marmorplatten gepflasterten Hofraum. Die linke Seite desselben wurde durch einen ebenfalls umgitterten Friedhof begrenzt. Zwischen dem Gitter erblickte man unter dem Schatten hoher, dunkler Zypressen eine Menge weißer Leichensteine, welche oben mit einem turbanähnlichen Aufsatze verziert waren. Die eine Seite dieser Steine enthielt den Namen des Toten und einen Spruch aus dem Kuran. Eine beträchtliche Anzahl türkischer Frauen hatte sich diesen Friedhof zur Nachmittagspromenade ausersehen, und wohin man nur blickte, da schimmerten die weißen Schleier und farbigen Mäntel durch die Bäume. Der Türke liebt es, die Orte zu besuchen, an denen seine Toten ihren ewigen 'Kef' halten.


    Karl May: Deutsche Herzen, deutsche Helden: Sie schlugen einen Weg ein, welcher zwischen den Gräbern und Cypressengruppen in der angegebenen Richtung führte. An diesem Wege stand eine Bank, eine Seltenheit auf einem orientalischen Kirchhof. (...) Nach allen Seiten spähend, schlich er sich zwischen Platanen, Akazien, Cypressen, Trauerweiden und allerlei Sträuchern, mit denen die Gräber bepflanzt waren.


    Während bei Verne der auf einer Insel gelegende Leanderturm - der neuerdings übrigens den Namen Keuz Kulessi, d. i. Thurm der Jungfrau, führt eine nicht unerhebliche Rolle spielt, hatte es Karl May hingegen der Turm von Galata angetan:


    Karl May: Von Bagdad nach Stambul: Ich stieg zu Pferde und trabte nach Galata hinab. In den finstern Straßen dieses Stadtteiles wimmelt es von Matrosen, Schiffssoldaten, schmutzigen Töpfern, Hammaliks, zudringlichen Schiffern, spanischen Juden und anderen eilfertigen Persönlichkeiten, so daß nicht leicht durch das Gedränge zu kommen ist.
    Die Galerie des Genueserturmes in Galata hatte eine Höhe von ca. 140 Fuß (...)
    Ich drängte mich nach dem Turme zu und trat ein. Ein Bakschisch erwarb mir die Erlaubnis, ihn zu besteigen. Ich eilte auf den fünf Steintreppen durch die fünf untersten Stockwerke, dann die nächsten drei Holztreppen bis in den Kaffeeschank empor. Nur der Kawehdschi war zu sehen, aber kein Gast. Bis hier herauf sind 144 Stufen zu steigen. Nun stieg ich noch die 45 Stufen bis zu dem Glockenstuhle empor, der mit Blech gedeckt und sehr abschüssig ist. Von hier aus schwang ich mich hinaus auf die Galerie.


    Jedenfalls schildern sowohl Verne als auch May ein damals doch schon etwas in die Jahre gekommenes Stambul-Bild. Sicher Mays Orientzyklus spielt noch in den 60er Jahren, dennoch hätte ein Wort darüber, daß bereits 1874 unter dem Galata Külesi, dem Turm von Galata, eine kleine Untergrundbahn rasselt, dem Leser sicher nicht geschadet. Aber auch Jules Verne ist da nicht besser dran, zog er doch keineswegs nur neuste Textquellen zu seinen Beschreibungen heran.


    Hier nur ein paar Beispiele von dem, ws er in jenen Jahren im Musée des Familles gelesen haben mochte. Im November 1854 erschien ein artikel über die Türkei, dem einige Einzelheiten für Kereban der Starrkopf, erschienen 1883, entnommen wurde. [Peter Costello - Jules Verne: Der Erfinder der Science Fiction, S. 53/54]


    Und so ist das Stambul von Verne und May kaum verschieden von dem, welches bereits Helmuth von Molkte in seinem Reisebericht "Unter dem Halbmond, Erlebnisse in der Türkei 1835-1839" schilderte:


    Nachdem wir eine Nacht in Pera geruht hatten, setzten wir uns in einen der äußerst zierlichen leichten Nachen (Kaik), die zu hunderten im Hafen, dem Goldenen Horn, herumfahren. Die Ruderer sitzen schon fertig und warten: »Buirun captan. Hekim baschi. St!«, rufen die Türken, die von jemandem, der den Hut trägt, voraussetzen, dass er ein Schiffskapitän oder ein Arzt sein müsse; »Ellado tscheleby!« – Hierher, gnädiger Herr! – die Griechen. Sobald man sich entschieden hat, wem man den Vorzug geben will, und unten auf dem Boden des schwankenden Fahrzeugs Platz genommen hat, versetzen ein paar Ruderschläge den Nachen aus dem Getümmel der Wartenden hinaus ins Freie.
    Aber, wie soll ich dir den Zauber schildern, der uns jetzt umfing. Aus dem rauen Winter waren wir in den mildesten Sommer, aus einer Einöde in das regste Leben versetzt. Die Sonne funkelte hell und warm am Himmel und nur ein dünner Nebel umhüllte durchsichtig den feenhaften Anblick. Zur Rechten hatten wir Konstantinopel mit seiner bunten Häusermasse, über welche zahllose Kuppeln, die kühnen Bogen einer Wasserleitung, große steinerne Hanns mit Bleidächern, vor allen aber die himmelhohen Minaretts emporsteigen, welche die sieben riesengroßen Moscheen Selims, Mehmeds, Suleimans, Bajasids, Valideh, Achmeds und Sophia umstehen. Das alte Serai streckt sich weit hinaus ins Meer mit seinen phantastischen Kiosken und Kuppeln mit schwarzen Zypressen und mächtigen Platanen. Der Bosporus wälzt gerade auf diese Spitze zu seine Fluten, die sich schäumend am Fuß der alten Mauer brechen. Dahinter breitet sich der Propontis mit seinen Inselgruppen und felsigen Küsten aus. Der Blick kehrt aus dieser duftigen Ferne zurück und heftet sich auf die schönen Moscheen von Skutari, der asiatischen Vorstadt; auf den Mädchenturm (Kiskalessi), welcher zwischen Europa und Asien aus der tiefen Flut auftaucht; auf die Höhen, die noch mit frischem Grün prangen, und auf die weiten Begräbnisplätze im Dunkel der Zypressenwälder.
    Wir eilten zwischen großen Kauffahrern mit den Wimpeln aller Nationen und riesenhaften Linienschiffen hindurch aus dem Goldenen Horn in den Bosporus. Zahllose Kaiks glitten in allen Richtungen über das unbeschreiblich klare, tiefe Wasser; jetzt wendeten wir uns links um das Vorgebirge, welches Pera, die Frankenstadt und Galata mit seinen alten Mauern und dem gewaltigen runden Turm trägt, von welchem einst die Genueser der Eroberung Konstantinopels teilnahmslos zuschauten.
    Wegen der heftigen Strömung halten sich die Nachen beim Hinauffahren ganz dicht an das europäische Ufer und wir betrachteten mit Vergnügen die Sommerwohnungen (Jalys), die von den Wellen bespült werden. Die Fenster sind mit dichten Rohrgittern geschlossen und die Gärten von Lorbeer- und Granatbäumen beschattet und mit zahllosen Blumentöpfen besetzt. Eine Menge blühender Rosen lachte den Vorüberfahrenden aus den Gitterfenstern der Gartenmauern entgegen und Delphine sprangen schnaubend dicht neben dem Kahn über die glatte Fläche empor. Auf beiden Ufern des Bosporus reiht sich eine Wohnung an die andere, eine Ortschaft folgt der anderen und die ganze, drei Meilen weite Strecke von Konstantinopel bis Bujukdere bildet eine fortgesetzte Stadt aus zierlichen Landhäusern und herrlichen Palästen, aus Fischerhütten, Moscheen, Cafés, alten Schlössern und reizenden Kiosken.

    [Quelle: -> http://gutenberg.spiegel.de/moltke/halbmond/halbmond.htm]


    Vielleicht haben ja beide Autoren, Verne und May, sich gar direkt - oder indirekt über die Artikel Dritter - aus Molktes Beschreibungen bedient.

  • Ich warte eigentlich händeringend darauf, daß sich ein Literaturwissenschaftler des Themas Verne/May mal annimmt. Ein paar kleine Ansatze hat es ja bei einigen Publikationen der KMG (Karl-May-Gesellschaft) gegeben. Aber unterm Strich nicht wirklich viel. Leider.

  • Hi Thosch, zunächst einmal :applaus: für Deine mühevolle Arbeit! Ich hatte an anderer Stelle schon mal gefragt, ob die beiden sich jemals begegnet sind (was ja möglich gewesen wäre), ist aber wohl nicht der Fall.


    Ein paar Parallelen zwischen den beiden gibt es schon:
    - sie haben (ungefähr) zur gleichen Zeit gelebt
    - sie waren / sind sehr erfolgreich mit ihren Büchern
    - sie lieben es beide, Beschreibungen SEHR ausführlich durchzuführen ;)


    Woher kommt es, daß man diese beiden Autoren immer mal wieder miteinander vergleichen will?


    Ist Karl May der französische Jules Verne? Ist Jules Verne der deutsche Karl May?


    Was die "ausführlichen Beschreibungen" angeht, so habe ich nicht einmal EIN Buch von Karl May überstanden... Ich hatte mir seinerzeit "Durch die Wüste" (Buch von meinem Vater, der hat ALLE May-Bücher und ist Fan) geschnappt und fing an, es zu lesen. Aber mehr als 3 Kapitel habe ich nicht geschafft! Wieso gelingt mir das immer wieder bei Verne? Gerade die ungekürzten Ausgaben sind teilweise sehr langatmig. Trotzdem kenne ich natürlich große Teile des Werks von Karl May, allerdings eher durch Filme & Hörspiele.


    Vielleicht wird es wirklich einmal Zeit, sich ausführlich mit den beiden zu beschäftigen. Thosch...? ;) :grins:

  • @ Poldi, naja, Kar May Filme und Karl May-Bücher sind was völlig verschiedenes, die nicht wirklich viel miteinander zu tun haben. Vielleicht solltest du als Verne-Fan mal versuchen, "Der blaurote Methusalem" zu lesen. Dieser May-Band hat mich von allem am meisten an Verne erinnert. Ist einer von den sogenannten Jugendromanen von May und ist nicht in der Ich-Form geschrieben. Sollte dir dieser band gefallen, kannst du als nächstes "Die Sklavenkarawane" lesen, wo du viele Parallelen zu "Ein Kapitän von 15 Jahren" finden wirst, wenn es um die Beschreibung des Sklavenfangs in Afrika geht. Empfehlenswert ist es bei beiden Büchern nicht die grünen Bände aus dem Karl May-Verlag zu nehmen, denn die sind stark bearbeitet und gekürzt. Empfehlenswert wären eher die Weltbild-Bände oder aus dem Parkland-Verlag. Aber vorsicht, zumindest im Parkland-Verlag wurde der Methusalem-Band unter dem ehemaligen Originaltitel "Kong-Kheou, das Ehrenwort" vertrieben.

  • Hallo zusammen!


    Ja, bei der KMG gibt es zun den 'Leiden' und zum 'Methusalem' die Untersuchung "Der 'französische' und der 'deutsche' Chinese - Eine vergleichende Untersuchung zu den Chinaromanen Jules Vernes und Karl Mays" von Antje Streit im KMG-Jahrbuch 1999 -> http://karlmay.leo.org/kmg/seklit/JbKMG/1999/248.htm Meineserachtens wird dort der Fokus aber zu einseitig auf den Vergleich zwischen den 'Leiden eines Chinesen in China' von Verne und dem 'Blauroten Methusalem' von May gelegt und die Möglichkeit, daß May schon bei der Abfassung der bereits 1880 niedergeschriebenen Erzählungen 'Der Brodnik' und 'Der Kiang-lu' (in 'Am Stillen Ocean', in der Ausgabe des Karl-May-Verlages mit 'Der Ehri' unter dem Obertitel 'Im Zeichen des Drachen' zusammengefaßt) durch Vernes Buch beeinflußt worden sein könnte, nicht in Betracht gezogen.


    Natürlich gibt es auf den ersten Blick ein gutes Argument, die beiden früheren Erzählungen Mays außer acht zu lassen, da die erstmals im Jahr 1880 in deutschsprachiger Übersetzung veröffentlichten 'Leiden eines Chinesen in China' in Karl Mays Bibliothek lediglich in einer späteren Ausgabe zu finden ist, nämlich in der Kleinoktav-Hartleben-Ausgabe, Collection Verne. Band 32. Wien-Pest-Leipzig o. J [1887]. Seltsamerweise ist das Buch - übrigens der einzige Verne-Band, den May besaß - in Mays Bibliotheks-Verzeichnis ohne Autorennennung unter 'Geographie' eingeordnet. Aufgrund des Erscheinungsdatums von Mays Exemplar ist es natürlich auch durchaus möglich, daß dieser das Buch anläßlich der Niederschrift von 'Kong-kheou, das Ehrenwort' (Titel des Zeitschriftenerstabdruckes von 'Der Blauroten Methusalem') tatsächlich gekauft hat. Allerdings hat Karl May in seinem frühen Jahren regelmäßig Bücher aus Leihbibliotheken benutzt, sodaß eine Verwertung der 'Leiden' schon vor dem Kauf des Exemplars von 1887 durchaus möglich gewesen sein könnte. Im Gegensatz zu anderen Fachliteratuur-Quelltexten, wie etwa "Évariste-Régis Huc/Joseph Gabet: Wanderungen durch das Chinesische Reich." (1865) oder "Wilhelm Heine: Reise um die Erde nach Japan" (1856), sind wörtliche Textübernahmen aus Vernes 'Leiden' bislang allerdings in keiner von Mays China-Erzählungen nachgewiesen.


    Und so kann man also wie beim 'goldenen Horn' nur wortunabhängige Textpassagen miteinander vergleichen. Beginnen wir mit den Ansichten über die chinesische Kultur bei Verne und May, zunächst einmal mit dem für europäische Gaumen mitunter doch exotischen Eßgewohnheiten:


    Verne: Die Leiden eines Chinesen in China: Die Tafel selbst ließ nichts zu wünschen übrig. Man konnte nicht wohl köstlichere Gerichte erdenken, als sie die berühmte Küche hier lieferte. Der Herr des Hauses hatte sich, im Bewußtsein, es hier mit Kennern zu thun zu haben, bei der Bereitung der hundertfünfzig Gänge dieser Mahlzeit fast selbst übertroffen.
    Die Einleitung bildeten kleine Zuckerkuchen, Caviar, gebackene Heuschrecken, getrocknete Früchte und Ning-Po-Austern. Dann folgten in kurzen Zwischenräumen Setzeier von Enten, Tauben und Kibitzen, Schwalbennester mit Rührei »Fricassé von »Gingseng«, Kiemen vom Stör mit Compote, Walfischnerven mit Zuckersauce, Flußalant, gelbe Krabben in Ragout, Sperlingskröpfe und Lämmerangen mit Knoblauch, Rübchen mit der Milch von Aprikosenkernen, Seegurken, Bambusschößlinge mit Sauce, gezuckerter Salat von jungen Radieschen u.s.w. Ananas aus Singapore, Erdnußbaum-Mandeln, saftige Mango- und Long-yen-Früchte mit zartem, weißem Fleisch, »Litchi« mit gelblicher Pulpa, Wasserkastanien, eingemachte Orangen aus Canton und dergleichen bildeten die Endgerichte dieser schon drei Stunden dauernden Mahlzeit, bei der in reichlicher Menge Bier, Champagner und Chao-Chigne-Wein getrunken ward, während der unvermeidliche Reis, den die Tischgäste mit Hilfe kleiner Elfenbeinstäbchen verzehrten, das Dessert des sachkundig angeordneten Speisezettels bildete.


    Schließlich heißt es am Ende des Mahls noch: Sie hatten jene Mahlzeit, in der Schwalbennester, Seegurken, Walfischnerven und Haifischflossen figurirten, verzehrt (...). Im Vergleich dazu nun Karl May:


    May - Der Kiang-lu: Wir hatten sechzehn Gänge, welche ich der Absonderlichkeit wegen hier aufzählen will.
    Die Einleitung bildeten ein ausgezeichneter Thee und eine Schale excellenter Mandelmilch, welche der Chinese überhaupt außerordentlich liebt. Dann kam als erster Gang ein Frikassee von Hühnerkehlen. Hierauf folgten gefüllte Krabben, welche meinem braven Turnerstick ungemein zu munden schienen. Dann Schinken, Austern und Pickles. Nachher gebratene Ente und gesalzene Schweineschwarte mit Pilzen und gekochtem Seetang aus Wang-hien. Jetzt eine Suppe von Schwalbennestern mit Ei und Schinken. Nun ein Ragout von Haifischflossen und Hähnekämmen. Hierauf Entenzungen mit Bambussprossen und Schinken. Dann allerliebste Hammelfleischpasteten. Dann junge Wasserschnecken aus dem Poyang-See. Nachher geräucherter Schweinebraten in Honigseim. Danach gebeizte Ente in einer delikaten Sauce. Dann Fadennudeln aus Peking mit Eichhornkeulchen, ein ausgezeichnetes Essen. Ferner eine Roulade von Fasan. Nun rote Grütze von Hung-sa (eine unserer Quitte ähnliche Frucht). Hierauf Hammelbraten in süßer Sauce mit japanischen Sago-Klößchen. Und endlich junger Stör mit Reis, Melonen, gegorenem Ingwer und Salzgurken aus der Mandschurei.
    Getränke gab es außer der Einleitung von Thee und Mandelmilch noch Sam-schon (das chinesische Nationalgetränk aus Reis; es ist sehr stark, für unsern Gaumen aber nicht angenehm schmeckend), frischen Thee, angesüßtes Wasser und zum Schlusse einen Champagner, welcher zwar nicht echt, aber doch recht trinkbar war.


    In Mays 'Methusalem' verteilt sich die Beschreibung eines mehrgängigen Essens (u.a. mit Krokodileiern und Katzenfleisch) zwischen Dialogen auch mehrere Seiten, exemplarisch sei hier nur die Zubereitung eines Schwalbennestes - pardon, Nicht dieses Nest, wie man irrtümlicherweise gemeint hat, sondern nur der aus erhärtetem Schleime bestehende Unterbau wird als Nahrungs- oder vielmehr Genußmittel verwandt. - zitiert: Unzubereitet kann es gar nicht gegessen werden, und gekocht schmeckt es nur fade. Wer das aus der Rinde tretende Harz eines Kirschbaumes, welcher am Gummiflusse leidet, kaut, hat ganz denselben Genuß. Diese zweifelhafte Delikatesse muß vielmehr erst durch die Zubereitung schmackhaft gemacht werden. Der Chinese kocht sie in Wasser oder Fleischbrühe und thut Wurzelwerk, Gewürz, Fleisch, Fischrogen, Holothurien, zerschnittene Früchte und anderes dazu. Nur diese Beimengsel sind es, welche den Nestern Geschmack und Nährwert verleihen.


    Auch die musikalischen Künste der Chinesen finden weder bei Verne noch bei May viel Gnade:


    Verne: Die Leiden eines Chinesen in China: Aber die Musik und die Vortragsweise! Da gab es ein Miauen und Glucken ohne Takt und Zusammenklang und Töne, welche bis zur letzten Grenze der menschlichen Gehörfähigkeit hinausgingen. Die Instrumente, darunter Violinen, deren Saiten sich mit den Roßhaaren der Bögen verwickelten, mit Schlangenhaut an Stelle des Resonanzbodens überzogene Guitarren, schreiende Clarinetten, Harmonikas in Gestalt kleiner tragbarer Orgeln waren der Sänger und Sängerinnen ganz würdig, die sie mit dem Aufgebote aller Stimmmittel begleiteten.


    May - Der Kiang-lu: Dann griff er zunächst zur Violine. Sie besaß eine von den unserigen etwas abweichende Form, hatte aber auch einen Steg und vier Saiten, die allerdings in einer andern Stimmung standen. Der Bogen war schwer und hatte die sägeähnliche Form unserer Violinbaßbogen. Nachdem er denselben mit gewöhnlichem Pech bestrichen hatte, begann er.
    Die Chinesen lauschten mit Entzücken seinen Tönen; er schien bei ihnen als ein Meister zu gelten, spielte aber weder eine erkennbare Melodie, noch hörte ich irgend eine Harmonie heraus. Eine Takteinteilung war auch nicht zu erkennen, und das ganze Spiel bestand aus dem Anstriche immer derselben vier Töne, die er in sehr abwechselndem Metrum erklingen ließ.


    May - Der Blauroten Methusalem': Er nahm die Guitarre zur Hand. Sie hatte die Form unserer altmodischen Zithern, besaß einen ziemlich langen Hals mit halbtönigen Griffdrähten und hatte sieben Saiten. Sein Spiel war ein ebenso monotones wie vorher. Zwar griff er mit den Fingern der Linken zuweilen in die Saiten ein, doch bekamen wir weder eine Melodie noch irgend zwei harmonierende Töne zu hören, und es war mir vollständig unbegreiflich, wie jemand ein so vollkommen angelegtes Instrument besitzen könne, ohne es auch ohne Lehrer zu einer bessern Geschicklichkeit zu bringen.
    Einer chinesischen Musikantentruppe darf man keine europäische Kammermusik zumuten. Da gibt es Gongs, Schellen, Glocken und Klingeln, auch Triangeln, Metallplatten, Musikurnen, Faßtrommeln, hölzerne Totenköpfe zur Tempelmusik, Flöten, Castagnetten, zweisaitige Geigen, drei- und viersaitige Guitarren, kreischende Trompeten, welche weder im Kammer- noch im Kabinettstone stehen, und sonderbar geformte, mit kleinen Schellen behangene Bambusgestelle, deren einheimischer Name in das Deutsche mit »Musikgeklimper« zu übertragen ist. Jeder bearbeitet sein Instrument aus Leibeskräften, ohne Noten und ohne Takt. Von einer Harmonie ist keine Rede. Die Melodie, wenn es je eine gäbe, würde in dem allgemeinen Lärm verschwinden, denn derjenige, welcher das größte Getöse hervorbringt, gilt als der beste Musikant.


    Betrachten wir schließlich noch die Kleidung durch die Brille der beiden Autoren, die das 'Reich der Mitte' indessen nie mit eigenen Augen gesehen haben.


    Verne: Die Leiden eines Chinesen in China: Als Leute aus guter Gesellschaft, reich bekleidet mit der »Han-chaol«, einer Art leichtem Vorhemd, dem »Ma-kual«, einem kurzen Rocke, der »Haol«, einem längeren, an der Seite zugeknöpften Unterkleid; an den Füßen gelbe Stiefelchen mit durchbrochenen Schäften tragend, dazu seidene, in der Taille mit einer troddelgeschmückten Schärpe gehaltene Beinkleider, (...)


    May - Der Kiang-lu: Es waren Soldaten. Ihre Uniform bestand aus einem kurzen, roten Kittel mit weißem Besatz, blauen, kurzen, baumwollenen Hosen, groben Tuchschuhen mit Filzsohlen und einem geflochtenen Bambushute. Bewaffnet waren sie mit einem Rohrschilde, auf welchen der kaiserliche Drache gemalt war, mit Pfeil und Bogen und einem kurzen Knüttel. Auf der Brust und dem Rücken trugen sie die weithin leuchtende Inschrift 'Ping'167 und ihre dünnen, lang herabhängenden Schnurrbärte bemühten sich vergebens, ihnen ein kriegerisches Aussehen zu erteilen.


    May - Der Blauroten Methusalem':Er trug eine außerordentlich weite Hose aus roter, weiß geblümter Seide, welche unten über den Knöcheln mit breiten Bändern zusammengebunden war, und darüber eine Weste von demselben Stoffe, welche ihm bis auf die Hälfte der Oberschenkel reichte. Darüber kam ein weißes, ärmelloses Hemd von Seide. Dann folgte ein ziemlich enges, schlafrockähnliches, blaues Gewand, welches fast bis zur Erde reichte. Die Aermel desselben wurden nach unten außerordentlich weit und hingen bis über die Hände herab. Sie konnten als Taschen gebraucht werden. Um die Hüfte war ein langer, golddurchwirkter Gürtel gebunden, dessen Enden bis über das Knie niedergingen. An demselben hingen nebst der Taschenuhr allerlei Futterale mit den verschiedensten Gegenständen, wie man ihrer in China in jedem Augenblick bedarf. Darüber hatte er noch ein weites, burnusartiges Gewand gezogen, welches etwas kürzer war als das vorige. Es zeigte auf grünem Grund rote Raupen und gelbe Schmetterlinge und hatte Aermel, welche nicht ganz bis zum Ellbogen gingen.
    An den Füßen trug er absatzlose rotseidene Schuhe, deren Spitzen weit nach oben gebogen waren. Die Sohlen, welche aus festem, unten mit Leder belegtem Pappdeckel bestanden, waren gut drei Finger breit hoch.

  • Vergleichen wir nun einmal die Reiseroute in Vernes und Mays Romanen, In den 'Leiden' beginnt diese in Kanton, wobei diese Stadt freilich überhaupt gar nicht geschildert wird, lediglich die Ausfahrt von Kanton bis zum offenen Meer wird in knappen Worten berichtet: Die rasche Strömung des Perlenflusses, der mit seinem Schlamme täglich die Leichname Hingerichteter dem Meere zuwälzt, verlieh dem Schiffe eine außerordentliche Schnelligkeit. Einem Pfeile gleich, flog der Dampfer vorüber an Ruinen, welche von den Kanonen Frankreichs herrührten, vor der neun Etagen hohen Pagode Haf-Way's, vor der Jardyne-Spitze, nahe bei Whampoa, wo die größeren Schiffe vor Anker gehen, und zwischen den Inseln und Bambusdickichten der beiden Ufer dahin. / Die hundertfünfzig Kilometer, das heißt die dreihundertfünfundsiebzig »Lis«, welche Canton von der Mündung des Stromes trennten, wurden im Laufe der Nacht zurückgelegt. / Mit Sonnenaufgang passirte die »Perma« den »Rachen des Tigers« und endlich die beiden Hafenmauern an der Küste. Einen Augenblick leuchtete der 1825 Fuß hohe Victoria-Peak der Insel Hong-Kong durch den Morgennebel (...)


    Ähnliches liest man in Mays 'Methusalem', der zu großen Teilen in Kanton spielt, bei Ankunft und Abreise der europäischen Besucher: Weißblaue Rauchstreifen zeigten Dampfer an, welche nach Kanton wollten oder von dort kamen. Die See belebte sich mehr und mehr mit Fahrzeugen, und dann tauchten die Felsenmassen Hongkongs und der anderen vor dem Perlenflusse liegenden Inseln langsam auf. Schließlich heißt es dann: Es war eines frühen Morgens, als man Kanton erreichte. (...) Kurze Zeit später zog die Mannschaft die beiden Segel auf, und die Dschunke setzte sich nach Whampoa zu in Bewegung, um durch die Bocca Tigris nach Hongkong zu gehen, dessen Hafen man beim Grauen des nächsten Morgens erreichte. Aber auch in Mays 'Der Kiang-lu' ist das Dreieck Hongkong, Macao und Kanton bereits der wesentliche Handlungsort der 'Flußdrachen'-Geschichte: Von hier bis Wam-poa braucht ein Dampfer beinahe einen vollen Tag, und von dort aus haben wir noch volle zwölf englische Meilen bis Canton. Im Gegensatz zu Verne schildert May in 'Der Kiang-lu' wie auch im 'Methusalem' die Stadt Kanton, die dazugehörige 'Wasserstadt' aus Tausenden von Booten und Dschunken sowie die Faktoreien der Europäer recht ausführlich. Dabei lohnt es sich etwa, die Beschreibungen mit dem noch umfassenderen Darstellungen von Friedrich Gerstäcker in dessen 'Reise um die Welt' zu vergleichen.


    Bezüglich Handlung und Reiseroute lassen sich in Vernes und Mays Romanen nur vage Parallelen finden. Mays Protagonisten kommen kaum ins Landesinnere voran, während Vernes Hauptcharakter Kin-Fo eine - freilich doch meist recht flüchtig geschilderte - Reise durch Zentralchina macht. Erst am Ende der chinesischen Reisen gelangen sowohl die Charaktere in Mays 'Brodnik' als auch in Vernes 'Leiden' an einen nördlichen Abschnitt der großen chinesischen Mauer, wobei Ich-Erzähler Charley direkt von Tien-Thin über den Landweg reist, während die Reisenden bei Verne sich zunächst einschiffen und auf dem Meer dann von einem Taifun heimgesucht werden - dasselbe Schicksal ereilt Charley und seinen Kapitän Frick Turnerstick auch bei ihrer Anreise nach China im 'Kiang-lu'. Ferner wird auch noch Phileas Fogg bei seiner "Reise um die Erde in 80 Tagen" von einem Taifun geplagt. Auch dieses Buch hat May - wie man noch sehen wird - höchstwahrscheinlich gelesen:


    Der Pilot traf seine Vorkehrungen. Er ließ alle Segel der Goelette einziehen, und die Stangen auf dem Verdeck herabnehmen. Die Lucken wurden sorgfältig verwahrt, so daß kein Tropfen Wasser in's Innere dringen konnte. Ein einziges dreieckiges Segel, ein Focksegel von starkem Zeug, wurde aufgehißt, um die Goelette beim Treiben des Windes zu halten. So wartete man ab.


    Ähnliches liest man bei May: Unterdessen herrschte eine fieberhafte Geschäftigkeit am Deck. Die Gallantmasten und Raaen wurden heruntergenommen und alles Bewegliche so viel wie möglich befestigt oder durch die Luke in den Raum geschafft. Jedes Stück Leinwand wurde gerefft, und nur oben am Spenker blieb ein Sturmtopsegel, um dem Steuer so viel wie möglich zu Hilfe zu kommen.


    Vernes Stürme scheinen aber von geringere Stärke, jedenfalls bleiben seine Schiffe durch eine feste Hand am Steuer relativ beherrschbar. Reise um die Erde in 80 Tagen: Gegen acht Uhr brach ein Unwetter mit Regen und Windstößen aus; so daß die Tankadere, hätte sie mehr Segel aufgespannt gehabt, wie eine Feder in die Lüfte gewirbelt worden wäre. Wollte man die Schnelligkeit eines solchen Windes mit der vierfachen einer Locomotive bei vollem Dampf vergleichen, so bliebe man noch hinter der Wahrheit zurück.
    Während des ganzen Tages flog so das Boot nordwärts, von riesenhaften Wellen getragen, indem es glücklicherweise eine der ihrigen gleiche Schnelligkeit behielt. Zwanzigmal war es nahe daran, von so einem Wasserberg, der sich hinter ihm aufthürmte, überschüttet zu werden, wenn nicht mit geschicktem Griff der Steuerer die Katastrophe abgewendet hätte.


    Dagegen können bei May die Seeleute bei der schweren See kaum manövrieren: Drei Männer standen am Steuer und vermochten trotz aller ihrer Anstrengung nicht, dasselbe zu regieren; sie mußten die Taue zu Hilfe nehmen. Auch an ein schnelles Davonkommen ist nicht zu denken, die 'Wind' von Kapitän Turnerstick wird zum Spielball der entfeselten Elemente: Die Wogen wälzten sich scheinbar bergeshoch und von allen Seiten auf uns ein und schlugen haushoch über das Deck; noch rollte der Schwanz der einen über mich hinweg, so hatte mich bereits der Rachen der andern erreicht, und kaum blieb mir Zeit, den nötigen Atem zu erlangen. Das brüllte und heulte, das rauschte und sprudelte, das gurgelte und schäumte, das gellte und pfiff, das ächzte und stöhnte, das knarrte und prasselte (...)


    In den 'Leiden' dagegen erweist sich der Mensch wiederum als Herr der Elemente: Um elf Uhr Nachts wüthete der Sturm in größter Heftigkeit. Unterstützt von seiner Mannschaft, erwies sich Kapitän Yin jetzt als tüchtiger Seemann. / Er lachte zwar nicht mehr bewahrte aber seine ganze Kaltblütigkeit. Mit kräftiger Hand regierte er das Steuer und lenkte das leichte Fahrzeug, das wie eine Möve auf den Wogen tanzte. Kin-Fo hatte seinen Wohnraum auf dem Hinterdeck verlassen. An die Schanzkleidung geklammert, betrachtete er den Himmel mit den schwarzen, zerfetzten Wolken, welche zum Theile als schwere Dunstmassen über das Wasser jagten. Seine Blicke schweiften über das Meer, das durch die dunkle Nacht in weißem Schaume leuchtete und dessen Wogen der Typhon zu gewaltiger Höhe emportrieb.


    Bei May liest man zwei ganz ähnliche Beschreibungen: Der ganze Himmel hatte sich mit einer schwarzen Decke umzogen, und die Wogen besaßen jetzt eine tief dunkle, fast möchte ich sagen infernalisch drohende Farbe. Sowie. Das Sturmloch hatte sich verschlossen, und wir befanden uns in vollständiger Nacht, durch deren Finsternis nur der sprühende Schaum der Wogenkämme gespenstig leuchtete. So wütete der Orkan zwei, drei, vier Stunden lang.


    Glücklicherweise geht jeder noch so schwere Seegang einmal doch zu Ende. Die Leiden eines Chinesen in China: Drei Stunden lang schwebte die Dschonke in nicht geringer Gefahr. Eine falsche Bewegung des Steuers konnte ihr den Untergang bereiten, da das wüthende Meer über sie hinweg gebrandet wäre. Konnte sie auch nicht kentern wie eine Kufe, so konnte sie sich doch mit Wasser füllen und versinken. Sie mitten in den von Sturm gepeitschten Wogen in bestimmter Richtung zu erhalten, daran war ja gar nicht zu denken. Ebensowenig vermochte irgend Jemand den eingehaltenen Kurs und den zurückgelegten Weg abzuschätzen.


    Nach diesem Taifun fallen Kin-Fo und seine Begleiter dann Seeräubern in die Hände; dieses Motiv macht auch die Haupthandlung im Mays 'Kiang-lu' aus - Vernes Verbrecher töten allerdings ungleich brutaler als bei May, denn die gesamte Besatzung wird ermordet. Diese Form der Grausamkeit findet sich dann aber auch in Mays 'Juweleninsel' wieder, welche gleichfalls 1879/80 niedergeschrieben wurde.

  • Ist schon die oben zitierte Ausfahrt aus Kanton bei Verne höchst minimalistisch geraten, so verzichtet er in den 'Leiden' ebenfalls völlig auf eine Beschreibung Hongkongs. Diese britische Kronkolonie hatte Jules Verne freilich schon in seinem Meisterwerk 'In 80 Tagen um die Welt' vorgestellt. Sowohl Verne als auch May beschränken sich bei ihren 'Stadtansichten' von Hongkong freilich auf wenige, aber athmosphärische Absätze:


    Verne: Reise um die Erde in 80 Tagen: Hongkong ist nur ein Inselchen, das im Vertrag von Nanking nach dem Kriege von 1842 den Engländern als Eigenthum eingeräumt wurde. In einigen Jahren schuf dort das Colonisationsgenie Großbritanniens eine bedeutende Stadt mit dem Hafen Victoria. Die Insel liegt an der Mündung des Cantonflusses, nur sechzig Meilen von der portugiesischen Stadt Macao, die auf dem andern Ufer sich befindet. Es konnte nicht fehlen, daß Hongkong in einem Handelswettkampf über Macao den Sieg davon trug, und bereits ist der chinesische Transithandel zum größten Theil über die englische Stadt geleitet. Docks, Spitäler, Werfte, Lagerhäuser, eine gothische Kathedrale, ein Regierungsgebäude, macadamisirte Straßen, alles giebt der Colonie das Aussehen, als sei eine der Handelsstädte der Grafschaft Kent oder Surrey, über den Erdball wandernd nach China, hierhin, fast zu den Antipoden, verpflanzt.
    (...) [Passepartou] kam im Hafen Victoria an, bei der Mündung des Cantonflusses. Da war ein Gewühl von Schiffen aller Nationen, Engländern, Franzosen, Amerikanern, Holländern, Kriegs- und Handels-Fahrzeugen, Japanischen oder chinesischen Barken, Jonken, Sempa's, Tanka's und sogar schwimmende Blumenboote.


    May - Der Kiang-lu: Hongkong wurde von den Engländern als Ort ihrer Niederlassung mit jenem praktischen Scharfblick gewählt, welcher dem britischen Inselvolke so sehr zu eigen ist. Die Insel, auf deren Nordseite es liegt, ist sehr gebirgig und hat ungefähr achtzehn bis zwanzig englische Meilen im Umfange. Die Lage dieser Insel gewährt dem geräumigen Hafen den Vorteil zweier Eingänge, die sich gegenüberliegen, so daß also beinahe bei jedem Winde gefahrlos eingelaufen werden kann. Das Wasser des Hafens ist so tief, daß Schiffe von fünfzehn Fuß Tiefgang in ganz geringer Entfernung vom Lande ankern können. Ein weicher, zäher Lehmboden giebt ausgezeichneten Ankergrund bis dicht an die Küste, und die hohen Berge, welche das Hafenbassin umgeben, gewähren guten Schutz gegen die hier so häufigen Herbst- und Winterstürme.
    Die Granitfelsen der Insel, auf welchen Hong-kong erbaut ist, stiegen vor uns empor; die uns begegnenden Fahrzeuge waren immer zahlreicher geworden, und als wir die Landspitze douplierten, hinter welcher Victoria liegt, wie die Engländer die Stadt benannt haben, sahen wir im wahrsten Sinne des Wortes Tausende von Dschunken um uns her, teils mit Fischerei und teils mit Transport und Küstenhandel beschäftigt.


    May - Der Blauroten Methusalem: Hongkong heißt bei den Chinesen Hiang-Kiang und ist eine bergige Insel, welche rechts vor dem Eingange des Mündungsgolfes des Tschu-kiang liegt. Es besitzt einen der besten Hafen des chinesischen Reiches und kann als das englische Gibraltar des Ostens angesehen werden. Die Hauptstadt ist Viktoria. Sie ist fast ganz europäisch gebaut, hat breite Straßen, schöne große Häuser, großartige Warenspeicher und elegante Villen. Derjenige, welcher chinesisches Leben kennen lernen will, wird sich hier nicht verweilen, sondern die erste Gelegenheit benutzen, nach Kanton zu gehen, was ja auch die Absicht des »blauroten Methusalem« war.


    Welche direkten Einflüße aber lassen sich nun bei May nachweisen? Tatsächlich gibt es eine einzigartige Textstelle, die Mays Kenntnis von Vernes "Reise um die Erde in 80 Tagen" als sehr wahrscheinlich erscheinen läßt (theoretisch wäre natürlich aber auch eine indirekte Beinflußung über Dritte, die Verne zitieren, möglich). In dem Aufsatz 'Mit Dampf um den Erdball' aus dem 1. Heft der von May seinerzeit redaktionell betreuten Zeitschrift 'Schacht und Hütte' (1875) skizziert May eine Reise in wenig mehr als 80 Tagen um die Welt - was falsch ist, korrekt müßte es eigentlich in weniger als 80 Tagen um die Welt heißen - dabei entspricht die Route weitgehend der von Jules Verne , May hat einfach die Reiserichtung umgedreht und anstelle des Landweg durch Zentralindien eine weitere Schiffstour über Ceylon eingebaut:


    Gesetzt, man fährt von Hamburg oder Bremen am 1. Juni ab, so landet man am 13. in New York und trifft, die mehr als 5000 Kilometer lange Pacific-Eisenbahnlinie benutzend, am 23. in San Francisco in Kalifornien ein. Hier steigt man wieder zu Schiff und landet am 13. Juli zu Yokohama in Japan, am 17. zu Shanghai in China, am 20. in Hongkong, Englands fernöstlicher Besitzung, am 25. in Singapore, dem berühmten englischen Freihafen, am 30. auf Ceylon, dem 'schönsten Garten der Erde', am 4. August in Aden, dem zweiten Gibraltar der Engländer, am 9. in Suez und am 15. in Triest, von wo aus man per Bahn binnen drei Tagen Hamburg wieder erreicht. Insgesamt also 79 Tage, dabei allerdings, da die Reise gen Westen verlief, hat der Reisende nur 78 Sonnenaufgänge gesehen. Im Vergleich dazu nun die Originalroute bei Jules Verne, er listet nicht die Dati sondern zählt die Tage, wobei hier der Fehler nicht einberechnet ist, der sich durch die Verkürzung der Tage bei einer Reise gen Osten ergibt. Obwohl der Reisende hier 80 Sonnenaufgänge sieht, ist er tatsächlich, ebenso wie bei May, nur 79 Tage gereist:


    Von London nach Suez über den Mont-Cenis und Brindisi,
    Eisenbahn und Packetboot - 7 Tage
    Von Suez nach Bombay, Packetboot - 13 Tage
    Von Bombay nach Calcutta, Eisenbahn - 3 Tage
    Von Calcutta nach Hongkong, Packetboot - 13 Tage
    Von Hongkong nach Yokohama in Japan, Packetboot - 6 Tage
    Von Yokohama nach San Francisco, Packetboot - 22 Tage
    Von San Francisco nach New-York, Eisenbahn - 7 Tage
    Von New-York nach London, Packetboot und Eisenbahn - 9 Tage
    Sa. 80 Tage.


    Interessanterweise hat May seine erste exentrische Engländer-Figur Sir John Emery Walpoe (in der neufassung der Erzählung in Sir John Raffley vom Travellers Club, Near Street 47,umbenannt) gerade auf Ceylon auftreten lassen. Der Charakter dieser Figur könnte durchaus Vernes Fogg, Lord und Glenarvan nachempfunden sein. Predantus hat ja schon auf den Link zur Thematik: http://karlmay.leo.org/kmg/seklit/m-kmg/142/index.htm (S. 2-6) hingewiesen.


    Ein Abenteuer auf Ceylon: Der gute, ehrenwerthe Sir John war ein Engländer im Superlativ. Besitzer eines unermeßlichen Vermögens, hatte er noch nie daran gedacht, sich zu verehelichen, sondern war einer jener schweigsamen, zugeknöpften Englischmens, welche alle Winkel der Erde durchstöbern, selbst die entferntesten Länder unsicher machen, die größten Gefahren und Abenteuer mit unendlichem Gleichmuthe bestehen und müde und übersättigt endlich die Heimath wieder aufsuchen, um als Mitglied irgend eines berühmten Reiseclubbs einsilbige Bemerkungen über die gehabten Erlebnisse machen zu dürfen. Er hatte den Spleen in einem solchen Grade, daß seine lange, schmächtige, dabei aber außerordentlich kraftvolle Persönlichkeit nur in höchst seltenen Augenblicken einen kleinen Anflug von Genießbarkeit zeigte, besaß dabei aber ein sehr gutes Herz, welches stets gern bereit war, die kleinen und großen Seltsamkeiten, in denen er sich zu gefallen pflegte, wieder auszugleichen.


    Ob Karl May nun seinen Sir John Emery Walpole tatsächlich direkt nach dem Vorbild der Engländer-Figuren Vernes kreiert hat, oder aber sich nur indirekt den von diesen, aber sicher auch von anderen zeitgenössischen Autoren benutzten stereotypen Charakter angeignet hat, läßt sich schwer sagen. So gibt es etwa in 'Abenteuer von drei Russen und drei Engländern in Südafrika' (1876) einen Sir John Murray, einen reichen Gelehrten und Mitglied in einen Jagdclub, der ebenso wie Walpole/Raffley gerne wettet: Der Schuß zählt, Buschmann, ich habe ein Pfund verloren; doch wette ich noch einmal doppelt oder quitt! - Wie Sie wollen, Sir John, doch werden Sie verlieren! (In dem Roman gibt es ferner einen William Emery, einen Walpole erwähnt Verne freilich erst in 'Das Dampfhaus', und dieser Roman erschien erst 1882)


    Bemerkenswert ist vielleicht ferner noch, daß Karl May später einen guten Teil der Weltreiseroute selbst noch auf Schiffen befahren hat. Die großre Orientreise von 1899/1900 führte ihn durch das Mittelmeer nach Ägypten und von dort dann durch Rote Meer via Aden nach Ceylon und Padang auf Sumatra. Die Reise regte ihn zu dem Roman 'Und Friede auf Erden an', in dem er dann eine etwas abweichende Route verwandte. Nach Ägypten und einen nur ewähnten Landgang quer durch die arabische Halbinsel verläuft die Schiffsreise dort von Karatschi über Bombay - wo sich dem Ich-Erzähler dann nochmals Lord Raffley anschließt - Ceylon, Singapore nach Hong-kong und schließlich bis an die Nordküste des Gelbem Meeres, in dem Vernes King-Fo das Abenteuer mit dem Taifun und den Piraten bestehen muß.


    1908 schließlich fuhr May tatsächlich noch nach Nordamerika, blieb dabei allerdings weitesgehend im ziwilisierten Osten, die Reise von New York den Hudson aufwärts, sozusagen also in Cooper-Land, der Höhepunkt war schließlich ein Besuch bei den Niagara-Fällen. Bei der Rückfahr schaute May schließlich noch in London vorbei, vielleicht hat er ja dort den echten Travellers Club am Pall Mall, der behkanntermaßenin Vernes 'Fünf Wochen im Ballon' keine unerhebliche Rolle spielt, sowie den direkt daneben gelegenen 'Reform Club' gesehen.