- Official Post
Das hohe Lied der Liebe/ Die Nihilit Expedition
von Thomas Harbach
Robert Kraft
Mit dem zweiten Doppelband “Das Hohe Lied der Liebe” und “Die Nihilit Expedition” präsentiert Dieter von Reeken einen zweiten selbst zusammengestellten Hardcover mit zwei kürzeren Robert Kraft Texten, die ursprünglich aus “Die Augen der Sphinx” stammen. Alle 28 Abbildungen, eingeleitet von einer der bizarrsten Situationen aus “Die Nihilit Expedition” als Titelbild, sind neben einer kurzen Einleitung abgedruckt worden.
Als fünfter Band bzw. Teil der Serie „Die Augen der Sphinx“ erschien mit „Das hohe Lied der Liebe“ ein titeltechnisch auf den ersten Blick ungewöhnlicher Robert Kraft Titel. Auf den zweiten Blick findet sich in der 1908 veröffentlichten Geschichte, deren wichtige Grundelemente in einer Reihe von später veröffentlichten Romanen weiter ausgebaut und teilweise recycelt werden sollten.
Während einer Europareise gastiert Buffalo Bills Wild West Show auch in den Niederlanden. Der reiche Kaufmann Mijnheer van Hyden besucht mit seiner Tochter die Show. Während eines waghalsigen Stunts reicht ihr der junge Reiter Texas Jack die Hälfte ihres Schleiers zurück. Wenige Wochen später hält Texas Jack alias Joachim Dankwart um die Hand der Tochter an. Heimlich haben sie sich in den letzten Woche immer getroffen. Van Hyden ist nicht sonderlich begeistert, aber Buffalo Bill bürgt für das Waisenkind, das er vor vielen Jahren im Wilden Westen gefunden hat. Nur wenige Wochen nach ihrer Heirat verschwindet die Frau nach einem Besuch bei ihrer Freundin in Amsterdam spurlos. Es wird keine Leiche gefunden, in den Krankenhäusern liegt auch niemand, auf den die Beschreibung passt.
Texas Jack erinnert sich an ein junges, im linken Arm gelähmtes Mädchen, das über die Gabe des zweiten Gesichts verfügt. Wenn sie – pünktlich auf die Minute wie der angeblich „Graf von Saint- Germain“ im gleichnamigen, schon von Dieter von Reeken veröffentlichten Kolportageroman – in einem komatösen Schlaf fällt, kann sie mittels von ihr berührten Gegenständen entweder Menschen sehen/ finden oder erkennen, ob diese noch leben. Auch wird ihr tauber linker Arm während dieser Phasen der Seherei erwähnt. Sie kann vor allem mit ihr zur Verfügung gestellten Haaren der betreffenden Menschen gut sie an jedem Ort der Erde zeitlos sehen. Das führt in einer Nebenhandlung auch zu Verwechslungen, nimmt einzelnen Passagen die Spannung, ermöglicht es aber Texas Jack, seiner Geliebten bis auf eine kurze, frustrierende Begegnung auf dem Atlantik immer in einem entsprechenden Abstand zu folgen.
Wenige Jahre später wird Robert Kraft diese Gabe in seinem Kolportageroman „Das zweite Gesicht oder die Verfolgung um die Erde“ ebenfalls in den Mittelpunkt der Geschichte stellen. Während Texas Jack mit Schwiegervater, seinem getreuen Diener, dem Mädchen und einem Kindermädchen nach seiner Ehefrau sucht, jagt in dem späteren Werk ein verzweifelter Vater um die Erde, in der Hoffnung, seine entführte Tochter wieder zu finden.
Im nicht vor seinem Tod fertiggestellten Fortsetzungsroman „Loke Klingsor“ wird Robert Kraft auf eine deutlich dunklere Art und Weise das Thema Hellsehen noch einmal aufgreifen. Im schon angesprochenen „Der Graf von Saint- Germain“ entlarvt er die Hellseherei als eine Art sich selbst erfüllende Scharlatanerie. Angeblich können nur die Inder wirklich auf diese zwei Ebene schauen. Aber auch dieser Ansatz wird in den letzten Kapiteln des empfehlenswerten Romans „zerstört“.
Träume spielen bei Robert Kraft immer eine gewichtige Rolle. Der Zehnteiler „Aus dem Reich der Phantasie“ besteht nur aus Träumen und in verschiedenen seiner frühen Romane wie „Das Gauklerschiff“ oder „Wir Seezigeuner“ erweckt Robert Kraft an notwendigen Stellen den Eindruck, als wenn seine Charaktere oder deren übernatürlich begabte Helfer über den jeweiligen Horizont hinaus schauen und die entsprechenden Informationen einsammeln können.
Der Todes ähnlicher Schlaf gehört nicht nur zum Hellsehen, sondern dient mehr als einmal auch, um in erster Linie Frauen zu entführen. Auch dieser Handlungsteil zieht sich wie ein roter Faden durch Robert Krafts Gesamtwerk.
Mittels des hellseherisch begabten Mädchens kann das kleine Team der Spur von Amsterdam nach New York folgen. Dabei greift Robert Kraft auf ein bei ihm sehr beliebtes Mittel der Spannungserzeugung zurück. Er bietet dem Leser einige Informationen aus der „Zukunft“ an. Dabei geht er fast willkürlich mit Happy Ends und dunklen Prophezeiungen um.
Immer wieder verfällt Robert Kraft in überfließende Theatralik. Da wird wegen der Zwangsehe vom Ende der eigenen Partnerschaft gesprochen. Aber sie wird eine treue Tochter bleiben. Falsche Todesmeldungen und ein wirklich sehr fieser Cliffhanger in einem Königspalast sollen die Dramatik erhöhen. Da Robert Kraft erst in seinen späteren Kolportageromanen auch wichtige Charaktere meistens gegen Ende sterben lässt, wirkt dieses Element hier spannungs technisch eher stereotyp. Für einen Fortsetzungsroman jeder Epoche handelt es sich aber um legitime Mittel.
Der Feind lauert zusätzlich in der eigenen Gruppe, denn die Entführung und Zwangsheirat steht in einem engen Zusammenhang mit einem anfänglich immer wieder betonten, anschließend aber in den Hintergrund gerückten Familiengeheimnis.
Robert Kraft arbeitet vor allem in der ersten Hälfte des Buches mit zwei Ebenen. Auf der einen Seite die Jagd nach der Entführten von Schottland nach New York (vergeblich), zurück nach Marselle und schließlich in die Sklavenhändler Regionen Afrikas. Immer aus dem Blickwinkel des Mediums, das auf der einen Seite Informationen liefert, auf der anderen Seite aber auch durch die festen Zeiten, in denen sie nicht sehen kann, den Entführern einige Opportunitäten einräumt. Eine falsch aufgeschriebene Zeit wird ihnen natürlich zum Verhängnis.
Jack ist in der zweiten Hälfte des Romans alleine unterwegs. Sein Ruf eilt ihm in Afrika voraus. Vom Bad im Haifisch verseuchten Meer über die verschiedenen Bluffs, mit denen er sich zum Leidwesen der niedrigen Beamten Pässe und Stempel erschleicht, zu den Amazonen.
Weibliche Amazonenstämme mit Königinnen/ Kriegerinnen, die sich tragisch in Robert Krafts weiße Helden verlieben, sind ebenfalls ein wiederkehrendes Element. In “Atalanta”, in “Das Gauklerschiff” und schließlich auch “Wir Seezigeuner” sind diese Liebesbeschwüre die sehr starken und tapferen Frauen ergebnislos. Meistens müssen sie einen tragischen, ein wenig kitschigen Tod erleiden, damit der Weg zur wahren Liebe wieder frei gemacht wird.
Sein Wissen über Afrika bezieht Jack aus den Schriften Walter Wallons.
Nach einigen Irrungen und Wirrungen vor allem auch im Palast eines afrikanischen Tyrannen ist es ein Ägyptologe, der Jack wichtige Hinweise hinsichtlich des Aufenthalts seiner Frau und vor allem dem Vorgehen gegen die örtlichen Herrscher mit ihren Harems gibt.
Robert Kraft liebt Doppelungen. Genau wie Tagebücher, die in einigen seiner Bücher eine wichtige Rolle spielen und den Ich- Erzähler ganz eng mit dem Leser verbinden. In “Das Hohe Lied der Liebe” herrschen die angesprochenen Doppelungen vor. Zwei Schauspielerinnen spielen wichtige Rollen. Es gibt zwei relevante falsche Fährten, auf denen die Protagonisten und Nebenfiguren wandeln. Dabei ist die Hellseherei nicht perfekt, sondern funktioniert nur unter den richtigen zeitlichen Umständen und mit dem richtigen “Medium” in Händen. Zwei Entführungen dominieren die Handlung, wobei eine final tragisch endet. Es gibt noch eine dritte Entführung über Nacht während des Epilogs, diese ist aber weder handlungsrelevant noch wirklich originell. Zwei arabische Herrscher sind die ersten Gegner. Einmal ein Scheich mit einem riesigen, aber aufgrund seines Alters platonisch gehaltenen Harems voller schöner Frau. Und dann die Drusenführer, in deren Heiligtum eine wichtige Spur führt.
Zwei unterschiedliche Arten der Prophezeiung treiben Texas Jack an. Einmal die Hellseherei des kleinen Mädchens, das ihm mehr und mehr zu einer Tochter wird. Die Drusen lesen im Buch der Vorhersagen und ihre Visionen sind mindestens genau so passend wie das zweite Gesicht des Mädchens.
Drei Jahre nach “Das Hohe Lied der Liebe” wird die Idee einer auf den Rücken eines Mädchens eintätowierten Karte zu einem besonderen Ort in Atalanta eine wichtige Rolle spielen. Die entsprechende Sequenz - ein Teil des Geheimnisses - entwickelt Robert Kraft aber nicht sonderlich weit, es wird mit einem einzigen Brief wieder verworfen. In “Atalanta” wird sich Robert Kraft dieses Themas deutlich ausführlicher annehmen.
Die mehr als sieben Monate umfassende Hetzjagd von Europa in die USA, anschließend nach Nordafrika und wieder zurück in die USA ist mit exotischen Plätzen und ausführlichen, manchmal die Handlung ins Stocken bringen, Wissen den Leser vermittelnden Beschreibungen garniert. Texas Jack ist vielleicht nicht ganz mit Karl Mays Old Shatterhand zu vergleichen, aber Robert Kraft orientiert sich stellenweise an seinem Dresdner Konkurrenten. So eilt selbst im fernsten Afrika sein Ruf inklusive seiner Taten im kilometerweit voraus. Er ist sich dieser Tatsache auch bewusst und nutzt sie teilweise aus, um gegen die schiere Übermacht der potentiellen Feinde immer einen Schritt voraus zu sein.