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aus dem Jahr 2005:
Vielfältige Verehrerschar
Die Verehrerschar Jules Vernes ist bunt. Sie reicht vom einfachen Comic-Fan bis zum feinsinnigen Ästheten. Von Wilhelm II. bis Salvador Dali. Als unerschöpfliche Quelle und pünktlicher Lieferant nostalgischer Abenteuer ist Jules Verne wohl unerreicht.
Von Richard Schroetter | 24.03.2005
Eine Islandfahrt hatten der Bruder und ich schon immer als Kinder geplant. Jules Vernes „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ hatte uns dazu angeregt. Wir verschlangen damals einen Band nach dem anderen. Wir lasen sie zusammen und hatten dabei einen Synchronismus des Umblätterns erreicht. Vernes Reise führte uns durch einen Höhleneingang der Hekla in eine Vorwelt, die von Sauriern und anderen längst ausgestorbenen Tieren bevölkert war. Natürlich wußte Verne, dass die Erde nicht hohl ist; er hat auch hinsichtlich der Wissenschaft von der künstlerischen Freiheit großzügig Gebrauch gemacht. Gerade darauf beruht die Anziehung.“
So lautet eine Tagebucheintragung Ernst Jüngers vom 28. Juli 1968 (von einer Zwischenstation in Keflavik). Damals tobten auf den Straßen die jungen Achtundsechziger. In Seminaren oder tech-ins fochten sie haschischrauchend für „Basis und Überbau“ und gegen die bourgeoise Kultur der herrschenden Klasse. Mit der Aufwertung der Trivialliteratur kam auch Jules Verne wieder in Mode, den der offizielle Literaturbetrieb links liegen ließ. Das verband Jules Verne mit Ernst Jünger, dessen Drogenaufzeichnungen der aufmüpfigen Jugend mehr imponierten als die Sitzungen der Gruppe 47.
„10. Aug. 68. Rejkjavik : Wir gedachten Jules Verne.“
Cooler und gleichzeitig pathetischer wie Jünger in seinem Tagebuch hätten sich auch die Helden der Außergewöhnlich Reisen nicht ausdrücken können.
Die Verehrerschar Jules Vernes ist bunt. Sie reicht vom einfachen Comic Fan bis zum feinsinnigen Ästheten. Von Wilhelm II. bis Salvador Dali. Von Nikita Chrustschow bis Arno Schmidt. Namen wie Guillaume Apollinaire, Franz Kafka, Max Ernst, wie Raymond Roussel, Alberto Savinio, Georges Perec und Ror Wolf finden sich darunter. Einige von ihnen wie Julio Cortazar oder José Samarago haben Vernes Erfindungen und Figuren ihren Romanen spielerisch einverleibt. In Umberto Ecos Roman: Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana, um ein ganz aktuelles Beispiel zu benennen, wird Vernes Welt wie in einem Antiquitätenkabinett wieder herbeizitiert. Als unerschöpfliche Quelle und pünktlicher Lieferant nostalgischer Abenteuer ist Jules Verne wohl unerreicht. Phileas Fogg, Kapitän Nemo oder Professor Lidenbrock sind Archetypen, wie der Ichthyosaurus, dieses Reptil aus vorsintflutlichen Zeiten, mit Augen so groß wie ein Menschenkopf in einer nordischen Unterwasserhöhle. Nicht nur die Alten wie Ernst Jünger, Alberto Savinio oder Arno Schmidt entzückte dieses Monster, sondern auch Deutschlands jüngsten Verne-Biographen Volker Dehs.
Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/vielfaeltige-v…rschar-100.html
„Das war im Alter von sechs Jahren als Volker Dehs noch ein Spezialist, nicht für Jules Verne, sondern für Dinosaurier war, und dann im Fernsehen Filme sah wie »Reise zum Mittelpunkt der Erde« oder „Die geheimnisvolle Insel“, wo ganz viele Dinosaurier drin vorkamen. Ich hab dann meine Eltern solange bearbeitet, bis ich herausgefunden habe, dass das auf Vorlagen auf Büchern von Jules Verne basiert, dass sie mir diese Bücher unbedingt kaufen sollen, so früh wie ich lesen konnte. Meine Eltern kannten Jules Verne nicht und haben mir erstmal Bücher von Jacques Cousteau gekauft, aber das hat auch mit Unterwelt und Tauchen zu tun. Na, dass ich mich noch einige Zeit gedulden mußte, dann die ersten Bücher las so im Alter von sieben acht Jahren, und ziemlich enttäuscht feststellte, dass es so viele Dinosaurier bei Verne garnicht gab, dann sah ich aber die Liste, dass der gute Mann nicht nur drei oder vier Romane, sondern gleich mehrere geschrieben hatte, über 20 waren mir damals greifbar, die ich alle durchgelesen hab, ohne fündig zu werden in Sachen Dinosaurier, aber ich hab festgestellt, dass mir die Romane sehr gut gefallen haben.“
Jules Verne stammt aus Nantes in der Bretagne. Er hat als braver Bürgersohn dem Vater zuliebe in Paris erst mal Jura studiert, sich zwischenzeitlich auch als Börsenmakler versucht. Aber es zog ihn nicht aufs Parkett, sondern auf die Bretter. Über ein Jahrzehnt war er hartnäckig aufs Theater fixiert, schrieb ein Boulevardstück nach dem anderen mit mäßigem Erfolg. Der Schriftsteller Alberto Savinio, einer der anregendsten Köpfe der italienischen Avantgarde, hat Jules Verne in seiner schönen jetzt auch auf Deutsch veröffentlichten Prosaskizze in seiner mit Anekdoten und skurrilen Assoziationen gespickten Art porträtiert :
„Eines Abends befand sich Verne in seinem Zimmer. Das Fenster war zu dem lichtüberfluteten Boulevard hinaus geöffnet. Zugleich mit den Lichtern und den Stimmen kam durch dieses Fenster eine Dame herein, gekleidet wie eine Bibelverkäuferin der Heilsarmee mit Schute und Augengläsern, doch die Arme voller Zirkel, Sextanten und Sphärometer. Sie blieb vor dem Tischchen stehen, an dem Jules Verne eines jener hybriden Schauspiele, halb Musik, halb Prosa, verfaßte, und sie sagte, indem sie ihm streng ins Gesicht blickte: „Jules, genug der Dummheiten!“ Die Dame war hager und hässlich... Verne erhob sich von seinem Stuhl. „Mit wem hab ich die Ehre?“ fragte er. „Ich bin die Wissenschaft“ erwiderte die Besucherin. Und von dem Tag an wurde die gestrenge Dame für Jules Verne das, was Troja für Homer gewesen ist: eine Quelle der Inspiration.“
„Das Sensationelle war, dass J. Verne der Erste war, der überhaupt auf die Idee gekommen ist, in die Gattung des Abenteuer- und Reiseromans wissenschaftliche Fakten einzuführen. In den 50- u. 60ger Jahren herrschte in Frankreich das Ideal der Kunst um der Kunst willen. Das bedeutet, dass Kunst nur in sich selbst einen Sinn fand, und jegliche Zweckorientierung von Kunst negativ beäugt wurde. Als Jules Vernes Verleger auf die Idee kam, den Roman dazu zu benutzen, Bildung zu vermitteln, Fakten, wissenschaftliche Fakten, die nicht im französischen Schulwesen vermittelt wurden. Denn das franz. Schulwesen lag größtenteils in den Händen der Kirche, und die war nicht an der Beschneidung ihrer Macht durch Physik, Chemie und Biologie interessiert. Auf dieser Schiene fuhr Verne weiter. Er verband Wissenschaft und Unterhaltung auf eine Weise, die für das damalige Publikum ganz neu war. "