Mit Jules Verne und Karl May in den Lüften

  • Die Kurzgeschichte Ein Drama in den Lüften von Jules Verne erscheint in deutscher Übersetzung wahrscheinlich erstmals in der Buchausgabe Eine Idee des Doctor Ox (Julius Verne's Schriften XX, A. Hartleben, Wien Pest Leipzig 1875, Übersetzung: Martha Lion), die im Februar 1875 ausgeliefert wird. Wahrscheinlich gleichfalls im Februar, genauer am 27. dieses Monats, beginnt in Nr. 26 des 'Beobachter an der Elbe' der Abdruck der Novelle Wanda von Karl May, in welcher eine Ballonfahrt ebenfalls eine zentrale Rolle spielt (der von Ralf Harder aufgestellten Theorie, daß der 2. Jahrgang des 'Beobachter' erst zu Jahresbeginn 1875 erschien und dann z.T. zweimal in der Woche erschien, vermag ich mich nicht anzuschließen). Der sächsische Autor wird später in einer seiner autobiographischen Streitschriften angeben, daß die 'Wanda'-Ezählung bereits aus den 60er Jahren stammt, wobei man freilich annehmen darf, daß lediglich der erste Teil dieser Geschichte ein derart frühes Entstehungdatum hat. Am 8. März übernimmt Karl May dann selber die Redaktion dieses Blattes, sodaß der allergrößte Teil der 'Wanda'-Novelle, die bis zur Nr. 44 Anfang Juli in Fortsetzungen erscheint, von ihm selber in seiner neuen Funkton als Redakteur redrigiert wird. Insofern könnte das zunächst von May eingereichte Manuskript kürzer gewesen sein, dafür spricht etwa auch eine Lücke im Abdruck in den Nr. 35-37, sodaß die Novelle in der entgültigen Form möglicherweise nicht schon im Februar vollständig abgeschlossen war. Und so ist dann auch das 'Luftfahrt'-Kapitel Ueber den Wolken erst nach dieser Lücke ab Nr. 39 (29. Mai) zu lesen, was dafür spricht, daß May dieses Kapitel erst relativ kurzfristig vor xdem abdruck verfaßt haben könnte.


    Warum ist die Datierung aber so wichtig? Nun, der Vergleich zwischen Mays Ueber den Wolken und Vernes Drama in den Lüften zeigt einige inhaltliche Parallelen, die den Verdacht nahelegen, daß Karl May die Kurzgeschichte von Jules Verne gekannt haben dürfte und sich durch diese inspirieren ließ. Da Vernes Geschichte aber erst im Februar 1875 in deutscher Übersetzung erschien, hätte May diese logischerweise erst nach diesem Zeitpunkt lesen können, daß May aber schon 1874 die französischsprachige Buchausgabe gelesen haben könnte, ist dagegen wohl auszuschliessen. Dabei hat der sächsische Schriftsteller sich freilich nicht in einwandfrei nachweisbarer Weise 'wortwörtlich' bedient, sodaß eine endgültige Bewertung wohl nicht möglich ist.


    Allerdings erschien über ein später in der Nr. 59 der gleichfalls von Karl May redaktionell betreuten Zeitschrift 'Schacht und Hütte' dann die anonyme Ultra-Kurzgeschichte Eine grausige Luftfahrt], die nun doch relativ eindeutig Vernes Drama in den Lüften plagiert und als deren Autor May keineswegs ausgeschlossen werden kann. Beide Texte seien hier einmal vorgestellt, das Wanda-Kapitel Ueber den Wolken nur in einigen wesentlichen Ausschnitten, der anonyme Kurztext hingegen vollständig.



    1. Der Aufstieg


    Ein Drama in den Lüften: Wir sollten um zwölf Uhr aufbrechen, und es gewährte einen prächtigen Anblick, wie die ungeduldige Menge sich an die Einfriedigungen, die um den Ballon gezogen waren, drängte, den ganzen Platz überschwemmte, sich in den umliegenden Straßen aufhielt und die Fenster sämmtlicher Häuser, die auf den Platz hinaus gingen, vom Erdgeschoß bis zum Dachboden besetzte. (...) Unter den Personen, die um die Barrière standen, bemerkte ich einen jungen Mann mit blassem Antlitz und aufgeregten Zügen (...).


    Wie in der Hartleben-Übersetzung verwendet auch Karl May die Barriere, um die Zuschauer auf Abstand zu halten:: Der Platz, auf welchem der Ballon zum Füllen bereit lag, war von einer Barrière umgeben, und der Gehülfe des Aeronauten hatte alle Mühe, die Menschenmenge, welche sich schon am Vormittage hier versammelt hatte, in der nöthigen Entfernung zu halten.


    Eine weitere Parallele findet sich auch in der unvollständigen Füllung der Ballone, zunächst Verne: Morgens hatte ich den Ballon gefüllt; natürlich nur zu drei Vierteln, da dies eine durchaus nothwendige Vorsichtsmaßregel ist. In dem Maße, wie man steigt, nimmt nämlich die Dichtigkeit der atmosphärischen Luftschichten ab, und so könnte das unter der Hülle des Luftschiffes eingeschlossene Fluidum die Wände des Ballons sprengen, wenn es an Elasticität gewinnt. Mit der entsprechenden Szene bei May beginnt die 'heiße' Phase des Aufstiegs.


    Wanda, Ueber den Wolken: Die Auffüllung des Ballons war glücklich beendet. Zwar hatte er sich noch nicht bis zur größtmöglichsten Ausdehnung aufgebläht; aber er mußte diese Ausdehnung bei dem Eintritte in höhere und in Folge dessen auch leichtere Luftschichten erreichen und bot dann jedenfalles einen stolzen Anblick. Bei der zweiten Besichtigung war nichts Sicherheitswidriges bemerkt worden, und so konnte das Einsteigen der beiden Passagiere vor sich gehen.
    Der Professor hatte die eingesammelten Gelder in Empfang genommen und dem Gehülfen einen kleinen Theil davon mit der Weisung, seine Rückkehr hier abzuwarten, eingehändigt. Jetzt hing er in den Seilen und prüfte die Luftströmung. Diese war eine durchaus günstige und versprach ein rasches Vorwärtskommen.
    Jetzt stieg er nieder, trat an den Rand der Gondel und winkte zum Einsteigen. Wanda stieg, seine Hülfe abweisend, die kurze Strickleiter hinauf und nahm Platz ohne der Umgebung einen Blick der Aufmerksamkeit zu schenken. Langsam dagegen ging es bei Hagen.
    (...)
    Jetzt wurde der Anker gelöst und die festhaltenden Seile gelockert. Der Ballon stieg eine Strecke in die Höhe, wiegte sich majestätisch hin und her und zerrte an dem einen Taue, an welchem er, von Menschenhänden gehalten, noch hing. Nochmals prüfte der Professor die Luft, dann wandte er sich der Richtung zu, in welcher der Wagen der Baronin stand und gab mit der Hand ein zustimmendes Zeichen, welches von Säumen erwidert wurde. Darauf winkte er, das Seil loszulassen.
    Für die Menge der Umstehenden hatte das gegebene Zeichen die sehr natürliche Bedeutung, daß er die anvertraute Braut und Tochter behüten werde. Anders aber war es bei Emil Winter.
    Er traute Säumen das Schlimmste zu, hatte sein Mienenspiel beobachtet und bemerkt, mit welcher Spannung sein Auge auf Wanda geruht und dann befriedigt aufgeblitzt hatte, als sie eingestiegen war. Und als er den Zug diabolischer Freude bemerkte, den der Baron trotz aller Anstrengung nicht unterdrücken konnte, als der Professor das Zeichen gab, da leuchtete in ihm die Ueberzeugung auf, daß die Geliebte seiner Seele in einer schrecklichen Gefahr schwebe.
    Er sah nur noch, daß sein Bruder unbeachtet von den Umstehenden, sich auf das Kofferbret setzte; dann sprang er mit einem Satze aus dem Wagen, brach sich mit fast übermenschlicher Kraft durch die Menge Bahn und langte gerade in dem Augenblicke bei den Haltenden an, als dieselben das Tau los ließen. Es war die höchste Zeit gewesen, und mit beiden Händen griff er zu.
    Das Luftschiff stieg, als es nicht mehr an die Erde gebunden war, mit einem einzigen raschen Rucke mehrere hundert Fuß hoch empor, dann schwebte es scheinbar still an einem Punkte, wie um die Richtung zu suchen, die es einzuschlagen habe, und endlich bewegte es sich, von dem herrschenden Luftstrome begleitet, vorwärts.
    Schon längst hatte die Musik begonnen; aber so stark das Orchester und so rauschend das Stück auch war, welches gegeben wurde, sie vermochte doch nicht den Schrei des Entsetzens zu übertönen, welchen die Menge ausstieß, als sie einen Menschen so hoch da droben an dem Seile hängen sah. Das Letztere war nicht mehr zu erkennen, und es schien, als schwebe der Mann frei in der Luft und werde jeden Augenblick herabstürzen.



    2. Der Mann am Seil


    Ein Drama in den Lüften: Der Ballon stieg langsam empor, aber ich verspürte eine so heftige Erschütterung, daß ich mich nicht halten konnte und auf den Boden der Gondel niederstürzte. / Als ich wieder aufgestanden war, sah ich einen Reisegefährten neben mir; es war der blasse junge Mann.


    Der blinde Passagier an Bord eines Luftschiffes ist natürlich nicht so originell, daß nun jeder Autor diese Idee gleich bei Vernes 'Drama' entliehen haben muß. Verne selber hat dies - wie er in seinem Zeitungsbericht '24 Minuten im Ballon' erzählt - sogar bei seinem Ballonaufstieg erlebt: Aber wir hatten unsere Rechnung ohne den Sohn Eugène Godards gemacht, einen unerschrockenen kleinen Kerl von neun Jahren, der in den Korb hineinkletterte, sodaß es notwendig wurde, zwei der vier Ballastsäcke zu opfern. . Aber etwa auch Jack London hat so ein Ereignis in einer kurzen Ballongeschichte erzähltt. Karl May ist in seiner Schilderung sowieso völlig eigenständig gegenüber Verne, da dieser gar nicht genau schildert, wie der junge blasse Mann überhaupt in die Godel gelangen konnte, wie ein Springteufel steht dieser plötzlich im Korb. Emil Winter hingegen muß sich ersteinmal mühselig am Seil emporturnen.


    Wanda, Ueber den Wolken: Indessen schwebte der Ballon ruhig weiter, ruhiger als seine Insassen waren. Wanda hatte sich nach unten gewendet, um die Gegend aus der Vogelperspective zu betrachten und dabei den an dem Seile Hängenden zuerst bemerkt.
    »Um Gottes Willen, Herr Professor, es hat sich Jemand in dem Taue verwickelt und ist mit in die Höhe gezogen worden!« rief sie erschrocken.
    Der Angeredete beugte sich über die Brüstung der Gondel hinaus, und auch Hagen schickte sich an, diese Bewegung zu machen, zog aber den Kopf sofort wieder zurück, weil er sich vom Schwindel erfaßt fühlte.
    »Der Mensch ist verloren!« sagte der Luftschiffer nach einem beobachtenden Blicke in die Tiefe.
    »Zwar scheint es, als ob er sich in die Höhe turnte; aber seine Kraft wird bald zu Ende gehen!«
    »Wir müssen helfen, müssen ihn retten, müssen das Seil einziehen!«
    »Das wird kaum statthaft sein, denn durch dieses Experiment müßte die Gondel sich auf die Seite neigen, und wir selbst kämen dabei in die größte Gefahr.«
    »Daran dürfen wir nicht denken. Vorwärts zugegriffen!«
    Der Professor erfaßte ihren Arm. Seine Passagiere sollten den festen Erdboden nicht lebendig wieder berühren; ein Dritter mußte ihm also unbequem sein. Es blieb sich ja ganz gleich, ob derselbe jetzt gleich oder mit den beiden Anderen den tödtlichen Sturz machen werde.
    »Lassen Sie, Fräulein! Wir werden Nichts weiter erreichen, als daß das Seil in schwingende Bewegung geräth und den Unglücklichen abschleudert. Warten wir ab, wie weit seine Kräfte reichen!«
    Sie mußte sich, wenigstens einigermaßen von diesem Grunde überzeugt, fügen und lehnte sich vornüber, um die Anstrengungen des Mannes zu beobachten.
    Obgleich das wirbelnde Drehen des Taues seine Bemühungen bedeutend erschwerte, griff er sich doch Hand um Hand stetig und gleichmäßig vorwärts, als habe er auf dem Turnplatze eine Seilübung vorzunehmen. So kam er näher und immer näher, und als er jetzt das Angesicht nach Oben kehrte, um die noch zurückzulegende Entfernung abzumessen, erkannte sie ihn.
    »Emil, mein Gott, es ist Winter! Wir müssen ihn retten, Professor, sonst ist er verloren.« Abermals machte sie Miene zuzugreifen, und die gräßlichste Angst prägte sich ihrem Angesichte auf. Aber mit einer gebieterischen Handbewegung hielt der Aeronaut sie zurück.
    »Sie wissen, Fräulein, daß dem Capitäin eines Schiffes der unbedingteste Gehorsam zu leisten ist, und dieses Gebot findet auch hier bei uns seine strenge Anwendung. Ich bin es, auf dem alle Verantwortlichkeit ruht, und ich muß am Besten wissen, was zu thun ist.«
    »Nun gut; dann muß ich gehorchen; aber ich werde Sie zur Rechenschaft ziehen!«
    »Die ich sehr leicht ablegen kann. Wir können Nichts thun, wenn er nicht selbst sich rettet.«
    Winter hatte sich jetzt das Seil um die Beine geschlungen und ruhte, in halb sitzender, halb hängender Stellung aus. Als er bemerkte, daß Wanda's Auge auf ihn gerichtet sei, ließ er mit der Rechten los, um einen grüßenden Wink zu geben, und das sorglose Lächeln, welches dabei in seinen Zügen lag, überzeugte sie, daß sie seiner Kraft vertrauen könne. Seine bald fortgesetzten Bewegungen waren so frisch, als ob er sie erst jetzt beginne, und in wenig Augenblicken befand er sich an der Gondel.
    »Tretet auf die andere Seite, sonst geht das Gleichgewicht verloren!« rief er und befand sich einige Secunden später im Innern des Geflechtes.

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    3. Der Absturz


    Ein Drama in den Lüften: Die Gondel fiel, aber instinctmäßig klammerte ich mich an das Tauwerk und wickelte mich in die Maschen des Netzes. / Der Rasende war in dem Raume verschwunden, während mein Ballon zu unermeßlichen Höhen emporgetragen wurde!


    Wie bei Verne kommt es auch bei May am Schluß der Luftfahrt zum mutwillig verursachten Abriss der Gondel und zum Absturz eines der Insassen. Dabei gebraucht der Sachse sogar ausnahmsweise eine fast identische Formulierung wie in der Hartleben-Übersetzung. Dort heißt es: Die Gondel fiel, aber instinctmäßig klammerte ich mich an das Tauwerk. Entsprechend liest man bei Karl May: Instinktmäßig klammerten sie sich an (...). Als wirklicher Beweis, daß May die Kurzgeschichte von Verne tatsächlich gekannt hatte uns als Vorbild gebrauchte, ist dies jedoch nicht ausreichend, da dererlei kleine Übereinstimmungen natürlich auch zufällig entstehen können. erst wenn derartige Beispiel gehäuft auftreten, oder sich gar ganze Sätze gleichen, kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, daß sich ein Autor beim anderen bedient hat. Der Umkehrschluß, daß nur ganz wenige oder gar keine wörtlichen Textkorrespondenzen jedenfalls auf eine ganz eigenständige Arbeit schließen läßt, ist indessen auch nicht möglich, da man bei sorgfältiger Neuformulierung und dem Vermeiden allzu deutlicher Paraphrasierungen einen Quelltext natürlich auch gut verschleiern kann.


    Wanda, Ueber den Wolken: Winter schwieg und nahm den an seiner Uhrkette hängenden Compaß zur Hand. Er bemerkte nach einiger Zeit daß der Ballon eine vollständig andere Richtung eingeschlagen hatte und hielt deßhalb auf jede Bewegung des Professors ein scharfes Auge. Dieser blickte durch das Perspectiv und griff dann von Neuem nach dem Sande.
    »Sie werden Ihre Wette verlieren!« meinte Hagen, und auf seiner Stirn standen helle Tropfen. »Der Zug wird in wenigen Minuten sein Ziel erreicht haben.«
    »Wir sind auch gleich da. Noch einige tausend Fuß und dann sinken wir. Ich werde unterdessen zur Klappe steigen.«
    Er schwang sich auf den Rand der Gondel und kletterte in das Netzwerk hinauf. Der Ton seiner Stimme hatte den eigenthümlich heiseren Klang gehabt, welchen die menschliche Sprache oft zeigt, wenn die Seele in ängstlicher Spannung sich befindet oder der Wille etwas bezweckt, was mit dem Rechtsgefühle nicht im Einklange liegt.
    Das fiel Wintern sofort auf. Dieses Emporklettern mußte einen besondern Grund haben; denn das Ventil war ja sehr bequem durch eine Schnur zu öffnen, welche bis in die Gondel herrabreichte.
    »Sehen Sie sich vor, Herr Commissar! Der Mann führt etwas im Schilde,« flüsterte er und blickte gespannt nach oben. Da griff der Professor nach einer Schlinge und zog an derselben, um sie zu öffnen. Dies schien jedoch einige Schwierigkeit zu haben, da bei der Passage durch die Wolken der Strick Feuchtigkeit angezogen hatte, in Folge dessen aufgequollen war und die Schleife schwer öffnen ließ.
    Durch diesen Umstand erhielt Winter einige Augenblicke Zeit, dem Laufe des Strickes zu folgen und die Bemerkung zu machen, daß die Hälfte der Gondelhalter an ihm befestigt waren und nachgeben mußten, sobald er gelockert wurde. Sofort erkannte er, worauf es abgesehen war, riß mit beiden Armen Wanda und den Commissar herüber auf die weniger bedrohte Seite und rief:
    »Haltet fest, sonst seid Ihr verloren.«
    Instinktmäßig klammerten sie sich an, obgleich sie den Grund dieses angstvollen Zurufes nicht begriffen, und im nämlichen Augenblicke bekam die Gondel einen Ruck, die Halter fielen nieder, und die drei Menschen hingen, den Boden unter den Füßen verlierend, frei in der Luft.
    »Einen Augenblick nur halte fest, Wanda!« mahnte Winter und die gräßlichste Angst sprach aus dem Tone seiner Stimme. Er schwang das eine Bein über den Gondelrand, und so auf denselben reitend, zog er das Mädchen herauf zu sich und sprach;
    »Sei nur jetzt stark, Wanda, und verliere das Bewußtsein nicht, sonst bist Du verloren!«
    »Ich halte fest, Emil! Rette nur - Herr Gott, wo ist der Commissar?«
    Er war verschwunden. Im Augenblicke der Gefahr hatte ihn die Besinnung verlassen oder war die Kraft seiner Arme zu schwach zum Festhalten gewesen, und so war er hinabgestürzt.



    4. Das Gewitter


    Ein Drama in den Lüften: Die Wolken entrollten sich unter unseren Augen in blendender Masse; der Ballon warf seinen Schatten darauf und wurde gleichsam in eine Strahlenkrone gehüllt. Der Donner grollte unter der Gondel, es war furchtbar! (...) Die Wolken drängten sich von allen Seiten um uns zusammen, und furchtbare Detonationen, die in der Wölbung des Aërostaten widerhallten, krachten um uns.


    Wanda, Ueber den Wolken: Während der letzten Worte zuckte ein flammender Wetterschein tief unter ihnen hin. Es war als stände das ganze unter ihnen fluthende Luftmeer in Flammen, und kurze Zeit darauf tönte ein leises, rollendes Gemurmel zu ihnen empor.
    »Ein Gewitter. Es war Mittags sehr heiß. Aber jetzt dürfen wir nicht sinken, sonst kommen wir mitten in das Wetter hinein und werden von den verschiedenen Strömungen hin und her geschleudert.« Diese Strömungen äußerten ihren Einfluß auch auf die äußeren Luftschichten. Zwar boten die unter ihnen sich ballenden Wolken, da sie sich selbst in Bewegung befanden, keinen sicheren Augenpunkt, aber es war trotzdem zu bemerken, daß der Ballon eine andere Richtung eingeschlagen hatte und mit vermehrter Geschwindigkeit vorwärts ging. Die Luftbewegung hatte also ihre Richtung geändert und auch ihre Schnelligkeit verstärkt.
    In einer gesicherten Lage hätte der großartige Anblick des unter ihnen leuchtenden Wetters ihnen eine noch nie von oben gehabten, fesselnden Genuß gewährt. Jetzt aber waren ganz andere Gedanken zu hegen. Winter arbeitete sich empor bis zu dem Professor, zog sein Taschentuch und versuchte, den Arm desselben an das Netzwerk zu befestigen. Es gelang nach einigen vergeblichen Versuchen, bei welchen von beiden Seiten nicht ein Laut gesprochen wurde. Der Verwundete hielt die Augen geschlossen, ob aus Schwäche oder Scham, es war auch gleichgültig. Es galt nur, sich den Menschen zu sichern, da seine Aussagen nothwendig gebraucht werden konnten.
    Sodann kletterte er um den Ballon herum und gelangte auf diese Weise zur Schnur. Ein Blick in die Tiefe zeigte ihm das Gewitter seitwärts und unter sich die reinste Luft.
    Er zog. Das Ventil öffnete sich; mit einem leise pfeifenden Rauschen strömte das Gas heraus, und die Wolken schienen in der Ferne in die Höhe zu steigen. Das war ein Beweis, daß der Ballon fiel. Die erst so glatt angespannte Taffetmasse legte sich nach und nach in Falten, wodurch die Schwierigkeit des Kletterns in Etwas vermindert wurde; aber durch die Verschiedenheit der hier unten herrschenden Strömungen wurden die Bewegungen des Ballons so Gefahr drohend, daß Winter, um nicht hinabgeschleudert zu werden, sich mit Aufbietung aller Kräfte festklammern mußte.
    Vorsichtiger Weise ließ er das Gas nur in einzelnen Zwischenräumen ausströmen, so daß das Sinken langsam vor sich ging, und mit gespannter Aufmerksamkeit richtete er den Blick hinunter, wo sich bald der Anblick der Erde bieten mußte.
    Zwischen einzelnen leichten Wolkenstreifen drangen die Reflexe des niederfallenden Sonnenlichtes empor. Die Streifen näherten sich, und als ihre Feuchtigkeit, die sich in Nebelform um die Luftschiffer legte, durchdrungen war, lag die Oberfläche der Erde in von dem Regen erfrischten Grün unter ihnen.


    Der vollständige Text der Novelle Wanda findet sich unter:
    http://www.karl-may-gesellscha…ehl/reise/wanda/wanda.htm
    Die Version in den 'Gesammelten Werken (Band 72, Schacht und Hütte) ist merklich bearbeitet und eignet sich darum nicht zu Textvrgleichen mit der Hartleben-Übersetzung


    Einschub: Blanchard in Frankfurt


    Ein Drama in den Lüften:"Sie kennen zweifelsohne die von Blanchard und Jefferies ausgeführte Ueberfahrt von Dover nach Calais! Herrlich!"


    Ein Gutteil des Textes von Vernes Drama widmet sich der Schilderung historisch bedeutsamer Ereignisse - insbesondere einiger Kathastrophen - aus der Geschichte der Ballonfahrerei. Bei May finden sich dererlei historische Betrachtungen nicht. Es ist aber vielleicht nicht uninteressant, hier ein paar Sätze des Altmeisters Goethe einzuschieben, der als Zeitzeuge der frühen Ballonfahrtgeschichte von einigen der bei Verne genannten Luftschiffer zu berichten weiß. So plante der als Kanal-Überquerer bekannte Blanchard 1785 einen Aufstieg in Frankfurt, dem Startplatz in Vernes Kurzgeschichte.


    Goethe, Briefauszüge: Wir leben gut und freundlich hier zusammen, obgleich Frau v. Stein wieder auf ihr Gut ist. Fritzen hab ich nach Frankfurt geschickt damit er Blanchard in die Lufft steigen sehe und in der Messe als einem trefflichen Theile des Orbis picti herumlaufe.


    Ich habe nun gewisse Nachricht daß Blanchard auffährt. Vielleicht zu Ende der Woche. Sein Ballon wird etwas gröser als unsre Schnecke seyn. Es freut mich für Fritzen unendlich.


    Auf den Sonntag steigt also Blanchard. Wie bin ich auf Fritzen Beschreibung neugierig, der gewiss auch davon schreiben wird als wenn es nichts wäre.


    Was mag Blanchard gestern für ein Schicksal gehabt haben?


    Hier ein Brief von Fritz. Blanchard ist vergangnen Sonntag nicht gestiegen, also wird Fritz auch noch nicht kommen.


    Überhaupt war Goethe wohl ein begeisteter Anhänger der Ballonfahrt, wie dieser Absatz aus seinen rückblickenden Betrachtungen (1822) zeigt: Wer Die Entdeckung der Luftballone mit erlebt hat wird ein Zeugniß geben, welche Weltbewegung daraus entstand, welcher Antheil die Luftschiffer begleitete, welche Sehnsucht in so viel tausend Gemüthern hervordrang an solchen längst vorausgesetzten, vorausgesagten, immer geglaubten und immer unglaublichen, gefahrvollen Wanderungen Theil zu nehmen; wie frisch und umständlich jeder einzelne geglückte Versuch die Zeitungen füllte, zu Tagesheften und Kupfern Anlaß gab; welchen zarten Antheil man an den unglücklichen Opfern solcher Opfer genommen.


    Unter den angesprochenen Luftfahrern in Vernes Drama ist ferner der Italiener Zambeccari. Der unheimliche blinde Passagier begeistert sich vorrallem für dessen Absturz über dem Meer: Zambecarri bekam arges Erbrechen, und Grossetti blutete heftig. Die Armen konnten kein Wort hervor bringen, so kurz war ihr Athem. Es fror, und in wenigen Minuten waren die Armen mit einer Eiskruste bedeckt. Der Mond schien roth wie Blut. Goethe griff diese Schilderung der Italiener in seiner Farbenlehre auf.


    Die Luftfahrer, besonders Zambeccari und seine Gefährten, wollen in ihrer höchsten Erhebung den Mond blutroth gesehen haben. Da sie sich über die irdischen Dünste emporgeschwungen hatten, durch welche wir den Mond und die Sonne wohl in einer solchen Farbe sehen; so läßt sich vermuthen, daß diese Erscheinung zu den pathologischen Farben gehört. Es mögen nämlich die Sinne durch den gewohnten Zustand dergestalt afficirt sein, daß der ganze Körper und besonders auch die Retina in eine Art von Unberührbarkeit und Unreizbarkeit verfällt. (...) Den Hamburger Luftfahrern erschien auch die Sonne butroth. Wenn die Luftfahrenden zusammen sprechen und sich kaum hören, sollte nicht auch dieses der Unreizbarkeit der Nerven ebenso gut als der Dünne der Luft zugeschrieben werden?


    (Textquelle: Die Goethe-Zitate sind der Anthologie Goethes Luftverkehr [1999] entnommen)


    In dem nun folgenden anonymen Kurztext Eine grausige Luftfahrt spielt übrigens ein Italiener eine nicht ganz unwesentliche Rolle. Vielleicht hat sich ja der Autor in der Wahl der Nationalität durch Zambeccari beeinflußen lassen


    Reprint von Eine grausige Luftfahrt
    Teil 1: -> http://www.karl-may-gesellscha…r/schacht/zeitung/393.png
    Teil 2: -> http://www.karl-may-gesellscha…r/schacht/zeitung/394.png
    Teil 3: -> http://www.karl-may-gesellscha…r/schacht/zeitung/395.png

  • Eine grausige Luftfahrt


    Große Aufregung herrschte an einem schönen Sommertage des Jahres 1853 in dem kleinen irischen Städtchen Ballydorley. Die ganze Bevölkerung nicht nur des Städtchens, sondern auch der Umgegend war auf den Beinen und stürmte auf den großen Platz zu, auf dem gewöhnlich die Wettrennen stattzufinden pflegten. Hier drängte sich Alles um einen Gegenstand, welcher sich in der Mitte des Platzes befand.
    Es war dies ein großer, schön bemalter Luftballon, den man soeben gefüllt hatte, und der, an Seilen festgehalten, majestätisch über den Köpfen der gaffenden Zuschauer herschwebte, und nur auf die Ankunft des kühnen Aeronauten zu warten schien, um sich in die Lüfte zu schwingen.
    Da kommt er! Da kommt er! hieß es nun plötzlich aus vielen Tausend Kehlen, und Alles blickte erwartungsvoll auf einen, raschen Laufes sich nähernden Wagen, aus welchem bald darauf Mr. Hall, ein in England und Irland durch seinen großen Reichthum bekannter Gutsbesitzer, heraussprang.
    Mr. Hall war ein kleiner lebhafter Mann, und gehörte zu der Gattung Menschen, die man gewöhnlich mit dem Ausdruck "Pechfinken" zu bezeichnen pflegt, d. h., die sicher sind, bei jeder Gelegenheit irgend welchem Unheil zu begegnen. Selten gelang es ihm z.B., in ein Zimmer einzutreten, ohne auszugleiten; zu stürzen, ohne dabei etwas zu verschlagen; selten, Briefe zu schreiben, ohne Tinte darüber zu gießen; zu essen, ohne alles Mögliche in die falsche Kehle zu bringen; etwas zu zerschneiden, ohne sich zu schneiden u. s. w.
    Beim Turnen hatte er sich drei Zähne eingeschlagen; beim Schifffahren wäre er beinahe schon viermal ertrunken, und auf der Jagd in den schottischen Mooren, hatte er, anstatt Rebhühner, sich zwei Finger weggeschossen. Eine Vorliebe ferner für die edle Feuerwerkerei hatte ihn eines großen Theiles seiner Haare und gänzlich seiner Augenbrauen und seines Bartes beraubt. Was endlich seine verschiedenen Eisenbahnunfälle betrifft, so ließe sich darüber ein ganzes Buch schreiben.
    Nachdem er nun so zwei Elemente, Wasser und Feuer, hinlänglich versucht, kam ihm einstens der glückliche Gedanke, daß es noch ein drittes, - die Luft, gäbe, welches für ihn unmöglich gefährlicher als die anderen sein könnte. Demgemäß hatte er sich ein Jahr zuvor, als er noch auf seinem Gute in Devonshire lebte, einen großen Luftballon gekauft, und - es ist unglaublich, aber wahr - hatte mit demselben schon verschiedene Ausflüge gemacht, von denen er mit heiler Haut zurückgekommen war. Heute nun hatte er im Sinne, mit seinem Ballon über die Insel hin bis nach Belfast zu fliegen. Ein Freund aus London, der sich gerade auf einer Fischpartie nach Irland befand, hatte ihm versprochen, die Fahrt mitzumachen, schien aber die Courage verloren zu haben, denn - er kam nicht.
    In keiner Weise dadurch entmuthigt oder gestört, war Mr. Hall eben im Begriff, in die Gondel seines Ballons zu steigen, als ein großer, sehr kräftig gebauter Mann von feinem Aussehen auf ihn zuschritt und höflichst grüßend sagte: "Dürfte ich Sie mit einer Frage belästigen?"
    "Mit Vergnügen."
    "Ist es wahr, daß Sie nach Amerika zu gehen gedenken?"
    "Nein, nur nach Belfast, so es Wind und Wetter erlauben."
    "Belfast," wiederholte langsam der Fremde mit etwas ausländischen Accent, - "Der Norden von Irland. - Nun gut, das ist gerade die Richtung, welche ich auch einzuschlagen habe, weil ich aber zu Lande zu reisen hasse, so erlaube ich mir, Sie zu bitten, mich als Reisegefährten anzunehmen."
    Mr. Hall zögerte einen Augenblick. Da er jedoch herzlich wünschte, jemanden als Begleiter auf seiner kühnen Fahrt zu haben und gegen die Person des Fremden durchaus keine Einwendung zu machen hatte, so gab er seine Zustimmung. Nur bemerkte er dem Fremden, daß sein Anzug für die kalten Regionen, die sie zu durchstreichen hätten, zu leicht sein dürfte.
    "Bah!" war die Antwort, "ich bin schon durch manches andere Klima gekommen, und bin, gottlob, nichts weniger als empfindlich."
    "Nun so kommen Sie, " sagte Mr. Hall, die athletische Gestalt des Fremden mit den Augen messend, - "kommen Sie! die Gondel ist groß genug für uns Beide."
    Rasch hatte sich jeder ein Plätzchen zurecht gemacht, und das Zeichen zum "Loslassen" wurde gegeben.
    Die 15 Mann, deren Hände die straff angezogenen Stricke festhielten, verlangten nicht Besseres, und in einem Nu flog der Ballon in die Lüfte, begleitet von dem Händeklatschen und dem Geschrei der versammelten Menge.
    "Ah! wie herrlich!" rief Mr. Hall! - "nicht wahr?"
    Als er hierauf keine Antwort erhielt, schaute er sich nach seinen Gefährten um. Derselbe lag, die Hände krampfhaft an die Stricke des Ballons geklammert, beinahe platt auf dem Leibe. Sein Kopf hing schlaff über den Rand der Gondel, während sein Blick ausdruckslos hinabstarrte.
    "Haben Sie Furcht?" fragte Mr. Hall theilnahmsvoll.
    Keine Antwort.
    Unterdessen fliegt der Ballon mit rasender Geschwindigkeit aufwärts, und in kurzer Zeit hatten sie die Wolkenregion erreicht.
    Mr. Hall wandte sich jetzt von Neuem zu seinem Gefährten. Dieser befand sich noch ganz in seiner früheren Lage.
    "Sind Sie unwohl?" sagte der Luftschiffer, ihn leicht am Arme schüttelnd.
    Wieder keine Antwort. Immer noch derselbe todte, starre Blick.
    Schon waren sie jetzt in ungeheuerer Höhe angekommen. Unter ihnen lagen die Wolken, über ihnen die brennende Sonne, und um sie herum ein endloser, unbegrenzter Raum.
    Plötzlich sprang der Fremde auf. Sein Gesicht war bleich, wie das eines Todten.
    "Rascher! Rascher!" rief er mit gebieterischem Tone und warf zugleich drei der mit Sand gefüllten Säcke, die als Ballast dienten, über Bord. "Ha!" fuhr er mit unheimlich klingender Stimme weiter, "das ist eine Art zu reisen; die Schwalben, und sogar den Adler werden wir einholen. - So aufgeregt fühlte ich mich nie, selbst nicht, als ich noch in den Abruzzen die Büchse in der Hand auf Reisende lauerte. - damals war es ihr Leben, das Gefahr lief, jetzt ist es das meine."
    "Sehr hübsch," dachte der Besitzer des Ballons, - "es scheint, ich befinde mich in der Gesellschaft eines italienischen Banditen."
    Der Ballon stieg immer noch mit grauenhafter Schnelle.
    "Besser ist's, mit den Elementen zu kämpfen, als mit Zollhausoffiziere, " murmelte der Fremde halblaut, und warf wieder einige der Säcke hinaus.
    "Um Gotteswillen," rief Mr. Hall, indem er die Hand auf seines Gefährten Arm legte, "bleiben Sie an Ihrem Platze. - Unser Leben steht auf dem Spiele. - Schon muß ich, um Ihre Unklugheit wieder gutzumachen, einiges Gas herauslassen."
    "Wie geschieht das?" fragte der Fremde neugierig.
    "Ich ziehe diesen Strick hier an, der mit der Klappe des Ventils in Verbindung steht."
    "Und wenn Sie dies Hilfsmittel nicht hätten, was wäre die Folge davon?"
    "Wir würden steigen und steigen bis Alles zerbersten würde."
    Der Fremde verfiel einen Augenblick in tiefe Gedanken, dann zog er rasch ein langes Messer und zerschnitt, so hoch er hinauf langen konnte, den Strick der Klappe.
    "Rascher, rascher!" rief er von Neuen, wüthend an den Seilen des Ballons rüttelnd.
    Der Mann war ein Riese im Vergleich mit Mr. Hall, der, da er wohl einsah, daß er mit Gewalt nichts ausrichten im Stande wäre, sich auf das Bitten verlegte.
    "Mein Herr," sagte er, "Sie sind sicher Christ und unsere Religion verbietet den Mord."
    "Rascher, rascher!" brüllte der Riese, und mit nerviger Faust den Rest der Sandsäcke packend, schüttete er ihren Inhalt auf die unter ihnen dahinstreichenden Wolken.
    Mr. Hall fiel auf die Kniee nieder. "Ah!" rief er verzweiflungsvoll aus, "wenn Ihnen auch nichts mehr an Ihrem Leben liegt, so schonen Sie wenigstens das meine. Haben Sie Mitleid! Ich bin jung, reich und glücklich! Ich habe noch eine Mutter und eine Schwester - in ihrem Namen flehe ich Sie an, nur Ihre Hand nach der Klappe auszustrecken, um ein wenig Gas aus den Ballon zu lassen, was uns Beide von einem fürchterlichen Tode retten wird.
    "Unsinn! wir kommen ja gar nicht weiter!" versetzte der Fremde, riß seinen Rock berunter und schleuderte ihn hinaus.
    "Jetzt ist's an Ihnen," rief er, und ehe sich der arme Hall nur widersetzen konnte, hatte er ihm auch den Rock vom Leibe gezogen und dem seinen nachgeworfen.
    Der Ballon, dessen rasenden Flug nichts hemmte, fuhr indessen fort, immer höher und höher zu steigen.
    "Ha, ha, ha!" lachte der Fremde, "während wir so hübsch im Begriffe sind, in den Himmel zu fahren, werde ich Euch ein Geschichtchen erzählen."
    Mr. Hall rührte sich nicht mehr; schon strömte ihm in Folge der außerordentlichen Dünne der Luft das Blut in Augen und Ohren.
    "Hört zu! Vor drei Jahren bewohnte ich Madrid; ich war Wittwer und lebte allein mit meiner Tochter, einem reizenden blauäugigen Engel mit prächtigen langen Haar.
    Eines Tages war ich früh von Hause weggegangen, und als ich Abends heimkam, fand ich mein Kind, meine theure Lucia, nicht mehr! Banditen waren während meiner Abwesenheit in mein Haus gedrungen und hatten mir mein Theuerstes geraubt.
    Seit dieser Zeit durchstreife ich rastlos ganz Europa, um mein Kind zu finden - aber Alles ist vergebens! - Im Norden von Irland jedoch, da könnte sie sein! Habt Ihr vielleicht ein Zündhölzchen bei Euch?"
    Der arme Hall schüttelte mit dem Kopfe.
    "Auch nicht! O, wenn ich nur eines hätte, ich würde den ganzen Ballon anzünden, und durch's Zusammenbrennen müßte er doch leichter werden. Als Ihr mich heute früh saht, war ich eben daran, die dummen Gesichter der Menge zu mustern, in der Hoffnung, das des verfluchten Räubers meines Kindes darunter zu entdecken - aber vergebens!"
    Daß sein Reisegefährte vollständig verrückt war, hatte der unglückliche Hall längst mit Entsetzen bemerkt. Da - o gütiger Himmel - schien ihm plötzlich ein rettender Gedanke zu kommen.
    "Wie ist Euer Name?" fragte er den Wahnsinnigen.
    "Luigi Toreno!"
    "Wie! Ihr wäret Luigi Toreno!"
    "Der bin ich!"
    "O, dann weiß ich, wo der Räuber Eures Kindes zu finden ist - wir sind gerade über dem Orte - öffnet die Klappe des Ventils, und in kurzer Zeit werdet Ihr Eure Lucia in die Arme schließen."
    "Nein, nein! Ihr täuscht mich, guter Freund! meine Lucia ist im Himmel, nicht auf Erden; verflossene Nacht erschien sie mir im Traume und sagte es mir. Deshalb muß ich immer höher und höher hinauf, denn nur dort kann ich sie finden. Kommt, helft mir dabei! laßt uns mit der ganzen Kraft unserer Lungen blasen; da wir doch unten sind, so muß dies den Ballon in die Höhe treiben. Also blast, Freund, blast!"
    Mr. Hall versuchte vergebens sich zu erheben.
    "Bei meiner Seele, wir kommen gar nicht vom Flecke," heulte der Riese. "Auf! steigt auf meine Schulter und schiebt am Ballon. Wir müssen hinauf!"
    Mit diesen Worten packte er den halbtodten Hall und hob ihn wie ein Kind über den Kopf.
    "Jetzt d'rauf los! Schiebt! schiebt!"
    Der Unglückliche suchte zu gehorchen, aber das von seinen Augen niederrieselnde Blut blendete ihn. Ein schreckliches Klingen und Summen erfüllte sein Ohr; Blitze schienen vor ihm zu zucken.
    "Nun?" schrie der Wahnsinnige, "will es nicht gehen?"
    In diesem Augenblick berührte Mr. Halls zitternde Hand zufällig den Strick des Sicherheitsventils. Mit Aufgebot seiner letzten Kraft zog er ihn an. Zischend strömt das Gas durch die geöffnete Klappe und rasch begann der Ballon auf die Wolken niederzusinken.
    "Ah!" rief Toreno, "anstatt den Ballon aufwärts zu schieben, wie ich Euch gebot, drückt Ihr ihn herab! Aufwärts! sagte ich Euch, aufwärts!"
    "Ihr seht ja, daß ich es aus Leibeskräften thue."
    "Nein! Nein! denn hier zeigt sich schon die Erde wieder!"
    "Das kommt daher," stöhnte der arme Hall, "daß die Wolken sich nach den oberen Regionen ziehen!"
    "Gut," rief der Verrückte, indem er Hall auf den Boden niederlegte, "das wollen wir auch! Und um den Ballon leichter zu machen, laßt uns Alles über Bord werfen!"
    "Wir haben ja nichts mehr!"
    "Nichts mehr?" fragte der Wahnsinnige, seinen Gefährten scharf anblickend. - "Wie viel wiegt Ihr?" Den unglücklichen Hall traf diese Frage wie ein betäubender Schlag.
    "O, sehr wenig! Nichts, das nur im Geringsten etwas ausmachen könnte - eine unbedeutene Kleinigkeit!"
    "Eine unbedeutene Kleinigkeit? - nun, auch die ist von Gewicht."
    Das Ungeheure der Gefahr gab unserem Aeronauten seine Geistesgegenwart wieder.
    "Mein Freund," sagte er, "Eure Tochter ist nicht todt - ich sah sie erst vorige Woche in der Nähe von Belfast. Sie lebt bei einer Familie, die sie liebt und wie ihr eigenes Kind behandelt. Im ganz kurzer Zeit werdet Ihr, wenn Ihr mir erlaubt, den Ballon fallen zu lassen, bei ihr sein."
    Der Wahnsinnige starrte ihn wild und ungläubig an.
    "Ja," fuhr Mr. Hall eifrig fort, um den Eindruck zu benutzen, den er auf ihn gemacht zu haben schien, "Ihr werdet sie wiederfinden, Eure Lucia, mit weitgeöffneten Armen wird sie Euch entgegeneilen, und lustig wird ihr goldenes Haar im Winde" ---
    "Ihr lügt, Ihr lügt! Lucia's Haar ist so schwarz wie Ebenholz. Ihr habt sie nie gesehen! Wie viel wiegt Ihr?"
    "Oh, beinahe nichts. Nur ein paar Pfund!"
    Der Wahnsinnige ergriff ihn mir beiden Händen und hob ihn über den Rand der Gondel, einen Augenblick später - und er würde ihn in die unermeßliche Tiefe geschleudert haben.
    "Toreno!" rief der Unglückliche, "Ihr wollt höher hinauf?"
    "Ja!"
    "Euer Wunsch ist, den Ballon leichter zu machen?"
    "Ja, ja"
    "Und wieviel wiegt Ihr selbst?"
    "Zweihundert Pfund!"
    "Gut, so stürzt Euch selbst hinab; und der dadurch ungeheuer erleichterte Ballon wird mit solch' unglaublicher Raschheit aufsteigen, daß er bald an den Himmel stoßen muß!"
    Der Wahnsinnige besann sich einige Augenblicke.
    "Das ist wahr," sagte er; "Ihr habt Recht!" und seine Hände ließen Hall los.
    "Mein Schöpfer!" rief ich dann, einen letzten wilden Blick um sich werfend, "Ich komme zu Dir. Bei Dir allein werde ich mein Kind, meine Lucia wiederfinden!" und mit einem verzweifelten Satze über Bord springend, verschwand er.
    * * *
    Der Ballon und sein Besitzer kamen glücklich unten an. Der Letztere jedoch lag viele Wochen lang im heftigsten Fieber da.
    Als er wieder zu sich kam, war sein Erstes, daß er Befehl gab, sein gefährliches Spielzeug um jeden Preis zu verkaufen; und jetzt, nachdem schon so manches Jahr darüber vergangen, ein treues Weib an seiner Seite, und ein Blühender Kreis Kinder um ihn stehen, denkt er noch oft mit Schaudern an seine letzte Luftfahrt.

  • Textvergleiche mit Vernes 'Drama in den Lüften' (Hartleben-Übersetzung von 1874):


    (...) an einem schönen Sommertage des Jahres 1853, vgl.: "Am Monat September des Jahres 185. (...)" Bei Verne resultiert das 50er-Jahre-datum freilich aus dem frühen Zeitschriften-Erstabdruck der Kurzgeschichte von 1851


    Aeronauten: In der Schreibweise "Aëronauten" im 'Drama'. Karl May benutzte den Begriff wie auch alle anderen hier verwandten Luftschiff-Begriffe (Ventil, Klappe, usw.) schon in 'Wanda'.


    Ein Freund aus London (...) hatte ihm versprochen, die Fahrt mitzumachen, schien aber die Courage verloren zu haben, denn - er kam nicht., vgl.: "(...) somit war der Augenblick zum Aufsteigen gekommen; meine Reisegefährten aber ließen sich nicht sehen. / Ich sandte nach der Wohnung eines Jeden und erfuhr, daß der Eine nach Wien, der Andere nach Hamburg und der Dritte nach London abgereist sei. Der Muth hatte sie also noch im letzten Augenblick verlassen, (...)" als ein großer, sehr kräftig gebauter Mann von feinem Aussehen, vgl.: "seine starken Züge deuteten auf unbezwingliche Energie, und seine Muskulatur war sehr ausgebildet."


    und höflichst grüßend, vgl.:: »Genehmigen Sie meinen höflichsten Gruß [Verne: Ein Drama in den Lüften]


    Reisegefährten: Von May bereits vorher bei der Ballonfahrt in 'Wanda' verwandt: "Es war der Reisegefährte des Professors." Findet sich ebenso bei Vernes 'Drama': "Als ich wieder aufgestanden war, sah ich einen Reisegefährten neben mir (...)"


    daß sein Anzug für die kalten Regionen (...) zu leicht sein dürfte., vgl.: "(...) wenn Sie friert, bin ich bereit, meine Kleider auszuziehen und sie Ihnen zu leihen."


    "Bah!" war die Antwort, vgl.: "Bah, denken wir jetzt noch nicht an die Rückkehr!" sowie " Bah! Das Unglück kommt auch ohne Vorbedeutungen!" und "Bah! wir gehen hoch darüber hinaus (...)"


    ! - Kleinschreibung hinter dem Ausrufezeichen findet sich auch bei der Verne-Übersetzung, so z.B. wiederum bei Bah!: "Bah! ich konnte die Reise nicht bezahlen (...)" und "Bah! wir wollen jetzt (...)"


    Sein Kopf hing schlaff über den Rand der Gondel, vgl.: "Er stand regungslos, ganz von dem Staunen hingerissen, das ihm diese schweigende Auffahrt abnöthigte; er lehnte an dem Gondelrand"


    Unter ihnen lagen die Wolken, über ihnen die brennende Sonne, vgl.: "Die Wolken entrollten sich unter unseren Augen in blendender Masse (...) »Wir müssen hinabsteigen! rief ich. - Hinabsteigen, wenn dort die Sonne auf uns wartet? Hinunter mit den Säcken!«


    und warf zugleich drei der mit Sand gefüllten Säcke, die als Ballast dienten, über Bord, vgl.: "Und ohne meine Zustimmung abzuwarten, entlastete er den Ballon um zwei Säcke, die er hinausschleuderte."


    und warf wieder einige der Säcke hinaus, vgl.: "Und bevor ich dazwischen treten konnte, hatte er zwei Sandsäcke ergriffen und sie über den Gondelrand hinaus geschleudert (...)"


    Klappe des Ventils: »Vier Monate nach der Entdeckung der Luftschiffe hat der geschickte Mann das Ventil erfunden, das dem Gase Abfluß schafft, wenn der Ballon zu stark gefüllt ist, oder wenn man sinken will - (...).« So schildert Verne in »Ein Drama in den Lüften« die Verdienste Charles'. [Max Popp: Julius Verne und sein Werk] In der zeitgenössischen Übersetzung von Martha Lion ist aber überhaupt nicht von einem Ventil die Rede, dort heißt es stattdessen: "Vier Monate nach Entdeckung der Aërostatik erfand dieser geschickte Mann die Klappe, durch die das Gas entweichen kann, wenn der Ballon zu voll ist, oder wenn man tiefer steigen will." Der Ausdruck Ventil geht also nicht auf die Verne-Übersetzung des 'Drama' zurück. In der Hartleben-Ausgabe von 'Fünf Wochen im Ballon' ist dieses Bezeichnug freilich zu lesen. Karl May das Wort benutzte das Wort bereits zuvor einige Male alternierend zur Klappe in 'Wanda', so z.B: "Das Ventil öffnete sich; mit einem leise pfeifenden Rauschen strömte das Gas heraus (...)"


    "Mein Herr," sagte er, vgl.: "mein Herr, sagte er mit der größten Ruhe. / »Stört mein Gewicht das Gleichgewicht Ihres Ballons, mein Herr?"


    das Blut in Augen und Ohren, vgl.: "(...) und wir schwebten in einer Höhe von mindestens 9000 Metern; das Blut drang mir aus Mund und Nase!"


    Blitze schienen vor ihm zu zucken: In Vernes 'Drama' sind die Blitze echt: "Um ihn her zuckten Blitze."


    schrie der Wahnsinnige, vgl.: »Was giebt es Herrlicheres, als sich zu den Märtyrern der Wissenschaft zählen zu dürfen!« rief der Wahnsinnige.


    Zischend strömt das Gas durch die geöffnete Klappe, vgl.: »Sie haben die Klappe geöffnet, mein Herr, trotzdem ich es Ihnen verboten hatte!«


    verschwand er, vgl.: "Der Rasende war in dem Raume verschwunden, während mein Ballon zu unermeßlichen Höhen emporgetragen wurde!"

  • Ich hänge es hier mal mit ran, da es ganz gut zum oben angesprochenen Thema passt.


    Es geht um Vernes Erzählung »Ein Drama in den Lüften« und die mehr oder weniger freien Nacherzählungen die hierzulande erschienen sind. Eine Fassung kann man ja weiter oben nachlesen. Es ist die aus der von Karl May herausgegebenen Zeitschrift »Schacht und Hütte«, die durchaus eigenständige Elemente enthält. Des Weiteren liegt mir noch eine weitere Fassung ohne Nennung eines Autorennamens vor, die noch etwas kürzer ist als die eben erwähnte Erzählung »Eine grausige Luftfahrt«. Unter dem Titel »Eine Luftfahrt mit einem Wahnsinnigen. Aus den Papieren eines Aeronauten« liegt sie mir in einem Sammelband mit Luftschifferzählungen, »Im Luftschiff. Erlebnisse und Abenteuer« vor. Dort hat der Wahnsinnige seinen Verstand dadurch verloren, da er von einer modernen Kriegsführung mit Hilfe einer schlagkräftigen Luftschiffflotte träumte und deshalb von seinen Kollegen verlacht wurde. Da niemand auf ihn hört, möchte er seinen genialen Plan an die Götter zurückgeben und dafür einen Märtyrertod für die Wissenschaft sterben.


    Nun meine Frage, kennt außerdem jemand noch weitere Varianten der Verne-Erzählung?