Die Kurzgeschichte Ein Drama in den Lüften von Jules Verne erscheint in deutscher Übersetzung wahrscheinlich erstmals in der Buchausgabe Eine Idee des Doctor Ox (Julius Verne's Schriften XX, A. Hartleben, Wien Pest Leipzig 1875, Übersetzung: Martha Lion), die im Februar 1875 ausgeliefert wird. Wahrscheinlich gleichfalls im Februar, genauer am 27. dieses Monats, beginnt in Nr. 26 des 'Beobachter an der Elbe' der Abdruck der Novelle Wanda von Karl May, in welcher eine Ballonfahrt ebenfalls eine zentrale Rolle spielt (der von Ralf Harder aufgestellten Theorie, daß der 2. Jahrgang des 'Beobachter' erst zu Jahresbeginn 1875 erschien und dann z.T. zweimal in der Woche erschien, vermag ich mich nicht anzuschließen). Der sächsische Autor wird später in einer seiner autobiographischen Streitschriften angeben, daß die 'Wanda'-Ezählung bereits aus den 60er Jahren stammt, wobei man freilich annehmen darf, daß lediglich der erste Teil dieser Geschichte ein derart frühes Entstehungdatum hat. Am 8. März übernimmt Karl May dann selber die Redaktion dieses Blattes, sodaß der allergrößte Teil der 'Wanda'-Novelle, die bis zur Nr. 44 Anfang Juli in Fortsetzungen erscheint, von ihm selber in seiner neuen Funkton als Redakteur redrigiert wird. Insofern könnte das zunächst von May eingereichte Manuskript kürzer gewesen sein, dafür spricht etwa auch eine Lücke im Abdruck in den Nr. 35-37, sodaß die Novelle in der entgültigen Form möglicherweise nicht schon im Februar vollständig abgeschlossen war. Und so ist dann auch das 'Luftfahrt'-Kapitel Ueber den Wolken erst nach dieser Lücke ab Nr. 39 (29. Mai) zu lesen, was dafür spricht, daß May dieses Kapitel erst relativ kurzfristig vor xdem abdruck verfaßt haben könnte.
Warum ist die Datierung aber so wichtig? Nun, der Vergleich zwischen Mays Ueber den Wolken und Vernes Drama in den Lüften zeigt einige inhaltliche Parallelen, die den Verdacht nahelegen, daß Karl May die Kurzgeschichte von Jules Verne gekannt haben dürfte und sich durch diese inspirieren ließ. Da Vernes Geschichte aber erst im Februar 1875 in deutscher Übersetzung erschien, hätte May diese logischerweise erst nach diesem Zeitpunkt lesen können, daß May aber schon 1874 die französischsprachige Buchausgabe gelesen haben könnte, ist dagegen wohl auszuschliessen. Dabei hat der sächsische Schriftsteller sich freilich nicht in einwandfrei nachweisbarer Weise 'wortwörtlich' bedient, sodaß eine endgültige Bewertung wohl nicht möglich ist.
Allerdings erschien über ein später in der Nr. 59 der gleichfalls von Karl May redaktionell betreuten Zeitschrift 'Schacht und Hütte' dann die anonyme Ultra-Kurzgeschichte Eine grausige Luftfahrt], die nun doch relativ eindeutig Vernes Drama in den Lüften plagiert und als deren Autor May keineswegs ausgeschlossen werden kann. Beide Texte seien hier einmal vorgestellt, das Wanda-Kapitel Ueber den Wolken nur in einigen wesentlichen Ausschnitten, der anonyme Kurztext hingegen vollständig.
1. Der Aufstieg
Ein Drama in den Lüften: Wir sollten um zwölf Uhr aufbrechen, und es gewährte einen prächtigen Anblick, wie die ungeduldige Menge sich an die Einfriedigungen, die um den Ballon gezogen waren, drängte, den ganzen Platz überschwemmte, sich in den umliegenden Straßen aufhielt und die Fenster sämmtlicher Häuser, die auf den Platz hinaus gingen, vom Erdgeschoß bis zum Dachboden besetzte. (...) Unter den Personen, die um die Barrière standen, bemerkte ich einen jungen Mann mit blassem Antlitz und aufgeregten Zügen (...).
Wie in der Hartleben-Übersetzung verwendet auch Karl May die Barriere, um die Zuschauer auf Abstand zu halten:: Der Platz, auf welchem der Ballon zum Füllen bereit lag, war von einer Barrière umgeben, und der Gehülfe des Aeronauten hatte alle Mühe, die Menschenmenge, welche sich schon am Vormittage hier versammelt hatte, in der nöthigen Entfernung zu halten.
Eine weitere Parallele findet sich auch in der unvollständigen Füllung der Ballone, zunächst Verne: Morgens hatte ich den Ballon gefüllt; natürlich nur zu drei Vierteln, da dies eine durchaus nothwendige Vorsichtsmaßregel ist. In dem Maße, wie man steigt, nimmt nämlich die Dichtigkeit der atmosphärischen Luftschichten ab, und so könnte das unter der Hülle des Luftschiffes eingeschlossene Fluidum die Wände des Ballons sprengen, wenn es an Elasticität gewinnt. Mit der entsprechenden Szene bei May beginnt die 'heiße' Phase des Aufstiegs.
Wanda, Ueber den Wolken: Die Auffüllung des Ballons war glücklich beendet. Zwar hatte er sich noch nicht bis zur größtmöglichsten Ausdehnung aufgebläht; aber er mußte diese Ausdehnung bei dem Eintritte in höhere und in Folge dessen auch leichtere Luftschichten erreichen und bot dann jedenfalles einen stolzen Anblick. Bei der zweiten Besichtigung war nichts Sicherheitswidriges bemerkt worden, und so konnte das Einsteigen der beiden Passagiere vor sich gehen.
Der Professor hatte die eingesammelten Gelder in Empfang genommen und dem Gehülfen einen kleinen Theil davon mit der Weisung, seine Rückkehr hier abzuwarten, eingehändigt. Jetzt hing er in den Seilen und prüfte die Luftströmung. Diese war eine durchaus günstige und versprach ein rasches Vorwärtskommen.
Jetzt stieg er nieder, trat an den Rand der Gondel und winkte zum Einsteigen. Wanda stieg, seine Hülfe abweisend, die kurze Strickleiter hinauf und nahm Platz ohne der Umgebung einen Blick der Aufmerksamkeit zu schenken. Langsam dagegen ging es bei Hagen.
(...)
Jetzt wurde der Anker gelöst und die festhaltenden Seile gelockert. Der Ballon stieg eine Strecke in die Höhe, wiegte sich majestätisch hin und her und zerrte an dem einen Taue, an welchem er, von Menschenhänden gehalten, noch hing. Nochmals prüfte der Professor die Luft, dann wandte er sich der Richtung zu, in welcher der Wagen der Baronin stand und gab mit der Hand ein zustimmendes Zeichen, welches von Säumen erwidert wurde. Darauf winkte er, das Seil loszulassen.
Für die Menge der Umstehenden hatte das gegebene Zeichen die sehr natürliche Bedeutung, daß er die anvertraute Braut und Tochter behüten werde. Anders aber war es bei Emil Winter.
Er traute Säumen das Schlimmste zu, hatte sein Mienenspiel beobachtet und bemerkt, mit welcher Spannung sein Auge auf Wanda geruht und dann befriedigt aufgeblitzt hatte, als sie eingestiegen war. Und als er den Zug diabolischer Freude bemerkte, den der Baron trotz aller Anstrengung nicht unterdrücken konnte, als der Professor das Zeichen gab, da leuchtete in ihm die Ueberzeugung auf, daß die Geliebte seiner Seele in einer schrecklichen Gefahr schwebe.
Er sah nur noch, daß sein Bruder unbeachtet von den Umstehenden, sich auf das Kofferbret setzte; dann sprang er mit einem Satze aus dem Wagen, brach sich mit fast übermenschlicher Kraft durch die Menge Bahn und langte gerade in dem Augenblicke bei den Haltenden an, als dieselben das Tau los ließen. Es war die höchste Zeit gewesen, und mit beiden Händen griff er zu.
Das Luftschiff stieg, als es nicht mehr an die Erde gebunden war, mit einem einzigen raschen Rucke mehrere hundert Fuß hoch empor, dann schwebte es scheinbar still an einem Punkte, wie um die Richtung zu suchen, die es einzuschlagen habe, und endlich bewegte es sich, von dem herrschenden Luftstrome begleitet, vorwärts.
Schon längst hatte die Musik begonnen; aber so stark das Orchester und so rauschend das Stück auch war, welches gegeben wurde, sie vermochte doch nicht den Schrei des Entsetzens zu übertönen, welchen die Menge ausstieß, als sie einen Menschen so hoch da droben an dem Seile hängen sah. Das Letztere war nicht mehr zu erkennen, und es schien, als schwebe der Mann frei in der Luft und werde jeden Augenblick herabstürzen.
2. Der Mann am Seil
Ein Drama in den Lüften: Der Ballon stieg langsam empor, aber ich verspürte eine so heftige Erschütterung, daß ich mich nicht halten konnte und auf den Boden der Gondel niederstürzte. / Als ich wieder aufgestanden war, sah ich einen Reisegefährten neben mir; es war der blasse junge Mann.
Der blinde Passagier an Bord eines Luftschiffes ist natürlich nicht so originell, daß nun jeder Autor diese Idee gleich bei Vernes 'Drama' entliehen haben muß. Verne selber hat dies - wie er in seinem Zeitungsbericht '24 Minuten im Ballon' erzählt - sogar bei seinem Ballonaufstieg erlebt: Aber wir hatten unsere Rechnung ohne den Sohn Eugène Godards gemacht, einen unerschrockenen kleinen Kerl von neun Jahren, der in den Korb hineinkletterte, sodaß es notwendig wurde, zwei der vier Ballastsäcke zu opfern. . Aber etwa auch Jack London hat so ein Ereignis in einer kurzen Ballongeschichte erzähltt. Karl May ist in seiner Schilderung sowieso völlig eigenständig gegenüber Verne, da dieser gar nicht genau schildert, wie der junge blasse Mann überhaupt in die Godel gelangen konnte, wie ein Springteufel steht dieser plötzlich im Korb. Emil Winter hingegen muß sich ersteinmal mühselig am Seil emporturnen.
Wanda, Ueber den Wolken: Indessen schwebte der Ballon ruhig weiter, ruhiger als seine Insassen waren. Wanda hatte sich nach unten gewendet, um die Gegend aus der Vogelperspective zu betrachten und dabei den an dem Seile Hängenden zuerst bemerkt.
»Um Gottes Willen, Herr Professor, es hat sich Jemand in dem Taue verwickelt und ist mit in die Höhe gezogen worden!« rief sie erschrocken.
Der Angeredete beugte sich über die Brüstung der Gondel hinaus, und auch Hagen schickte sich an, diese Bewegung zu machen, zog aber den Kopf sofort wieder zurück, weil er sich vom Schwindel erfaßt fühlte.
»Der Mensch ist verloren!« sagte der Luftschiffer nach einem beobachtenden Blicke in die Tiefe.
»Zwar scheint es, als ob er sich in die Höhe turnte; aber seine Kraft wird bald zu Ende gehen!«
»Wir müssen helfen, müssen ihn retten, müssen das Seil einziehen!«
»Das wird kaum statthaft sein, denn durch dieses Experiment müßte die Gondel sich auf die Seite neigen, und wir selbst kämen dabei in die größte Gefahr.«
»Daran dürfen wir nicht denken. Vorwärts zugegriffen!«
Der Professor erfaßte ihren Arm. Seine Passagiere sollten den festen Erdboden nicht lebendig wieder berühren; ein Dritter mußte ihm also unbequem sein. Es blieb sich ja ganz gleich, ob derselbe jetzt gleich oder mit den beiden Anderen den tödtlichen Sturz machen werde.
»Lassen Sie, Fräulein! Wir werden Nichts weiter erreichen, als daß das Seil in schwingende Bewegung geräth und den Unglücklichen abschleudert. Warten wir ab, wie weit seine Kräfte reichen!«
Sie mußte sich, wenigstens einigermaßen von diesem Grunde überzeugt, fügen und lehnte sich vornüber, um die Anstrengungen des Mannes zu beobachten.
Obgleich das wirbelnde Drehen des Taues seine Bemühungen bedeutend erschwerte, griff er sich doch Hand um Hand stetig und gleichmäßig vorwärts, als habe er auf dem Turnplatze eine Seilübung vorzunehmen. So kam er näher und immer näher, und als er jetzt das Angesicht nach Oben kehrte, um die noch zurückzulegende Entfernung abzumessen, erkannte sie ihn.
»Emil, mein Gott, es ist Winter! Wir müssen ihn retten, Professor, sonst ist er verloren.« Abermals machte sie Miene zuzugreifen, und die gräßlichste Angst prägte sich ihrem Angesichte auf. Aber mit einer gebieterischen Handbewegung hielt der Aeronaut sie zurück.
»Sie wissen, Fräulein, daß dem Capitäin eines Schiffes der unbedingteste Gehorsam zu leisten ist, und dieses Gebot findet auch hier bei uns seine strenge Anwendung. Ich bin es, auf dem alle Verantwortlichkeit ruht, und ich muß am Besten wissen, was zu thun ist.«
»Nun gut; dann muß ich gehorchen; aber ich werde Sie zur Rechenschaft ziehen!«
»Die ich sehr leicht ablegen kann. Wir können Nichts thun, wenn er nicht selbst sich rettet.«
Winter hatte sich jetzt das Seil um die Beine geschlungen und ruhte, in halb sitzender, halb hängender Stellung aus. Als er bemerkte, daß Wanda's Auge auf ihn gerichtet sei, ließ er mit der Rechten los, um einen grüßenden Wink zu geben, und das sorglose Lächeln, welches dabei in seinen Zügen lag, überzeugte sie, daß sie seiner Kraft vertrauen könne. Seine bald fortgesetzten Bewegungen waren so frisch, als ob er sie erst jetzt beginne, und in wenig Augenblicken befand er sich an der Gondel.
»Tretet auf die andere Seite, sonst geht das Gleichgewicht verloren!« rief er und befand sich einige Secunden später im Innern des Geflechtes.