Beiträge von exlibris


    Ich habe gestern abend "IMAGO - Die geheime Reise" ausgelesen. Zwei Tage Lesezeit für 400 Seiten ist nicht schlecht, glaube ich, und spricht ganz eindeutig für das Buch. Wer wirklich gute Kinder- und Jugendliteratur mag, wer sich von "Tintenherz" hat einfangen lassen und wer herausgefunden hat, "Wohin Du mich führst", wem Klaus Kordon ein Begriff ist und wer eine Ahnung hat, wo Nangijala liegt, der sollte an diesem Buch nicht vorbeigehen. Alltag und Phantasie, Lebensrealität neben Wünschen und Hoffnungen, Suchen und Finden, kurz, das ganze Konglomerat aus Nicht-mehr-Kind und Noch-nicht-erwachsen-sein schlingt sich in eine Geschichte voll höchster Spannung.
    Die Kinder dieser Geschichte sind starke Typen, wenn sie es ihnen auch nicht bewußt ist und wenn sie ganz gewöhnlich zu sein scheinen. Ungewöhnlich - oder vielleicht auch nicht? - sind ihre Lebensumstände im Alltag der diesseitigen Welt: fragmentierte Familien, Eltern und Elternteile, die sich selbst im Weg stehen, Mütter, die gefangen in ihrer Vergangenheit mit sich selbst kämpfen, Väter, die nicht wissen, was das eigentlich ist oder die es nicht gibt, Kinder voller Furcht und auch voller Haß. Und diese Kinder geraten in eine magische Welt, in der sie Persönlichkeiten begegnen, die ihrer Kraft und ihrer Intuition vertrauen, die an sie glauben und die sich brauchen. Sie erleben spannende Abenteuer. Sie erfahren die Kraft von Sympathie, Vertrauen und Liebe. Sie wachsen über sich selbst hinaus. Und sie zeigen den Erwachsenen, daß Kinder viel mehr wissen und können - aber auch brauchen und erwarten - als vom Alltag vereinnahmte Eltern sich eingestehen.
    Von daher ist dieses Buch nicht nur ein Jugendbuch. Es ist auch ein Erwachsenenbuch. Und am besten wäre es, wenn Eltern und Kinder sich dieses Buch gemeinsam Kapitel für Kapitel vorläsen. Es ist vor allem auch ein Vaterbuch. Väter sollten es unbedingt lesen, denn Väter können sehr viel daraus lernen. Und sie können stolz darauf sein, daß sie für Kinder so viel bedeuten, wie Isabel Abedi es ihre Protagonisten ausdrücken und sagen läßt. (Joachim Behnken)


    Isabel Abedi: Imago - Die geheime Reise.
    Gebunden | 403 S. | Arena 2004 | ISBN 3-401-05572-0 | 13.90 EUR


    Ein Dutzend gläubige Juden, sie sind dem mörderischen Grauen entflohen, von Wien nach London, dann, nachdem sie ausgebombt waren, aufs Land, später wieder nach London. Ihre Heimat ist die Sippe, der Glaube mit seinen strengen Ritualen und ihre Sprache; all das macht es ihnen schwer in der neuen Umgebung. Aber jeden Donnerstag schreibt Wolfys Mutter einen Brief an ihre alten Eltern in Tel Aviv, einen Brief, in dem steht, dass es ihnen allen gut geht. Wolfy schreibt einen Gruß an die Großeltern dazu. Als die Mutter stirbt, hinterlässt sie 20 vorgefertigte Briefe, und Onkel Mendl erklärt Wolfy "She do it für die Eltern, das se sich nich sorgen. Nu schreib zu."
    Und Wolfy schreibt und Zvi Jagendorf schreibt und erzählt vom Leben der "Flichtlinge", von ihren Nöten, ihrer Armut, ihren Versuchen sich einzuordnen, ihrem Erinnern; das Grauen ist immer gegenwärtig, sei es in der Legende von Ottos Lauf durch Wien oder im Geheimnis um Chaims wilde Narbe in der Brust -, von ihrer Mühsal mit der englischen Sprache, von ihrem Alltag.
    Er tut es mit begnadetem Gedächtnis, unaufgeregt, mit Humor und mit der leichten, genauen Hand des geborenen Erzählers. Ein Beispiel?
    Wolfy ist auf dem Land in seiner Schulklasse der einzige Judenjunge. Als der Bischof von Lichfield sie besucht und von Weihnachten erzählt und fragt, warum Maria das Jesuskind in eine Krippe gelegt habe, da meldet sich als einziger Wolfy: "weil sie ausgebombt waren.".
    Für diese Antwort lobt ihn der Bischof und schenkt ihm ein wunderschönes Krippenbildchen.
    Als Wolfy es seinem Vater erzählt, verbrennt dieser das Bildchen.


    Statt einer Wertung:
    Ich habe dieses Buch mitleidend und mitlachend in einem Zug gelesen bis zum letzten Satz über den heranwachsenden Wolfy, der sich nun Will nennt: "Er musste seinen Straßenatlas allein durchwandern und bei jedem Schritt mit der trotzigen Hoffnung ringen, am Ende vielleicht doch noch seinen Weg zurück nach Hause zu finden." (LEO)


    Zvi Jagendorf: Die fabelhaften Strudelbakers.
    Gebunden | Roman. | 221 S. | Aufbau-Verlag 2004 | ISBN 3-351-02997-7 | 18.90 EUR


    Nein, ein Biographie im herkömmlichen Sinne ist es nicht. Das schmale Bändchen, das es auf gerade 200 Seite bringt, ist auch keine Autobiographie, wie man sie von Golo Mann oder Carl Zuckmaier oder Peter Bamm kennt. Der Titel "Geschichte eines Lesens" scheint nach erstem flüchtigem Durchblättern des Buches unangebracht - Fragmente eines Lebens sind es eher, scheinbar zusammenhanglos aneinandergereiht. Und kaum anders hat der Autor sein Leben sehen können, sein zerrissenes, zerspaltenes, zerbrochenes Leben, das ihn selbst fragmentiert. Das Schreckliche, das namenlose Entsetzen seines Er-Lebens läßt nichts anderes zu.
    Ahron Appelfeld zeigt den 1932 im damals rumänischen Czernowitz geborenen Jungen Erwin, Sproß einer deutsch-jüdischen gutbürgerlichen Familie. Er zeichnet in wenigen präzisen Strichen die Kindheit des behüteten Einzelkindes, das in zwei Sphären zwischen seinem säkularen, sehr weltlich orientierten städtischen Elternhaus und den Sommerferien bei den gläubigen jüdischen Großeltern auf dem Land nach Orientierung sucht. Er schreit den ersten Bruch dieser kindlichen Welt heraus, als seine Mutter zu Beginn des II. Weltkrieges ermordet und er selbst mit seinem Vater in das Ghetto verbannt wird. Er schleppt sich an der Hand seines Vaters dens Todesweg durch den ukrainischen Schlamm entlang in ein Konzentrationslager, wo er von seinem Vater getrennt wird.
    Wie es ihm gelingt, von dort zu fliehen, erfahren wir nicht. Aber wir sehen das "Wolfskind", das die Kriegsjahre irgendwie überlebt und 1946 in Auffanglagern an der italienischen Küste strandet, von wo ihn ein Schiff nach Palästina bringt. Eine zutiefst verletzte und geschundene Kinderseele soll Sprache und Leben finden.Und allmählich, ganz allmählich, wächst aus dem Chaos von verdrängten Erinnerungen und den Einflüssen des Lebens im Israel seiner frühen Jahre die Persönlichkeit Ahron Appelfeld.
    Dieses Leben ist keine Linie. Es ist ein Gewirr von Dornen und Zacken. Zerrissenen Zetteln gleich fallen den Leser Einzelheiten an. Und doch entsteht aus diesen Bruchstücken ein Zusammenhang. Ein sehr besonderer, ein außergewöhnlicher Mensch malt das Bild seines Selbst, und überrascht sieht man im Fragment das Ganze.
    Wer Sprache liebt und die Fähigkeit, mit Worten Farben und Bilder entstehen zu lassen, sollte zu diesem Band greifen. (Joachim Behnken)


    Aharon Appelfeld: Geschichte eines Lebens.
    Gebunden| 208 S. | Rowohlt, Berlin 2005 | ISBN 3-87134-508-3 | 17.90 EUR


    Gesellschaftliche und damit machtpolitische Umbrüche sind noch stets im Gefolge von Perioden geistiger Revolutionen eingetreten. Sie bieten - wir kennen das aus der reichhaltigen Mittelalterliteratur - willkommenen Stoff für gewichtige historisierende Romane nach Art der "Säulen der Erde" oder der "Päpstin". Erstaunlich, daß sich erst jetzt ein Autor der Zeitenwende vom Mittelalter zur Neuzeit angenommen hat und tief in die Wirren der Reformationszeit am Anfang des 16. Jahrhunderts eingetaucht ist.
    Wir kennen Robert Schneider als den Autor von "Schlafes Bruder". Bereits hier hat er mit sicherem Blick geistige Ausnahmezustände mit Hilfe einer eigentlich banalen Geschichte in bestechender sprachliche Form zu erklären versucht. Die Geschichte des Jan van Leyden und der Wiedertäuferbewegung ist nun allerdings alles andere als banal. Zu nachhaltig hat sie das Geschehen der beginnenden Neuzeit beeinflußt. Wie Schneider, ausgehend von einem Schlüsselerlebnis seines Protagonisten im Kindesalter, die geistig-religiöse Entwicklung dieses gestörten und verstörten jungen Menschen zu einem religiösen und damit politischen Ärgernis im Heiligen Römischen Reich Deutschen Nation mit sicherem Strich nachzeichnet, gibt den Blick frei auf eine fremde Epoche. Wir modernen Menschen kennen daraus wohl Luther und andere Reformatoren, zu wenig aber wissen wir gemeinhin über das ideologische und pseudoreligiöseRankenwerk, welches die gewaltige geistige Umwälzung der Reformation auch hervorgebracht hat. Lautere Reformbestrebeungen und der religiöse Disput auf der Suche nach der einen Wahrheit stehen machtbesessenem Beharrungsvermögen und politischem Ränkespiel gegenüber, kalkulierte Nutzung religiösen Eiferertums und zynische Ausnutzung echter Religiosität mündet in fanatisches Sektierertum.
    In dieses Konglomerat stellt Schneider seinen Jan, den "König von Münster", und läßt ihn seinen Weg vom Suchenden zum Gescheiterten gehen. "Kristus" ist ein guter Roman, gut recherchiert und gut geschrieben. Für den an politischer wie Geistes- und Kulturgeschichte interessierten Leser bietet er eine Fülle von Anregungen. Wer eine Vorstellung davon entwickeln will, wie religiöser Fanatismus entstehen und welch schreckliche Auswirkungen solche Art der Geistesverwirrung nach sich ziehen kann, der greife zu diesem inhaltlich gewichtigen und dennoch nicht ausufernden, leicht lesbaren Roman.
    Das Vergnügen an der Lektüre könnte noch größer sein, wenn sie nicht zu oft unterbrochen würde durch heute nicht mehr geläufige Vokabeln, die man in den gängigen Lexika vergebens sucht. Die Anfügung eines Glossars ist dringend zu empfehlen. (Joachim Behnken)


    Robert Schneider: Kristus. Das unerhörte Leben des Jan Beukels
    Gebunden | Roman. | 607 S.| Aufbau-Verlag | ISBN 3-351-03013-4 | 24.90 EUR