Vorab ein kurzer Rückblick:
Vor gut einem halben Jahr fand die Boulevardpresse einen quotenträchtigen Aufhänger, der nicht nur im Printbereich gern bis zum albernen Exzess getrieben wurde:
Daniel Radcliffe, nein, Harry Potter wird nackt Theater spielen!
Ja wie kann er sich nur unterstehen, die ganzen Kinder, die ihn als Idol sehen, werden doch geradezu verschreckt dadurch. Unredliches Verhalten, pfui!
Natürlich kann man nachvollziehen, daß diese „nackte Tatsache“ für eine Menge Aufsehen sorgte und wem das anno 1973 uraufgeführte Stück „Equus“ (noch) geläufig ist, alternativ der Film oder natürlich die Vorlage von Peter Shaffer (u.a. Regie des Oscarprämierten „Amadeus“), der weiß, daß sich Radcliffe mit dieser Rolle so ziemlich das Schwierigste ausgesucht hat, was man in solch jungen Jahren an Rollen bekommen kann – und obschon sicherlich besagte Szene eine ungeheure Überwindung kosten mag, ist der „Rest“ der Rolle nicht minder schwierig.
Dazu später mehr. Wir waren erstmal bei der "lustigen" Maul-zerreiss-Phase der Klatschmedien.
Nachdem man die Stimmung dank mehr fragwürdiger, indes umso reißerischerer Schlagzeilen schon gut „angeheizt“ hatte, kam nach den Preview-Vorstellungen die Pressenacht – und getreu dem Tony Montana Motto „I'll bury those fuckin' cock-a-roaches“, hat Radcliffe den Pressehyänen gezeigt, wo der Hufkratzer hängt und sogar berüchtigte Revolverblätter wie „The Sun“, neben rennomierten Kritikern und unzähligen Theaterbesuchern, überschlugen sich seither mit Lobeshymnen seiner Darstellung.
Nun hatte ich am Wochenende (nicht viel) Zeit, mich von diesem Hype selbst zu überzeugen und wenn eines feststeht: Der junge Mann KANN schauspielen, und wie. Natürlich streunte irgendwo im Hinterkopf immer noch der „liebe kleine Harry“ rum, und obschon es eigentlich die gleiche darstellende Person ist, war das auf der Bühne nicht eine Millisekunde lang „Harry Potter“.
Nach dem großartig vorgetragenen, einleitenden Monolog von Richard Griffiths, kommt es nach Ankündigung kurz darauf zum ersten Treffen zwischen Patient und Psychiater. Alan, Racliffes Charakter, hat in einer Nacht sechs Pferden mit einem Hufkratzer die Augen ausgestochen. Gewiss kein gewöhnliches Hobby für einen 17jährigen und statt nicht über Los zu gehen und nicht 400 GBP einzuziehen, soll er nun zu Dr. Martin Dysart (Richard Griffiths) in einer Klinik „für besondere Fälle“ auf die Couch. Spätestens wenn Radcliffe auf die Bühne geschlurft kommt, ist jeglicher Gedanke an „Harry“ verschwunden, und es sollte die ganze Zeit über so bleiben: Wenn der Junge in drei Sachen verdammt gut geworden ist, dann sind es Mimik, Körpersprache und der Einsatz seiner Stimme – somit das gesamte Reppertoire, das auf der Bühne wortwörtlich überlebenswichtig ist.
Es folgt die erste Begegnung zwischen Patient und Psychiater, und obwohl eine gewisse Komik in dieser zu finden sein mag, mutet sie doch im Kontext sehr bizarr an: Dysart richtet einige einfache Fragen an Alan, die er gekonnt mit bloßem Schweigen „beantwortet“ - Erinnerungen an das berüchtigte „Interview“ zwischen Aktuelle Sportstudio-Moderator Rainer Günzler und Wilhelm von Homburg wurden wach. Bis dahin „einfache“ Taktik. Als Dysart „weiterbohrt“, bekommt er und mit ihm die Zuschauer eine Reihe äußert aggressiv vorgetragener Werbesongs als „Antwort“. Allein diese erste Begegnung war bereits brilliant von beiden gespielt, wobei Griffiths für einige seltsamerweise nicht deplatziert wirkende Lacher verantwortlich war.
Im weiteren Verlauf bringt Dysart seinen jungen Patienten natürlich trotzdem zum Reden, wenngleich die Distanz zwischen beiden immer noch spürbar ist – und auch in diesem Punkt leistet Radcliffe exzellente Arbeit: Sein Charakter ist vollkommen „zerrissen“, er weiß nicht wem er vertrauen, wem er sich ANvertrauen soll, schlimmer noch: Er liegt im Streit mit sich selbst, oder sagen wir es anders: Mit einem Teil von sich und gerade die darauf basierende Szene, die ihn nächtens von Albträumen gepeinigt zeigt, geht einem schon ziemlich nahe.
Somit weiß er natürlich nicht, wie er sich wem gegenüber verhalten soll. Der Schwester brüllt er gern mal ein freundliches „Fuck Off!“ entgegen und nur zu Dysart scheint er langsam Vertrauen zu fassen. Wobei die Betonung auf langsam liegt, denn auch dieser bekommt das eine oder andere „leicht anmaßende“ zu hören. Und gerade dieses Spiel der beiden, dieses vorsichtige „Abtasten“, wirkt absolut glaubwürdig, wobei Griffiths freundliche, offene Art perfekt mit Radcliffes mal schüchtern-zurückhaltender, mal aufbrausender, gar obszöner Art harmoniert. Erwähnenswert ist definitiv die Szene, in der Alan ausrastet, weil er sich von Dysarts Fragerei in die Ecke gedrängt fühlt. Nach dem erwähnten Totalausraster ('Tell me, tell me, tell me - on and on. It never stops. Answer this, answer that! Tell me! Tell me! Tell me!') entwickelt sich zwischen den beiden eine Art „Quid pro quo“ - bei dem nun Alan den Psychiater ganz gut in die Ecke drängt als er ihn mit dessen Seitensprüngen konfrontiert, worauf es an Dysart ist, die Beherrschung zu verlieren.
Und genau ab diesem Zeitpunkt setzen bei Dysart die ersten ernsten Bedenken ein, nicht seiner Patienten, seiner selbst wegen. Er beginnt langsam zu realisieren, wie trist sein Leben geworden ist – ein Prozess, der für den weiteren Verlauf des Stückes von immenser Wichtigkeit sein wird. Je näher er an das Geheimnis, was in den Ställen in jener Nacht wirklich passierte, als Alan die Pferde blendete, desto mehr wird Dysart bewußt, daß er nicht mehr als ein Geist ist, daß die Gesellschaft ihren Tribut von jedem Erwachsenen fordert in dem sie ihre Mitglieder unter dier Herrschaft des einzig wahren Gottes stellt: Der Normalität. Die Normalität, die Menschen dazu verdammt, mit ausdrucklosen Gesichtern ihr Dasein zu fristen, Normalität, die Leidenschaft engste Grenzen setzt, Normalität, die jenseits ihrer engen Grenzen Menschen ausstößt, kurz: Normalität, die Leidenschaft zu töten im Stande ist: „The Normal is the good smile in a child's eyes. It's also the dead stare in a million adults. Both sustains and kills... like a god. It is the ordinary made beautiful. It is also the average made lethal. The Normal is the indispensable murderous God of health. And I am his priest.“ Dysart sieht sich bildlich sogar als Hohepriester dieser Gottheit, der Kinder aufschlitzt und ihnen die Eingeweide herausreißt. Kurz: Der Mann beginnt an sich und seiner Arbeit als Psychiater zu zweifeln, bzw. an dem Sinn, an seinem Werteverständnis...
Seit ich Equus zum ersten Mal vor etwas über einem Jahrzehnt gelesen habe, fand ich gerade diesen Aspekt herausragend: Shaffer haut der Gesellschaft unverholen Kritik um die Ohren, Ohren indes, die scheinbar taub sind, denn das Stück ist nach wie vor zeitgemäß. Und seit ich „Fight Club“ kenne, ist Equus für mich immer eine Art Prequel zu Fight Club gewesen, da sowohl Shaffer, als auch Chuck Palinhuk sehr ähnliche Punkte kritisieren und in der Wahl ihrer Mittel alles andere als zimperlich zu Werke gehen. Hätte Alan also nicht Dr. Dysart getroffen, hätte er unter Garantie einige Zeit später einen gewissen Tyler Durden kennengelernt...
Um nun jedoch nochmal zu den Ähnlichkeiten beider Werke zurückzukommen, insbesondere Dysarts Monologe über Normalität und sein eigenes ereignisloses Leben: Hier passt die „Anklage“ Tyler Durdens in „Fight Club“ nun wirklich 1:1:
„Advertising has us chasing cars and clothes, working jobs we hate so we can buy shit we don't need. We're the middle children of history. No purpose or place. We have no Great War. No Great Depression. Our Great War's a spiritual war... our Great Depression is our lives.“
Das Fatale der Beziehung zwischen den beiden ist: Je näher Dysart an das schreckliche Geheimnis jener Nacht gelangt, in der Alan die Tat beging, desto mehr versinkt er selbst in Zweifeln an der Richtigkeit seines Handelns und während er versucht seinem jungen Patienten zu helfen -worüber er ebenfalls in Zweifel gerät, ob es überhaupt richtig ist-, versinkt er in einer Dunkelheit, aus der er sich selbst nicht befreien können wird. Und selbst die Heilung Alans wird nicht gerade als positives Ereignis dargestellt; „My desire might be to make of this boy an ardent husband, a caring citizen, a worshipper of abstract and unifying God. My achievement, however, is more likely to make him a ghost. (...) Passion, you see, can be destroyed by a doctor. It cannot be created.“ Und somit schließt sich für Dysart der Teufelskreis: Sein Privatleben ist mehr als trostlos, er stellt seine gesamte Arbeit und seine Werte in Frage und er ist sich nicht sicher ob er mit der Heilung Alans überhaupt das Richtige tut. Wie Alan zuvor, hat er sich somit seine eigene Hölle erschaffen, aus der er selbst keinen Ausweg zu finden vermag.
Letzteres wird ihm allerdings erst bewußt, nachdem er Alan dazu gebracht hat, die Erlebnisse jener verhängnisvollen Nacht nochmal zu durchleben.
Und damit wären wir dann bei der wohl berüchtigsten Szene des Stücks, die Anfang des Jahres, wie oben erwähnt, der Boulevardpresse gute Quoten beschert haben dürfte.
Daß diese Szene allerdings essentiell für die gesamte Handlung, ja sogar das Schlüsselelement ist, das war damals weniger von Interesse. Jill (Joanna Christie) ist eine junge Dame, die für den Stallbesitzer Dalton arbeitet und Alan einen Wochenendjob dort verschafft hat. Gleichzeitig hat sie sich allerdings auch in ihn verguckt und nachdem das erste Date der beiden, mit ihrer brillianten Idee eines Pornokinobesuchs, äußerst peinlich für sie, Alan und dessen Vater endet, bringt sie Alan dazu, ihr in die Ställe zu folgen. Was dort passiert, ist eigentlich ganz normal, sie mag ihn, er mag sie, aber das Problem ist halt auch da: Die Pferde! Alan hat sich seit seiner Kindheit einen eigenen, sehr grausamen Gott erdacht, den er in jedem Pferd sieht und er hat sich derart dort hinein gesteigert, daß er nicht einmal vor Selbstgeißelung zurückschreckt. Und natürlich muss der Versuch, hier vor den Augen seines Gottes selbigem „untreu“ zu werden -der innigste Wunsch Alans bisher war immer gewesen, eins zu werden mit „seinem“ Gott- in einer Katastrophe enden. Was dann auch passiert, denn Alan kann „es“ nicht tun („I couldn't see her. (...) Only him! (...) Every time I kissed her, he was in the way. (...) When I touched her, I felt him.“ - „And he? What does he say?“ - „"Mine. You're mine. I am yours, and you are mine. I see you. I see you always. Everywhere. Forever. Kiss anyone, and I will see. Lie with anyone, and I will see. "And you will fail, Alan. Forever and ever you will fail. You will see me, and you will fail. The Lord thy God is a jealous God.") und das ist der Moment, in dem es es passiert. In einem letzten verzweifelten Versuch sich von dieser von ihm selbst erschaffenen Monstrosität zu befreien, nimmt er den Pferden das Augenlicht, bricht danach jedoch zusammen.
Diese Szene ist verstörend, brilliant, großartig, ergreifend und bewegend gleichermaßen. Hatte Radcliffe während des Stückes bereits einige schwierige Szenen schon beinahe beängstigend überzeugend gespielt, sei es der wiederkehrende Alptraum, die Selbstgeißelung oder die regelmäßigen nächtlichen Ausritte, die für Alan zu einem religiösen wie sexuellen Höhepunkt werden, ist es gerade diese Szene, in der man die gesamte Verzweiflung dieses Charakters begreift, gespielt mit einer wunderbar punktgenauen Dasrstellung, die einen absolut fesselt und ergreift. Wer von Alans Zusammenbruch nicht berührt ist, kann sich jedenfalls getrost „Emotionaler Eisklotz“ auf die Stirn tätowieren lassen! Besser geht es einfach nicht.
War Equus nun die richtige Wahl, um zu zeigen, daß man eben nicht nur „Harry Potter“ ist? Definitiv. Radcliffes Alan ist soweit entfernt von Harry Potter wie Abraham van Helsing von Dr. Hannibal Lecter. Mit dieser Rolle hat er überragend bewiesen, daß er Mimik, Körpersprache und Stimme gezielt einzusetzen vermag, eine schlicht gänzlich überzeugende Darstellung extremer Charaktere beherrscht und dies alles ohne Overacting schafft, was ihm zurecht stehende Ovationen einbrachte.
Ich denke, ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, daß wir hier das Debüt eines wirklich großartigen Schauspielers miterlebten – abseits von Harry Potter.
Besonderes Lob verdienen allerdings auch Richard Griffiths (u.a. bekannt als „Onkel Vernon“ in den Harry Potter Filmen), Will Kemp (u.a. in „Mindhunters“), Jenny Agutter und Joanna Christie, die allesamt einen nicht minder brillianten Job ablegten.
Bleibt für mich als Fazit eines der faszinierendsten, bewegendsten, ergreifendsten, emotional aufwühlendsten Erlebnisse überhaupt – brillaint inszeniert von Thea Sharrock und ebenso brilliant gespielt von einem erstklassigen Ensemble.
Von 5 Sternen vergebe ich 7.
Post Scriptum:
Bleibt zu hoffen, daß die kommenden Regisseure der Potter-Filme Radcliffe nicht einschränken, sondern das Potential nutzen. Wer nämlich jetzt noch behauptet, er könne nicht schauspielen, der hält auch Al Pacino und Konsorten für B-Darsteller in C-Filmen.
Zu den Fotos:
Leider war es nicht gestattet, Fotos der Bühne zu machen. Fotos von der Aufführung an sich hab ich mir, wie eigentlich jeder respektvolle Mensch, verkniffen.