
Michel Verne
Der Eilzug der Zukunft.
Von Jules Verne in der W. Allg. Ztg.
„Aufgepaßt,“ schrie mein Führer, „es kommt eine Stufe!“ Ich stieg glücklich über dieselbe hinweg und gelangte in einen großen, von blendenden elektrischen Lichtern erleuchteten Saal, in welchem unsere Schritte allein die schweigsame Einsamkeit störten. Wo befand ich mich? Was hatte mich hergeführt? Wer war mein geheimnißvoller Führer? Fragen, die ohne Antwort blieben. Ein langer Marsch durch die Nacht, eiserne Pforten, die sich lärmend öffneten und schlossen, endlose Treppen, welche bis in’s Innere der Erde zu dringen schienen, dies waren meine einzigen Erinnerungen.
Im Übrigen blieb mir keine Zeit zum Nachdenken. „Sie wollen ohne Zweifel wissen, wer ich bin,“ frug mein Führer. „Oberst Pierce, Ihnen zu dienen. Wo Sie sich befinden? In Boston, in Amerika, in einem Bahnhofe.“
„In einem Bahnhofe?“
„Ja, der Bahnhof von Boston nach Liverpool der pneumatischen Röhren-Compagnie.“
Mit einer erklärenden Geberde zeigte mir der Oberst zwei lange Eisencylinder mit einem Durchmesser zu einem Meter fünfzig Centimetern, die einige Schritte von uns entfernt auf der Erde lagen.
Ich betrachtete diese beiden Cylinder, die in ein massives Gebäude zur Rechten endigten und zur Linken kolossale metallische Glocken hatten, vor welchen ein Bündel von Röhren sich gegen den Plafond erhob, und jetzt hatte ich Alles verstanden.
Hatte ich doch kurz vorher in einer amerikanischen Zeitung einen Artikel über diese außerordentlichen Pläne gelesen. Es galt, Europa mit Amerika durch zwei riesenhafte unterirdische Röhren zu verbinden. Ein Erfinder erklärte, er sei im Stande, dies auszuführen; der geniale Mann, der Oberst Pierce, er befand sich jetzt mir zur Seite.
In Gedanken überflog ich den Inhalt des Zeitungsartikels.
Der Berichterstatter erging sich in gefälliger Weise in die Details der Unternehmung.
Man brauchte hiezu sechzehnhunderttausend Meter Eisenröhren im Gewichte von dreizehnhundert Tonnen. Zum Transport dieses Materials gehörten zweihundert Schiffe zu zweitausend Tonnen, deren jedes dreiunddreißigmal die Reise zurückzulegen hätte.
Diese Armada der Wissenschaft brachte den Draht den zwei Hauptschiffen, auf deren Verdeck die Enden der Röhren zurückgehalten waren.
Diese Röhren schlossen sich unter dem Wasser einander an, jede von ihnen hatte eine Länge von drei Metern, jede von ihnen war in ein dreifaches Eisennetz gefaßt, über welches man noch eine harzige Hülle breitete. Auf die Frage des Betriebes übergehend, füllte der Beschreiber die Röhren, die nun zwei unermeßliche Sprachrohre bildeten, mit einer Anzahl Waggons, und diese wurden mit den Reisenden durch den kolossalen Luftdruck in der Weise befördert, wie dies mit den Briefen und Depeschen im Innern der Städte geschieht. Ein Vergleich mit den bestehenden Eisenbahnen beendete den Aufsatz. Voll Begeisterung zählte der Verfasser die Vorzüge dieses neuen und kühnen Systems auf. Für die Reisenden im Innern der Röhren gab’s kein aufregendes Hin- und Herschwanken, dank der inneren Bekleidung von polirtem Stahl. Die Temperatur blieb stets die gleiche, man konnte je nach der Jahreszeit den Luftgrad nach Behagen wählen. Ferner unglaubliche Wohlfeilheit der Fahrt, gegründet auf die geringen Kosten der Herstellung und des Betriebes.
Völlig vergessend die sechzehnhundertsechsundsechzig Kilometer, welche die Rundung sie in jeder Stunde durchlaufen läßt; vergessend, daß die, nächst dem Äquator befindlichen Körper nach dem Gesetze der Schwere unterliegen; vergessend, daß sie der siebzehnfachen Schnelligkeit bedürften, um sich diesem zu entziehen — behauptete er dennoch, daß die Trains in Folge ihrer Geschwindigkeit und der Biegungen der Erdkugel geschickt auszuweichen im Stande sein werden, und daß man nichts bemerken werde, als eine leichte Berührung an der Oberfläche der Röhren. Daraus schloß er, daß man für immer vor der Abnützung des hergestellten Werkes geschützt, daß dieses ein Bau für die Ewigkeit sei. Der ganze Inhalt des Artikels erschien mir jetzt klar.
Diese Utopie war zur Wirklichkeit geworden, die beiden Eisencylinder, deren Ursprung zu meinen Füßen sichtbar, durchstreiften das atlantische Weltmeer, um sich an den Küsten Englands festzusetzen. Der Augenschein war nicht im Stande, mich zu überzeugen. Daß die Röhren gelegt werden, schien möglich, aber daß die Menschen wirklich auf diese Art reisen, nein, das glaubte ich nicht.
Unbekümmert äußerte ich laut meine Meinung.
„Es ist unmöglich, einen Luftdruck für eine so lange Strecke zu gewinnen.“
„Im Gegentheil,“ erwiderte Oberst Pierce, „es ist sehr leicht. Man bedarf hiezu blos einer großen Anzahl von Dampfblasbälgen, gleich jenen, welche die Hochöfen treiben. Diese peitschen die Luft mit einer grenzenlosen Stärke, eine schreckliche Strömung ergibt sich, eine Geschwindigkeit von achtzehnhundert Kilometern per Stunde, dieselbe Schnelligkeit, die eine Kanonenkugel besitzt, und unsere Waggons mit den Reisenden legen in zwei Stunden vierzig Minuten die viertausend Kilometer zurück, die Boston von Liverpool trennen.“
„Achtzehnhundert Kilometer in Einer Stunde!“ rief ich.
„Genau so viel. Jetzt aber erwägen Sie die außergewöhnlichen Consequenzen einer solchen Geschwindigkeit. Die Zeitrechnung in Liverpool ist der unserigen um zwei Stunden vierzig Minuten voraus. Ein Reisender, der um 9 Uhr Morgens von Boston wegfährt, langt um 3 Uhr 54 Minuten Abends in England an. Ist das nicht ein schnell vollendetes Tagewerk? Ferner erwägen Sie, daß unsere Waggons in diesem Breitegrade mehr als um neunhundert Kilometer per Stunde der Sonne vorausgehen und der Reisende erringt einen großen Sieg über das Gestirn, wenn er beispielsweise Mittags Liverpool verläßt und um 9 Uhr 34 Minuten desselben Tages im Bahnhofe zu Boston anlangt, das ist also um zweieinhalb Stunden früher, ehe er fortgefahren. Das ist doch eine höllische Idee. Man kann unmöglich schneller reisen, als wenn man so lange vor der Abfahrt das Ziel erreicht.“
Ich wußte nicht, was ich denken sollte. Befand ich mich einem Narren gegenüber, durfte ich diesen fabelhaften Theorien Glauben schenken, während sich die Einwendungen dagegen in meinem Geiste aufthürmten!
„Gut,“ sagte ich, „ich gebe Ihnen zu, daß sich Reisende für diesen wahnsinnigen Weg finden, daß Sie eine solche unglaubliche Geschwindigkeit erzielen, allein wie stellen Sie sich bei dieser das Anhalten vor? Am Ziele muß dann Alles zerschmettert werden.“
Der Oberst zuckte die Achseln.
„Keineswegs; unsere Röhren, von welchen die eine für die Hinfahrt, die zweite für die Rückkehr dient, und welche somit von entgegengesetzten Luftströmungen bedient werden, stehen miteinander durch eine Verbindung am Ufer jeder Küste im Einklange. Sobald ein Zug anlangt, verkündigt dies der elektrische Funke, er fliegt nach England und lähmt sofort die treibende Kraft. Sich selbst überlassen, würde er, ausgerüstet mit dieser Geschwindigkeit, seine Fahrt fortsetzen, allein es genügt uns, eine Klappe in Bewegung zu setzen, um daß sich die entgegengesetzte Röhre dem Zuge in den Weg legt, ihn langsam zurückhält und schließlich durch einen Druck jeden Zusammenstoß verhindert. Im Übrigen, wozu dienen all diese Erklärungen? Der Versuch ist hundertfach besser.“
Ohne meine Antwort abzuwarten, packte Oberst Pierce schnell einen Knopf, dessen Kupfer an einer der Röhren glänzte. Ein Fach glitt durch die Fugen und durch die Öffnung sah ich eine unermeßliche Reihe von Bänken, auf deren jeder bequem zwei Personen Platz gefunden hätten. Der Oberst rief:
„Das ist der Waggon; schnell, steigen Sie ein!“
Ich ließ mich willenlos führen, das Fach schloß sich hinter uns.
Am Plafond hing eine Edison-Lampe; bei ihrem Scheine prüfte ich neugierig die Gegend, in der ich mich befand.
Es kann nichts Einfacheres geben. Ein langer Cylinder, aus an einander gefügten Röhren elegant ausgeführt, in dessen Innerem fünfzig Fauteuils paarweise in fünfundzwanzig Reihen aufgestellt sind. An jedem Ende eine Klappe, nach dem Luftdruck regulirt; jene im Hintergrunde ließ die zum Athmen taugliche Luft hereinströmen, die im Vordergrunde befindliche bot ihr einen Ausgang.
Die wenigen Augenblicke, die mich diese Prüfung kostete, machten mich ungeduldig.
„Wann werden wir endlich fortreisen?“ frug ich.
Der Oberst lachte.
„Wir reisen ja schon.“
„Ist das möglich? Ohne Erschütterung?“
Aufmerksam horchte ich. Ich wollte irgend ein Geräusch vernehmen, das mich belehren sollte. Wenn wir wirklich schon fortgereist, wenn mich der Oberst nicht betrogen, als er mir von den achtzehnhundert Kilometern per Stunde gesprochen, so mußten wir schon ferne von jedem Lande, tief unter dem Wasser stecken. Über unseren Häuptern schlugen dann die Wellen aneinander, ja, vielleicht geschah es in diesem Augenblicke, daß die Walfische unser eisernes Gefängniß für eine riesige Seeschlange hielten und sie mit ihren mächtigen Schweifen zu bekämpfen suchten.
Ich lauschte, doch ich hörte nichts als ein dumpfes Rollen, welches zweifellos die an unseren Waggon anschlagenden Strandsteine hervorbrachten.
In maßloses Erstaunen versetzt, unfähig an die Wirklichkeit all desjenigen, das mir begegnet, zu glauben, ließ ich schweigsam die Zeit vorüberstreifen.
Eine Stunde war vergangen, als plötzlich ein Gefühl von Kälte im Gesichte mich der Betäubung, in die ich verfallen, entriß. Ich griff mit der Hand nach meinem Gesichte und zog sie durchnäßt zurück.
Durchnäßt? Auf welche Weise?
Ja, ja, unter dem Drucke des Wassers war die Röhre gesprungen, der ungeheure Wasserdruck gesteigert durch eine Atmosphäre von zehn Metern Tiefe. Der Ocean wird eindringen und — — — —
Die Todesangst ergriff mich, verzweiflungsvoll wollte ich um Hilfe rufen, schreien — — — —
Ach, ich befand mich in meinem Gärtchen, ein Platzregen war gefallen, die großen Tropfen hatten meinen Schlaf unterbrochen.
Ich war ganz einfach bei der Lecture des Artikels eingeschlafen, welchen ein amerikanischer Berichterstatter den phantastischen Plänen des Obersten Pierce gewidmet.
Ach, ich fürchte, daß gleich mir auch der Oberst nur geträumt habe! — — —
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