Killeralgen
An den europäischen Küsten, aber auch an zahlreichen anderen Orten der Welt sind die Gesundheitsbehörden immer wieder gezwungen, die Bevölkerung zu warnen: keine Muscheln sammeln, nicht baden und keine Meerestiere verzehren! Wer diesem Verbot zuwiderhandelt, läuft Gefahr, sich Lähmungen, Durchfall oder neurologische Leiden zuzuziehen - oder sogar zu sterben. Verantwortlich dafür ist das massive Vorkommen von Phytoplankton-Mikrofloren, die von den Wissenschaftlern unter dem Gattungsbegriff HAB (Harmful Algal Bloom) zusammengefasst werden. Die Existenz derartiger Algen ist zwar schon seit langem bekannt, die Häufigkeit ihres Auftretens und ihre Menge jedoch haben in den letzten Jahre erheblich zugenommen. Eine oft vorgebrachte Erklärung ist das ökologische Ungleichgewicht, das durch menschliche Aktivitäten - insbesondere den übermäßigen Ausstoß stark nitrat- und phosphathaltiger Stoffe - verursacht wird. Im Rahmen des Projekts Nutox(1) haben sich schwedische, norwegische, deutsche, spanische und französische Wissenschaftler zusammengetan, um diese Vorgänge auf qualitativer und quantitativer Ebene zu analysieren.
Die Gründe für das üppige Wuchern
"Das Gleichgewicht von Phytoplanktonarten in Küstengewässern ist eng mit den Strömen mineralischer und organischer Stoffe verbunden, die von den Flussgewässern, dem abfließenden Küstengewässer und eventuell von saurem Regen transportiert werden", erklärt Serge Maestrini vom CREMA-L'Houmeau (gemeinsames Institut des CNRS, dem Centre National de la Recherche Scientifique, und des IFREMER, dem Institut Français de Recherche pour l'Exploitation de la Mer). Nun sind aber im Laufe der letzten Jahrzehnte große Mengen von Nitraten und phosphaten vielerlei Ursprungs - Landwirtschaft, Waschmittel usw. - in diese Gewässer geflossen. Ihre Eutrophierung macht sich durch die übermäßige Entwicklung einer der großen Planktonalgenarten - Diatomee oder Kieselalge - bemerkbar, die sich durch einen hohen Verbrauch von Silizium kennzeichnet. "Aus diesem Grund sind die Küstengewässer weniger mit Silizium angereichert. Darüber hinaus ist es zu einem relativen Anstieg des Stickstoff- und Phosporgehalts gekommen. Dies ist ein sehr günstiger Rahmen für die Entwicklung von Algen, die sich nicht viel aus Silizium machen. Es gibt vor allem drei Arten toxischer Algen - die Dinoflagellaten, die Prymnesiophyceen und die Zyanobakterien _, deren Wuchern überall auf der Welt, vor allem in den Küstengebieten Nord- und Südeuropas, große Probleme aufwirft."
Üppiges Wachstum toxischer Algen in einem norwegischen Fjord.
Sechs komplementäre Teams
Im Rahmen des Projekts haben Forscher aus Nordeuropa groß angelegte Versuche im norwegischen Meer durchgeführt, im Skagerrak und der Ostsee. Das Team um den verantwortlichen Projektkorrdinator von Nutox, Edna Granéli vom Naturwissenschaftlichen Institut von Kalmar (SE), hat vor allem die Möglichkeiten untersucht, die Produktion von Toxinen über die Nährstoffe zu steuern. Spezialisten der Abteilung für angewandte Kernphysik der Universität Lund (SE) haben mithilfe nuklearer Mikrosonden (PIXE bzw. Particules Induced X-rays Emissions) die chemische Zusammensetzung der Algen analysiert, während die Wissenschaftler der biologischen Station von Trondheim (NO) die Vergleiche zwischen toxischen Arten aus verschiedenen europäischen Regionen leiteten.
Die drei anderen Teams arbeiteten an den entnommenen Proben. Forscher des Instituts für Ernährung und Umwelt (Universität Jena) befassten sich mit dem toxikologischen Aspekt. Die französische Gruppe des Centre de Recherche en Ecologie Marine et Aquaculture (CREMA-L'Hourmeau) untersuchte insbesondere den Einfluss des Stickstoff- und Phosphorgehalts auf die Erzeugung von Giftstoffen. Ein spanisches Labor für Wasser-/ Umweltwissenschaften und -techniken (Santander) verglich anhand molekulargenetischer Methoden die Populationen einer gleichen Art je nach ihrer Herkunft (von Nord- bis Südeuropa). Dazu wurde die Art Alexandrium Tamarense gewählt, ein Dinoflagellat, der ein lähmendes Gift erzeugt (Paralytic Shellfish Poisoning bzw. PSP).
Die Feinde: Phosphor und Stickstoff
"Diese europäische Zusammenarbeit hatte unter anderem den Vorteil, dass sich Wissenschaftler aus vielen verschiedenen Fachbereichen mit einem gemeinsamen Thema befassten", meint Catherine Legrand, Mitarbeiterin von Edna Granéli. "Das Projekt hat Spezialisten für Meeres-Ökophysiologie und Meeresbiologie, Chemiker und Physiker zusammengebracht. So wurde beispielsweise erstmals die Kohlenstoff-, Stickstoff- und Phosphorzusammensetzung eines Dinoflagellaten (Dinophysis spp.) ermittelt, dessen Gift ein Diarrhösyndrom hervorruft (Diarrhoeic Shellfish Poisoning bzw. DSP). Dieses Ergebnis ist dem Einsatz nuklearer Mikrosonden zu verdanken."
Forschungsarbeiten haben gezeigt, dass die Produktion von Giftstoffen bei einem relativ ausgeglichenen Verhältnis zwischen Stickstoff- und Phosphorgehalt auf ein Minimum sinkt. Eine Ausnahme bilden bestimmte Algen, die Saxitoxin enthalten, ein stickstoffreiches Toxin mit lähmender Wirkung. Die Saxitoxinproduktion steigt, wenn die Phosphorzufuhr gedrosselt wird, während sie im umgekehrten Fall erheblich abnimmt.
"Man kann die Toxinproduktion sehr schnell stoppen, in ein oder zwei Tagen", erklärt Edna Granéli. "Man braucht dem Milieu lediglich die Elemente zuzuführen, die nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind. Das ist jedoch nur eine Notlösung, die nicht ganz ungefährlich ist. Es besteht die Gefahr, die Produktion von Biomasse zu beschleunigen. Auf lange Sicht gibt es nur eine einzige Lösung, und zwar die Reduzierung der Phosphor- und Stickstoffzufuhr."
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Mikroskopische Aufnahmen verschiedener Algen:
Alexandrium fundyense (Lähmungsgift erzeugender Dinoflagellat).
Chrysochromulina polylepsis (für Fische schädlicher Haptophyt).
Nodularia spumigena (Zyanobakterie).