Henry-Biabaud: "Wettbewerb ist die beste Forschung"

  • 24. August 2006 - 09:53 Uhr

    Michelin-Sportchef Frédéric Henry-Biabaud erklärt die Folgen des Ausstiegs aus der Formel 1 und kündigt eine Neuorientierung des Unternehmens an


    (F1Total.com) - Frage: "Herr Henry-Biabaud, wie würden Sie die laufende Formel-1-Saison bisher zusammenfassen?"
    Frédéric Henry-Biabaud: "Michelin und seine Partner haben acht der ersten 13 Grands Prix gewonnen. Natürlich bin ich damit sehr zufrieden. Unsere Erfolge in dieser Saison sind irgendwie lobenswerter als jene vom vergangenen Jahr, denn jetzt gibt es einen richtigen Wettbewerb zwischen den Reifenherstellern, was 2005 nicht der Fall war. Außerdem mussten wir rasch reagieren, um die Ende vergangenen Jahres beschlossenen Änderungen im Reifenreglement einzubeziehen - eine Entwicklung, mit der wir zuvor nicht rechnen konnten."


    "Darüber hinaus möchte ich betonen, dass Michelin freiwillig die verantwortungsbewusste Entscheidung getroffen hat, dass eine gleichmäßigere Verteilung der Partnerteams zwischen den beiden Reifenherstellern sichergestellt sein sollte. Uns ist bewusst, dass unsere Produkte unseren Partnern eine hohe Konkurrenzfähigkeit ermöglicht haben und ich bin sehr zufrieden mit der geleisteten Arbeit von allen in unseren verschiedenen Abteilungen in Clermont-Ferrand."

    Ende des Reifenkriegs in der Formel 1


    Frage: "Wie wichtig wäre ein zweiter WM-Titel en suite für Michelin?"
    Henry-Biabaud: "Michelins Ausstieg aus der Formel 1 wird das Ende des wahren Wettbewerbs zwischen Reifenherstellern auf diesem Niveau des Sports bedeuten. In dieser Saison musste jedes Team vier Schlüsselfaktoren in Betracht ziehen: Chassis, Motor, Fahrer und Reifen. Unter solchen Umständen wäre es immens befriedigend, im Wissen auszusteigen, einem Team zum WM-Titel verholfen zu haben. Das würde die Qualität von Michelins Produktpalette untermauern."


    Frage: "Warum sind die Reifen in dieser Saison so ein wichtiger Faktor?"
    Henry-Biabaud: "Die meisten Autos sind in ihrer Performance sehr ähnlich, daher können die Reifen einen signifikanten Unterschied machen. Manchmal kommen daher Theorien auf, die Formel 1 sei kaum noch mehr als ein Kampf zwischen Reifenherstellern - und vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb die 2008er-Regeln bestimmen, dass es nur noch einen Reifenhersteller geben darf. Das ist wirklich schade!"


    "Die Reifen sind die einzige direkte Verbindung zwischen dem Auto und der Strecke. Es stimmt, dass sie einen Unterschied in die eine oder andere Richtung machen können, manchmal im Bereich von ein paar Zehntelsekunden pro Runde. Michelin ist der führende Reifenhersteller weltweit - und wir begrüßen die Tatsache, dass unsere Produkte unseren Partnern einen Wettbewerbsvorteil verschaffen können. Ob wir nun vom Motorsport oder vom Alltagsgebrauch reden: Reifen sind keine Kleinigkeit. Sie sind Hightech-Produkte am Limit, die Performance und Sicherheit miteinander kombinieren."


    Frage: "Durch Michelins Ausstieg wird es schon 2007 nur noch einen Reifenhersteller geben. Könnte das die Intensität des Wettbewerbs verzerren?"
    Henry-Biabaud: "Es wird jedenfalls keinen Reifenkrieg mehr geben, also müssen sich die Leute andere Themen suchen! Im Ernst: Es wird weniger Wettbewerb im puristischen Sinn geben, weil ein Kernelement des Gesamtpakets, mit dem man sich bisher einen Vorteil verschaffen konnte, nicht mehr da sein wird. Man kann berechtigt in Frage stellen, warum ein Reifenhersteller unter solchen Umständen dabei bleiben sollte. Abgesehen von ein wenig Markenwerbung - wo liegt der Reiz?"

    Michelin will nie Erster und gleichzeitig Letzter sein


    "Edouard Michelin hat immer gesagt: 'In einer Arena, in der unsere Motorsportprodukte gleichzeitig Erster und Letzter werden, gibt es keinen Marketingwert für Michelin.' Für das Publikum ist das eine Frage der Glaubwürdigkeit und Transparenz. Vielleicht werden die Leute auch in Zukunft noch über die Reifen reden, dann aber nur noch, wenn es Probleme gibt - wenn die verfügbaren Mischungen nicht passen oder ein Team von Problemen mit der Qualitätskontrolle beeinträchtigt wird."


    Frage: "Die Technischen Direktoren von Renault, Pat Symonds, und Ferrari, Ross Brawn, sagen, dass ihre Autos sehr ähnlich sind und dass die Reifen in dieser Saison den Unterschied machen. Empfinden Sie das als Kompliment oder als Kritik?"
    Henry-Biabaud: "Solche Bemerkungen sind für Michelin und alle Reifenfirmen ein Kompliment. Es ist unsere Aufgabe, die bestmögliche Produktpalette zur Verfügung zu stellen."


    "Die Entwicklung neuer Mischungen und Konstruktionen - oder ein Amalgam der beiden Faktoren - kann umgerechnet ein paar zusätzlichen PS entsprechen. Solche Leistungssprünge kosten aber bedeutend weniger als eine neue Motorenausbaustufe. Diese Facette des Sports irritiert einige Leute und frustriert jene, die auf den falschen Mischungen sind - oder den falschen Partner haben. Heute haben die Teams die Möglichkeit, ihre Performance durch die Wahl von aggressiven oder eben weniger aggressiven Mischungen zu beeinflussen. Sobald die Formel 1 zu einem Reifenmonopol zurückkehrt, wird diese Möglichkeit verschwinden. Ich denke, dass darunter die Teams mit einem kleinen Budget leiden werden."


    Frage: "Im Moment kann jedes Team maßgeschneiderte Reifen aussuchen. Besteht die Gefahr, dass bei einem Einheitshersteller manche Teams dadurch benachteiligt sein könnten, weil alle auf die gleiche Marke setzen müssen?"
    Henry-Biabaud: "Das hängt von der Kontrolle ab, die die FIA einbringen wird. Seit 2001 wurden wir von zahlreichen Teams gebeten, ihnen Reifen zur Verfügung zu stellen - aus verschiedenen Gründen. Es ist kein Zufall, dass wir im Vorjahr 70 Prozent des Feldes ausgestattet haben. Die Teams sind zu uns gekommen, weil sie die Qualität der Michelin-Produkte schätzen und weil sie die Gleichbehandlung als wichtig erachten - dafür haben wir eine Reputation. Es gibt Kernwerte innerhalb der Michelin-Gruppe, die wir in jedem Motorsport anwenden, in dem wir uns beteiligen."

    Investment geht nun in andere Rennserien über


    Frage: "Was wird mit Michelins Formel-1-Gruppe geschehen? Soll es eine Überachungseinheit geben, um die Erfahrungen der vergangenen sechs Jahre nicht zu verlieren? So könnte man ja Ideen entwickeln..."
    Henry-Biabaud: "Das Investment, das für die Formel 1 vorgesehen war, werden wir auf andere Bereiche umlegen - auf die Motorräder, den Rallyesport, GT-Veranstaltungen und vor allem Langstreckenrennen, denn die werden immer mehr zu einem Schaufenster für Technologie. Das Ziel ist immer - ob nun bei Werks- oder Privatteams -, die Performance zu verbessern."


    "Als Michelin 2001 in die Formel 1 zurückgekehrt ist, riefen wir alle Erfahrungen und Daten aus anderen Motorsportserien zusammen, in denen wir engagiert und erfolgreich waren. Wir schöpften unsere talentiertesten Ingenieure aus und nutzten unsere besten Forschungseinrichtungen, um Mischungen, Konstruktionen, Profile und Materialien zu entwickeln. Es ist nur natürlich, dass wir am Jahresende das Gleiche in umgekehrter Richtung anstellen werden. Das wird uns dabei helfen, in anderen Disziplinen noch größere Fortschritte zu machen. Sechs erfolgreiche Jahre in der Formel 1 sind ein Katalysator für Erfolge."


    "Motorsport gehört seit mehr als 110 Jahren zur Firmenkultur von Michelin. Für uns ging es nie um das Marketing. Wir verstehen, dass die Entwicklungsarbeit, die wir im Motorsport durchführen - besonders auf globaler Ebene -, uns dabei hilft, unsere Produkte und Dienstleistungen in allen Bereichen zu verbessern. Wir haben einen Leitfaden: 'Wahrer Wettbewerb, wie ihn Michelin versteht, ist die beste Forschungseinrichtung.' Wir können das nicht oft genug wiederholen."


    Frage: "Was sind nun Ihre langfristigen Ziele im Motorsport?"
    Henry-Biabaud: "Motorsport ist ein Kernbereich der Strategie der Michelin-Gruppe, wenn es um technologische Entwicklungen geht. Das ist eine bedeutende Plattform für die Zukunft. Zusätzlich ist Motorsport ein Motivationsfaktor für das Personal. Motorsport kann für das Markenbewusstsein sehr hilfreich sein, auch für die Reputation des Unternehmens. Ziel des Wettbewerbs ist es, auf allen Fronten Fortschritte zu machen, so dass unsere Partnerhersteller, Verteilernetzwerke und Kunden von den Fortschritten profitieren können. Michelins Philosophie ist es, Reifen für morgen zu entwickeln und produzieren, so dass sie morgen noch besser sein werden als heute, was Sicherheit und Performance angeht. Das gilt für Straßenreifen genauso wie für den Wettbewerb."


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    Viel gesagt, aber wenig beantwortet :harahr: