40 000 Zugriffe in jeder Sekunde

  • 40 000 Zugriffe in jeder Sekunde
    Bei Wikipedia kann jeder zum Lexikonautor werden / Regeln gegen das Chaos
    Von unserem Mitarbeiter
    Joachim Göres


    HANNOVER. 1732 erschien der erste von insgesamt 64 Bänden des Zedlerschen Lexikons, die umfangreichste Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts. Verleger Johann Heinrich Zedler hatte die Öffentlichkeit aufgefordert, ihn mit Beiträgen für sein "Großes vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste" zu beliefern, und die Resonanz war groß. Fast 300 Jahre später arbeitet das Internet-Lexikon Wikipedia nach ganz ähnlichem Prinzip.Nach der Zedlerschen Reihe setzten sich dann Lexika wie der Brockhaus durch, in denen ein kleiner Kreis von Experten die wichtigsten Erkenntnisse für ihr Fachgebiet in möglichst kurzer Form auf den Punkt bringen. Seit 2001 gibt es nun mit Wikipedia eine ganz neue, eigentlich uralte Form der Enzyklopädie. "Wir arbeiten nach demselben Prinzip wie Zedler, jeder kann mitmachen, und es gibt keine Autorität, die über den Inhalt entscheidet. Im Diskussionsprozess der Aktiven werden die Beiträge ständig überprüft und verbessert", sagt Arne Klempert, Geschäftsführer des Vereins Wikimedia. Er sprach jetzt im Literarischen Salon Hannover über die weltweite Verbreitung von Wikipedia.Mehr als 200 Millionen Leser konsultieren mindestens einmal im Monat das Internet-Lexikon. Pro Sekunde gibt es 40 000 Dateizugriffe. Wikipedia gehört zu den zehn am häufigsten aufgerufenen Seiten im Internet. Auf der englischen Seite gibt es mehr als zwei Millionen Einträge, danach folgt der deutschsprachige Raum mit derzeit rund 660 000 Artikeln unter www.wikipedia.org. Jeder Interessent kann Wikipedia kostenlos nutzen und dabei auch Artikel verändern oder neue schreiben. "Rund 1000 angemeldete Benutzer sorgen dafür, dass das Chaos nicht um sich greift. Sie überprüfen die veränderten Versionen und streichen beispielsweise persönliche Urteile, PR-Artikel oder offensichtlichen Blödsinn aus dem Eintrag. Das passiert meistens innerhalb von Minuten", sagt Klempert. 250 sogenannte Administratoren können unliebsame Autoren auch sperren. Eine Garantie für die Richtigkeit der Informationen gibt es dennoch nicht. "Gerade für viele Schüler und Studenten ist Wikipedia zur Hauptnachschlagsquelle geworden. Wir betonen aber immer wieder, dass bei wichtigen Fragen eine zweite Quelle hinzugezogen werden soll. Wir sind nicht schuld, wenn es Schulen und Universitäten versäumen, die nötige Medienkompetenz zu vermitteln."Spannender als die eigentlichen Lexikoneinträge sind laut Klempert oft die Diskussionen dazu, die für jedes Stichwort ebenfalls eingesehen werden können. Dort prallen unterschiedliche Meinungen gerade bei weltanschaulichen Fragen aufeinander, während der Lexikoneintrag neutral formuliert ist.Auf diesen Grundsatz hat sich der Kreis der aktiven deutschsprachigen Autoren nach langen Diskussionen geeinigt. Sie haben auch Relevanzkriterien festgelegt, welche Dinge überhaupt einen Eintrag verdienen. So muss etwa ein Fußballverein mindestens einmal in der Oberliga gespielt haben, um mit einem eigenen Artikel gewürdigt zu werden. Dabei wird auch unter den 1000 eingefleischten Wikipedianern heftig gestritten. Mit "Ziegenpeter" ist laut Wikipedia-Eintrag sowohl die umgangssprachliche Bezeichnung für Mumps gemeint als auch eine in Deutschland verbreitete Übersetzung des Namens einer Romanfigur der Heidi-Kinderbücher - letzteres sei zu speziell und verdiene keinen eigenen Eintrag, meinte eine empörte Minderheit, die sich aber nach langem Streit nicht durchsetzen konnte. "Für Veränderungen ist immer eine deutliche Mehrheit nötig", sagt Klempert.Nach seinen Worten könnte es in Zukunft eine sogenannte stabile Version für jeden Eintrag geben - sie wäre auf offensichtliche Fehler hin überprüft. Der Leser könnte dann in jedem Einzelfall sich für diese oder eine aktuelle Fassung entscheiden, die neuere Erkenntnisse berücksichtigt, aber vielleicht auch nur durch Blödsinn wie "Mein Lehrer ist doof" ergänzt wurde. Zudem gibt es Überlegungen, für die ferne Zukunft die Einträge von ausgewiesenen Experten überprüfen zu lassen.Klempert ist in Deutschland der einzige bezahlte Mitarbeiter, weltweit gibt es nur elf Festangestellte. Das nötige Geld - im vergangenen Jahr wurden im deutschsprachigen Raum beispielsweise für Server 74 000 Euro investiert - wird alleine durch Spenden aufgebracht. "Mit Wikipedia müsste man doch eine Menge Geld verdienen können", meinte ein Zuhörer in Hannover. Klempert dazu: "Theoretisch könnte man Werbung auf die Seiten nehmen oder das ganze an einen Verlag verkaufen. Interessenten gibt es. Doch dann wäre die Idee tot. Wer schreibt kostenlos Beiträge, kümmert sich ehrenamtlich um die Qualität der Einträge und gestattet anderen, sie ohne Bezahlung zu nutzen, wenn es nur darum geht, dass ein paar Leute damit Geld machen?"


    Quelle: WeserKurier