Louis de Bernieres: Traum aus Stein und Federn


  • Was muß passieren, daß Menschen, die lange Jahre friedlich nebeneinander und miteinander gelebt haben, einander in grenzenlosem Haß die schrecklichsten Dinge antun?
    Der Leser erlebt den langsamen Untergang einer Epoche am Beispiel des Zerfalls des Osmanischen Reiches vor, während und nach dem I. Weltkrieg. Er erlebt den Zerfall einer Kultur, die von Achtung vor anderen Menschen und Meinungen und von gegenseitiger Toleranz geprägt war und in die durch Eingriffe von außen Wut, Haß und Rachsucht eindringen.
    In einer kleinen anatolischen Stadt am Rande des Osmanischen Reiches leben sie seit Jahrhunderten friedlich zusammen, sprechen türkisch und schreiben es mit griechischen Buchstaben. Sie sind Türken und Griechen, Armenier und Juden oder was sich sonst so finden mag im levantinischen Völkergemisch. Sie sind Muslime und Christen und mosaischen Glaubens. Aber sie fühlen sich allesamt als Osmanen und sind gute Untertanen des Sultan Padischah. Niemand käme auf die Idee, sich anders denn als Osmane zu fühlen, sich als Türke oder Grieche oder was auch immer zu bezeichnen. Wer ein Problem hat, betet zu Allah - und bittet gleichzeitig seinen christlichen Nachbarn, für ihn eine Kerze vor der Heiligen Jungfrau in der Kirche anzuzünden, denn sicher ist sicher. Umgekehrt geht es genau so.
    Aber die Menschen können sich dem Griff der Weltpolitik in der Zeitenwende nicht entziehen. Die Westmächte und Rußland, Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien und Griechenland greifen nach dem "kranken Mann am Bosporus" und zerreißen das Osmanische Reich. Aus den Trümmern schafft Mustafa Kemal Pascha, der sich später "Atatürk" nennt, die moderne Türkei.
    All dies greift unmittelbar in das Leben der Menschen ein. Verantwortungslose Fanatiker schüren den schleichenden Völkerhaß und schaffen den Haß auf andere Religionen. Am Ende brutalster kriegerischer Auseinandersetzungen steht die "ethnische Säuberung": der Armenier entledigt sich die türkische Regierung bereits während des I. Weltkrieges durch eine mörderische Deportation; der Blutrausch des griechisch-türkischen Krieges zu Beginn der 20er Jahre bedeutet die entgültige Trennung von Griechen und Türken durch einen Bevölkerungsaustausch - alle überlebenden Christen Anatoliens werden nach Kreta deportiert, alle Muslime von den griechischen Inseln nach Anatolien.
    So werden Freunde getrennt und Familien zerrissen. Die Bewohner jener kleinen Stadt in Anatolien erzählen in kurzen Kapiteln mit ihren eigenen Worten ihr Leben und Schicksal, ihre Gefühle und Gedanken. Der Leser erlebt den Untergang einer Welt aus der Sicht der sogenannten kleinen Leute, die meist schuldlos sind und doch die ganze Wucht von für sie nicht nachvollziehbaren, unverständlichen politischen Entscheidungen zu tragen haben. Eine tragische Liebesgeschichte zwischen einer jungen Christin und einem muslimischen Jungen steht exemplarisch für das Zerbrechen einer ganzen Kulturepoche. Sie fällt den Geißeln des 19. und 20. Jahrhunderts zum Opfer - fanatischem Nationalismus und religiösem Fanatismus, angeheizt und aufgehetzt von utopischen Großmachtbestrebungen und einer Politik, in der Macht wichtiger ist als Recht. Niemand in der kleinen anatolischen Stadt hat das gewollt und kann das verstehen. Aber sie alle müssen es erleiden.
    Ein historischer Roam? Ja - und nein. Der besondere Reiz der Lektüre liegt in diesem Widerspruch. Die Kulisse der historischen Ereignisse jener rund 25 Jahre währenden, im I. Weltkrieg gipfelnden und 1922/23 endenden Zeitenwende wird, soweit sie das Osmanische Reich betrifft, unauffällig, aber präzise dargestellt. Die Historie spielt dennoch nicht die Hauptrolle. Diese liegt bei den Menschen, bei Iskander dem Töpfer zum Beispiel und seiner Frau, bei Ibrahim, dem jungen Muslim und seiner schönen christlichen Braut Philotei, bei Rustem Bey Aga und seiner Geliebten Leyla, bei Levon dem Armenier und bei Leonidas, dem fanatischen griechischen Nationalisten und Dorfschullehrer. Nicht zu vergessen Abdulhamid Hodscha und seiner Frau Ayse und die häßliche Drosoula und Karatavuk und Mehmecik, die Freunde sind, obwohl sie verschiedene Religionen haben. Und der italienische Leutnant Granitola und der Philanthrop Georgio P. Theodoru und so viele andere.
    Was ist noch zu sagen? Ach so, ja - lesen, unbedingt!!! [Joachim Behnken]


    Louis de Bernieres: Traum aus Stein und Federn
    Gebunden | Roman. Dtsch. v. Manfred Allie u. Gabriele Kempf-Allie | 668 S. |2005 Fischer (S.), Frankfurt | ISBN 3-10-007125-5 | 19.90 EUR