Der Raum des Möglichen
Rüdiger Suchsland 24.03.2005
Jules Vernes Welt: Kommunizierende Röhren aus Fiktion und Essay, wissenschaftlicher Neugierde und Phantasie
Ein abenteuerliches Herz. Romane wie "In 80 Tagen um die Welt", "20 000 Meilen unter dem Meer" und "Die geheimnisvolle Insel" machten ihn weltberühmt: Abenteuergeschichten, Reiseromane, die zur ihrer Entstehungszeit höchst fremdartig schillerten und heute als Frühformen der Science-Fiction erkennbar sind; Fantasy mit wissenschaftlichem Fundament, die auf höchst anregende Weise Phantastik und Bestandsaufnahme, Wissenschaft und Spekulation verbindet. Vor 100 Jahren starb der Schriftsteller Jules Verne, bis heute der meistübersetzte französische Schriftsteller. Ein Entfesselungskünstler der Phantasie und eine prototypische Figur seiner Zeit.
Jules Vernes Bücher spielen immer am gleichen Ort. Es ist ein "dem Menschen unzugängliches Element, das der Fortschritt eines Tages erschließen wird". Ein Nicht-Ort, eine Utopie. Manchmal verbrachten seine Helden einfach zwei Jahre Ferien auf geheimnisvollen Inseln. Doch zumeist mutete Verne ihnen noch mehr zu, hielt sie ständig in rasender Dynamik, einem hektisch-optimistischen Fortschreiten, das die Bewegung seines ganzen Zeitalters war: Sie steckten in engen U-Booten und Luftschiffen, reisten auf künstlichen Inseln oder surreal anmutenden Allzweckfahrzeugen, eroberten Afrika, China und Russland, froren in Eiswüsten und am Nordpol, wurden verrückt am Rande eines Vulkans, 20 000 Meilen unters Meer mussten sie tauchen, in 80 Tagen um die Welt eilen, in Raketen auf den Mond oder ins Innerste der Erde schießen. Kein Ort, war Verne zu weit, kein Ziel zu unerreichbar, kein Mittel zu absurd - zumindest im Kopf. "Fortan wird die Phantasie ihr Leitstern sein, und reisen werden sie in ihrer Erinnerung." beschrieb Verne schon in einer frühen Reisereportage seine Haltung gegenüber der Außenwelt.
Immer wieder überbot Verne die Realität seiner Gegenwart, wagte wilde Spekulationen und ließ keine Skrupel erkennen. Doch gerade darin zeigte er sich als erstaunlich seismographischer Geist, dessen futuristische Visionen heute weit gegenwärtiger erscheinen als viele wissenschaftlichen Werke seiner Zeit. Vielen gilt Jules Verne heute nicht nur als Großvater der Science-Fiction-Literatur, sondern auch technischer Prophet, der zumindest einen guten Instinkt für die "Things to come" besaß.
Paris unter Napoleon V.
Am Unverstelltesten zeigt dies eines seiner frühesten Bücher – das zugleich als letztes das Licht der Öffentlichkeit erblickte: 1989 ließ Jean Verne den angerosteten Stahltresor seines Vaters Michel in dessen geerbtem Privathaus in Toulon aufbrechen. Darin fand sich das unveröffentlichte Manuskript des Zukunftsromans "Paris im 20. Jahrhundert", das sein Großvater Jules Vernes 1860, also noch vor Beginn seiner eigentlichen Karriere als Schriftsteller, geschrieben hatte.
Das Buch ist im Unterschied zu den bekanntesten Büchern Vernes kein Abenteuerroman, sondern ein Stück Zeitkritik, eine negative Utopie, eine Dystopie. Sie widerlegt auch das Gerücht, Verne sei ein unpolitischer Schriftsteller. Wie könnte Science Fiction überhaupt unpolitisch sein – denn wer die Frage "Was wäre, wenn?" stellt, der politisiert von selbst; auch dann, wenn er glaubt, politisch abstinent zu sein. Und wie immer gilt auch hier, dass die möglichen Konsequenzen technischer Entwicklungen in der Kunst deutlicher zu erkennen sind als in wissenschaftlichen Publikationen.
Die Menschen leben unter Kaiser Napoleon V. in einer schönen neuen Technikwelt: Am Himmel über der Stadt hängen armierte 'Blitzableiterballons', durch einen monströsen Kanal ist Paris zum Seehafen geworden, man wird durch unterirdische U-Bahnen und überirdische, lautlose Magnet-Schnellbahnen transportiert, 'photographische Telegraphie' kann 'das Faksimile jedes beliebigen Schriftstücks' in alle Welt übertragen – wie mit einem Fax-Gerät. Und auch sonst sind die Ähnlichkeiten zu unserer Gegenwart erstaunlich: Die Menschen wohnen in teuren Suburb-Trabantenstädten, haben Elektroherde und elektrisches Licht, hasten von dort in die Stadt zur Arbeit, essen Fertiggerichte, fahren mit motorgetriebenen Fahrzeugen, deren Verkehr die Straßen verstopft, verfolgen Börsenkurse auf Bildschirmen. Die Sprache ist zum "grauenvollen Jargon" geworden: Leuchtreklamen lenken den Konsum, Popmusik ("Elektrische Harmonien") wird geschätzt. Die übrigen Künste sind tot, da als nutzlos verworfen. Bildung ist nur noch an Mathematik, Naturwissenschaft, Technik und Maschinenwesen orientiert. Zur Kommerzialisierung ihrer Inhalte ist eine "Erste Allgemeine Bildungskreditbank" gegründet worden. Der Held des Romans ist ein zunehmend entfremdeter Künstler, der die Reste der verlorenen Kultur zusammen sammelt.
"Diese Welt ist nur mehr ein Markt" sagt eine Romanfigur, eine andere klagt: "So lautet das Glaubensbekenntnis dieses Jahrhunderts: unter Montaigne sagte man: 'Was weiß ich?'; mit Rabelais: 'Vielleicht?'; im 19. Jahrhundert: 'Was macht mir das aus?' Heute sagt man: 'Was bringt das ein?' Nun, an dem Tag, an dem ein Krieg wieder etwas einbringen wird, genauso wie ein Industriegeschäft, wird es auch wieder Krieg geben." Denn "Finanz und Maschine regieren".
Die Gegenwart als Ideenreservoir
Blickt man genauer, erkennt man, wie sehr Vernes Romanerfindungen mit der wissenschaftlich-technischen Entwicklung seiner Gegenwart verschränkt sind – sich nachgerade platt und unverhüllt aus ihr bedienen. "Ich habe nur die Dinge zu Ende gedacht, die schon zur Hälfte erfunden waren", schrieb er selbst später. Schon im Fall des Telefax aus "Paris im 20. Jahrhundert" ist das so: Zur Zeit der Romanentstehung erprobte der italienische Physikers Giovanni Caselli gerade seinen "Pantelegraph", der 1865 offiziell vorgestellt, aber dann nicht weitergeführt wurde. Ähnlich die "Reise zum Mittelpunkt der Erde" aus dem Jahr 1864. Bereits 1818 lancierte der Amerikaner John Cleves Symmes die Idee einer Erkundung des Erdinneren per Bohrung. Mitte der 40er Jahre debattierten Gelehrte, ob der Erdmittelpunkt erkaltet oder glühend sei. Oder die "Nautilus", das U-Boot des düsteren Kapitän Nemo: 1858 experimentierte Samuel Hallet in der Pariser Seine mit einer mechanischen Taucherglocke namens "Nautilus", die schließlich 1867 auf der dortigen Weltausstellung vorgestellt wurde. Eben dort präsentierte man auch das Modell des größten U-Boots des 19.Jahrhunderts: 42,5 Meter lang, sechs Meter breit und 135 Tonnen schwer – nur Nemos Bibliothek fehlte. Vier Jahre später veröffentlichte Verne seinen Roman.
In solchem unmittelbaren Aufgreifen gängiger Debatten und Verwerten der Wirklichkeit ist Vernes Verfahren dem eines Journalisten ähnlicher, als einem Schriftsteller. Seine Geschichten wurden zumeist zuerst in einer illustrierten Familienzeitschrift seines Verlegers Pierre-Jules Hetzel veröffentlicht, dem "Magasin d'Éducation et de Récréation", das Populärwissenschaft und literarische Prosa verband.
Verne selbst wird als Mensch voller Widersprüche erkennbar, eine gespaltene Persönlichkeit mit Hang zur Depression, geplagt von einem chronischen Minderwertigkeitskomplex, von Nervenleiden und Gesichtslähmung, geprägt von der ängstlichen sehr bürgerlichen Sorge um den eigenen gesellschaftlichen Status, um die Achtung seiner Familie und Mitmenschen. Verne war keineswegs ein fortschrittsgläubiger urbaner Liberaler, sondern ein Skeptiker, der entgegen dem Zeitgeist des 19. Jahrhunderts die Einführung der Elektrizität ebenso ablehnte wie Darwins Evolutionstheorie, das Telephon und das neu erfundene Automobil – man überfahre zu viele Hühner, erklärte er nach einer Probefahrt.
Zeitlebens war Verne von den konservativen Ansichten und der Herkunft aus der zwar keineswegs bornierten, aber doch gegenrevolutionären katholischen Provinz geprägt: "Es kommt dem Menschen nicht zu, etwas zu ändern an der Ordnung, die der Schöpfer festgelegt hat." So werden die von Verne beschriebenen technischen Geräte am Ende fast immer zerstört. Technik ist bei Verne gutkatholisch immer mit der Hinfälligkeit des Menschen und der Gefahr des Größenwahns verbunden. Die Erbsünde des Eindringens und Eingreifens in die gottgeschaffene Natur muss demnach bestraft werden. Und genau diese Zurückhaltung und Bescheidenheit, der Quietismus, mit dem Verne sich auch weigerte das zu sein, als das ihn seine Mitmenschen sehen wollten – "Die Wahrheit ist, dass man nichts weiß und gar nichts darüber wissen kann, was die Zukunft bereithält. Ich würde es mir nicht erlauben, die Rolle des Propheten zu spielen, zumal die Zeiten der Propheten vorbei sind, wie ein Kirchenvater gesagt hat." – macht das Gegenstück zu Vernes Hypertrophie aus, die andere Seite seines Schaffens – und diesen Autor erst wirklich attraktiv fürs breite, also durchschnittlich-feige Publikum.
Abschied aus der Gegenwart
Zu Vernes Ängstlichkeit und Konservatismus passt auch, dass er, der sogar eine Zeitlang als Börsenmakler arbeitete, im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen keineswegs besonders geschäftstüchtig war. Weil Verne die Sicherheit eines regelmäßigen Einkommens der Unsicherheit des Lebens als freier Schriftsteller vorzog, ließ er sich auf einen Vertag mit Hetzel ein, der ihm zwar mit monatlichen 1000 Francs erheblichen Wohlstand sicherte, seinem Verleger jedoch in den nächsten Jahrzehnten den zwanzigfachen Gewinn eintrug. Und für Verne bedeutete es oft Akkordarbeit, die er nicht selten widerwillig erledigte: Er fühle sich "wie ein Zuchthäusler" schreibt der von der Öffentlichkeit gefeierte Erfolgsautor 1868, klagt "ich muss einfach damit fertig werden, damit ich mich an etwas anderes setzen kann".
Aus dieser Perspektive ist das eskapistische Element in Vernes Produktion nicht nur unübersehbar, sondern gegenüber allem anderen dominant. "Schreiben" resümiert Pierre Bourdieu in Bezug auf Vernes Zeitgenossen Gustave Flaubert, "setzt alle Determinationen, alle grundlegenden Beschränkungen des gesellschaftlichen Daseins außer Kraft." Es hebt Zugehörigkeiten und Zwänge auf. Und auch wenn das Reisen und Entdecken, die Mobilitätsbegeisterung und das Überfliegertum und der Mut zur Bruchlandung nur allzu sehr der experimentellen Atmosphäre des Zeitalteralters der Hochindustrialisierung entsprach, spürt man doch bei Vernes noch mehr. Er unternimmt Reisen in Sehnsuchtswelten. Seine Bücher entwerfen Paralleluniversen, künstliche Paradiese – und erzählen vom Hinter-sich-lassen, vom Verlassen der Wirklichkeit:
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Es ertönte ein fürchterlicher, unerhörter, übermenschlicher Knall, der nicht zu beschreiben ist, weder Blitzschlägen noch Vulkanausbrüchen vergleichbar. Eine himmelhohe Feuersäule schoss aus dem Boden wie aus einem Krater empor. Die Erde erbebte - und kaum ein Zuschauer konnte den Bruchteil eines Augenblicks lang das Projektil sehen, wie es inmitten flammender Dünste siegreich in die Lüfte emporsauste.
Es geht also auch um den Abschied aus der Gegenwart. Wie oft reisen die Reisenden der "Voyages extraordinaires" in Schiffen! Schiffe sind zwar Metaphern des Aufbruchs zu neuen, unbekannten Ufern, aber ebenso auch der Einschließung, des Schutzes vor einem unbestimmten Außen. Eine kleine Welt. Und Verne selbst liebte Schiffe, unternahm auf ihnen viele Reisen, besaß selbst drei Stück. Es geht die – von seinen Biografen bezweifelte – Legende, Verne habe bereits im Alter von 10 Jahren auf einem Schiff Richtung Indien angeheuert. Sein erster erzählender Text hieß 1851 "Seefahrt und Reisen" und enthält bereits viele der Leitmotive des Autors.
Will man psychologisieren, könnte man sagen: In Vernes Romanen will fast immer einer Kind bleiben, oder es wieder werden: noch einmal Südseefahrer sein, Matrose auf Meeren in der schönen Fremde, Abenteurer in exotischen Atollen. Am besten sind Welten, die noch keiner sah, die noch keinen Namen haben, und Helden die irgendwie namenlos sind – wie Nemo oder Passepartout. Ihnen ist alles möglich, wie heute den Superhelden der Comics und Fantasy-Literatur. Es sind Bescheidwisser, clever wie Passepartpout, oder düster-autoritär wie Nemo, oder eingebildet-ignorant wie Phileas Fogg, der viktorianische Snob, der "schon überall gewesen war – im Geiste wenigstens" – Allmachtsphantasien eines 13jährigen. Man spürt auch sonst etwas Großmäuliges in diesen Texten: Es muss schon der Mond oder der Mittelpunkt der Erde sein, fünf Wochen im Ballon, als man gerade mal ein paar Stunden schaffte, 20.000 Meilen unter dem Meer und nur 80 Tage um die Welt – drunter ging es nicht bei Verne, und es ist vielleicht nicht ganz zufällig, dass er zu Lebzeiten nirgends populärer war, als im wilhelminischen Deutschland, der zu spät gekommenen Nation, die ihren Platz an der Sonne nur erträumen konnte, diesen realen Mangel durch Großmannsucht und halbstarke Politik kompensierte, und über die Vernes Konkurrent und Bruder im Geiste H.G. Wells schrieb: "Eine ganze Generation Deutscher hat es nicht geschafft, erwachsen zu werden."