2005 / 13 Ray Wilson: Live And Acoustic (2001 / 2002)

  • Ray Wilson
    Live And Acoustic (über das Wilson-eigene Label, via Internet 2001, offiziell im Vertrieb seit 2002)

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    Genre: Pop / Rock
    Gesamtzeit: 69:42
    Titelanzahl: 18


    [01] In The Air Tonight (4:52)
    [02] Inside (4:30)
    [03] Rest In Peace (2:57)
    [04] Shipwrecked (3:16)
    [05] Not About Us (3:25)
    [06] Another Day (4:07)
    [07] Sarah (2:51)
    [08] Gypsy (4:25)
    [09] Swing Your Bag (3:30)
    [10] Always In My Heart (4:36)
    [11] Lovers Leap (2:14)
    [12] The Carpet Crawlers (4:41)
    [13] Biko (4:42)
    [14] Mama (4:36)
    [15] Forever Young (4:16)
    [16] Desperado (3:03)
    [17] Born To Run (4:15)
    [18] The Airport Song (3:12)


    Erinnert sich hier noch jemand an diesen Levi’s-Jeans-Werbespot mit den beiden Amish-People-Mädels, die am Erfrischungswasserloch einen adretten Waschbrettbauch-Jüngling beim Baden beobachten und ihm die Hose klauen wollen? Dieser Werbespot und ein ziemlich gnadenloses Riff im Hintergrund sorgten dafür, daß der Titel „Inside“ (guter Titel … könnte man fast ein Forum nach benennen …) von der schottischen Grungeband Stiltskin den ersten Platz der britischen Charts erklomm. Was machte die Fachpresse? Sie lächelte und legte Stiltskin in der Rubrik „Eintagsfliege“ ab.
    Dieses Lächeln war dem Stiltskin-Sänger Ray Wilson keinesfalls neu. Bereits seit 1994 handelte er sich dieses abwertende Lächeln immer und immer wieder ein. Damals verließ er nämlich die in seiner Heimatstadt Edinburgh beheimatete Rockband Guaranteed Pure, die sich dort bereits einen ziemlich guten Ruf erspielt hatte, um zu Stiltskin und dem Grunge zu wechseln – die Fachpresse lästerte, er würde auf einen fahrenden Zug aufspringen. Kurz nach dem „Inside“-Erfolg erschoß sich Nirvana-Oberhaupt Kurt Cobain, Grunge starb offiziell am selben Tag, Stiltskin lösten sich auf und Ray Wilson kehrte zu dem Trümmerhaufen von Guaranteed Pure zurück und verpaßte ihm den neuen Namen Cut – ein Lächeln von der Fachpresse: warum umbenennen, wenn man doch mit den alten Namen schon anständige Erfolge feiern konnte?
    Tja, und dann kam ein Anruf von einem gewissen Musikmanager namens Tony Smith, der anfragte, ob Wilson Interesse hätte, mit einer seiner Bands ein bißchen Musik zu machen. Wer sagt schon „nein“, wenn Genesis bei einem anfragen … Breites Grinsen auf den Gesichtern der Fachpresse – wer würde schon Phil Collins ersetzen können? Nun ja, in diesem Fall schien das Lächeln berechtigt zu sein: Ray Wilson war definitiv kein Phil Collins und das Album „Calling All Stations“ verkaufte sich für Genesis-Verhältnisse schleppend, die Tour war nicht annähernd so erfolgreich wie gedacht und schließlich lösten Rutherford und Banks Genesis auf. Daß die Zuschauer auf der „Calling All Stations“-Tournee von Genesis eine ganze Menge richtig guter älterer Genesis-Songs auf die Ohren bekamen, für die Collins’ Stimme nicht geeignet gewesen war, wurde natürlich mit keinem Wort erwähnt (oder höchstens im Nebensatz).
    Ray Wilson kehrte erneut zu Cut zurück und spielte gemeinsam mit dieser Gruppe das Album „Millionairhead“ ein. Klar – die Fachpresse nahm ihn wieder nicht ernst; was will man auch von jemandem erwarten, der offensichtlich größenwahnsinnig war, als er glaubte, die Lücke von Phil Collins ausfüllen zu können.
    Was immer Ray Wilson auch anpackte – die Presse hat ihn zehn Jahre lang nicht wirklich ernst genommen. Genauer: eigentlich nimmt sie ihn bis heute nicht richtig ernst. Und das eigentlich zu Unrecht, denn bei Ray Wilson handelt es sich um einen, der nicht nur Songs schreiben (auch wenn das bei „Calling All Stations“ nicht so wirklich zur Geltung kam, aber immerhin - die Titel, an denen er mitwirkte, waren noch die besseren auf dem Album), sondern auch Fremdkompositionen richtig gut interpretieren kann, weil er sich in die Titel reinkniet und versucht, die Grundstimmung der einzelnen Lieder möglichst intensiv rüberzubringen.
    2001 ließ Ray Wilson Cut (vorerst?) hinter sich und begab sich auf Solopfade. Und das sogar ziemlich konsequent. In den ersten Monaten des Jahres tourte er recht intensiv und spielte hauptsächlich solo. Ab Mitte des Jahres gab es dann einige Konzerte, bei denen ihm sein Bruder Steve Wilson sowie Amanda Lyon zur Seite standen, jeweils mit Gitarre bzw. Keyboards und Stimmbändern bewaffnet. Auf dem Edinburgh International Festival ergab sich dann die Gelegenheit, einige dieser Live And Acoustic-Konzerte mitzuschneiden, was auch prompt dankbar angenommen wurde.
    Die Atmosphäre dieser Konzerte war locker und entspannt; zwischen den Titeln plauderte Ray Wilson ein wenig aus dem Nähkästchen, erzählte Anekdoten zu den einzelnen Stücken, spöttelte hin und wieder, verneigte sich aber auch vor seinen Idolen und Mentoren. Im Grunde genommen glaubt man manchmal gar nicht, daß es sich wirklich um ein öffentliches Konzert handelt; das meiste hätte auch bei einem gemütlichen Lagerfeuer mitgeschnitten werden können. Selbst so herzhafte Kommentare wie „Fu*k, I’m in the wrong key“ passen einfach zu dieser Atmosphäre.
    Und die Musik selbst? Es zeugt schon von Selbstbewußtsein, wenn man sich allein mit einer Gitarre vor ein Publikum stellt und dort Lieder interpretiert, die man eigentlich nicht direkt mit einer akustischen Gitarre verbindet. Phil Collins’ (fast) gitarrenfreier Klassiker „In The Air Tonight“ auf der Klampfe? Jawoll, das kann funktionieren … und wie! Genesis’ keyboard- und schlagzeuglastiges „Mama“ auf einer Gitarre? Klingt großartig, wenn der Interpret was auf dem Kasten hat! Bruce Springsteens „Born To Run“, praktisch unverstärkt? Alles anscheinend kein Problem für Ray Wilson, der zeigt, daß es nicht viel braucht, um ein gutes Lied anständig rüberzubringen. Gemeinsam mit Amanda Lyon, die auf einigen Live-And-Acoustic-Konzerten sogar zeigen durfte, daß sie es eigentlich nicht nötig hat, sich nur im Background herumzutreiben, schafft es Ray Wilson, daß der Zuhörer vergißt, daß da eben keine phonstarke Glitzerband mit ihren Effektgeräten auf der Bühne steht, sondern die Musik tatsächlich nur von einem bzw. zwei bzw. drei Musikern auf akustischen Instrumenten gemacht wird. Und natürlich von einem, der genau weiß, wie er mit seiner Stimme Gänsehaut erzeugen kann … oder wie man ein unbeschwertes Stück mit einem akustischen Augenzwinkern versieht.
    Aus dem mitgeschnittenen Material der dreizehn (ausverkauften!) Abende die richtigen Stücke auszusuchen, dürfte für die Verantwortlichen wohl ein harter Brocken gewesen sein, denn Ray Wilson hat sein Programm und seine Geschichten praktisch an jedem einzelnen Abend verändert oder auch mal auf Publikumszurufe spontan Lieder improvisiert. Normalerweise hätte das Material locker für ein Doppelalbum gereicht – und daß Stücke wie Genesis’ „No Son Of Mine“, U2s „One“ oder Peter Gabriels „Don’t Give Up“ dann doch unter den Tisch fielen, ist irgendwie bedauerlich, denn trotz fast 70 Minuten Spielzeit wirkt diese CD reichlich kurz. Andererseits wäre es natürlich auch schön, wenn er in Zukunft auf mehr eigene Hits zurückgreifen könnte. Statt dessen besinnt sich Ray Wilson auf den Verlauf seiner bisherigen Musikerkarriere und zieht eine kleine Bilanz, indem er sowohl Lieder der Leute interpretiert, die ihn musikalisch beeinflußt haben (siehe oben), andererseits blickt er auch auf seine eigene Karriere zurück und bringt Lieder aus seinem Genesis-, Cut- und Guaranteed Pure-Repertoire. Eine angenehme Mischung also aus bekanntem und größtenteils unbekanntem Material.
    Ray Wilson hat übrigens seit 2002 in schönem Jahresrhythmus Alben auf den Markt gebracht. Mittlerweile lächelt die Fachpresse nicht mehr über ihn; sie scheint ihn eher zu ignorieren. Daher sei an dieser Stelle aus gegebenem Anlaß noch etwas Werbung für ihn gemacht, für sein brandneues „Live“-Album (gerade letzten Monat rausgekommen) sowie die beiden anstehenden Deutschland-Konzerte, die ihn nach Zwickau (30. 6.) und nach Kassel (2. 7.) verschlagen, in der Dreierbesetzung, die man bei diesem „Album der Woche“ schon mal genießen kann. Am besten, wenn man in Lagerfeuerstimmung ist.


    - Ray Wilsons erste Band hieß ironischerweise The End und bestand im wesentlichen aus ihm und seinem Bruder Steve.
    - Guaranteed Pure nahmen in Edinburgh ganze drei Alben auf, jedoch nur eines davon („Swing Your Bag“) wurde letzten Endes auch auf CD aufgelegt.
    - Stiltskin legten nur ein einziges Album vor („The Minds Eye“).
    - Guaranteed Pure bestanden aus Steve Wilson, Ray Wilson, Paul Holmes (Keyboards), John Haimes (Baß) und Chris Cavanagh (Schlagzeug). Während der Auszeit, bedingt durch Ray Wilsons Einstieg bei Genesis, zerfiel die Band. Chris Cavanagh stand nach der Rückkehr von Wilson nicht mehr zur Verfügung, daher wurde für den Neuanfang unter dem Namen Cut als Ersatz Nir Zidkyahu gewählt, der bereits auf einigen Genesis-Tourneen die Sticks schwang.
    - Cut legten ebenfalls nur ein einziges Album vor („Millionairhead“). Während Stiltskin allerdings aufgrund des kommerziellen Erfolgs von „Inside“ noch zwei weitere Singles auskoppelten, blieb es bei Cut bei einer einzigen Single („Another Day“). Cut tourten noch als Support von Westernhagen oder den Scorpions, bevor Ray Wilson endgültig ausstieg.
    - Mit den Scorpions verstand sich Ray Wilson übrigens so gut, daß er anläßlich der Expo 2000 bei einem Scorpions-Konzert als Gastsänger verpflichtet wurde. Er wählte das Stück „Big City Nights“.
    - Die offizielle Pressemeldung von der – Zitat - „Streichung Rays von der Genesis-Gehaltsliste“ erschien im August 2000
    - „Live And Acoustic“ hieß ursprünglich „Unplugged“ und war nur über das Internet zu bekommen; nicht mal ein Jahr später war jedoch ein Vertrieb für das Album gefunden.
    - Ray Wilson hat auch mit einigen Dance-Projekten zusammengearbeitet (Turntablerocker, DJ Armin van Buuren)