Winnetou zum Hören
Jedes Kind kannte Karl May nicht nur, weil die mittlerweile zu nostalgischen Gefühlen neigenden Jahrgänge noch Bücher gelesen haben. Die Werke des "Maysters", wie eingefleischte Fans den sächsischen Abenteuerautoren bezeichnen, der selbst erst in hohem Alter die Jagdgründe eines Winnetou oder die Wüsten Nordafrikas bereiste, diese Werke gehörten früher in jedes gut sortierte Bücherregal eines jungen Menschen.
Mit glühenden Wangen erlebten wir die Treffsicherheit eines Old Surehand, lachten über die Bekehrungsversuche eines Hadschi Halef Omar, dessen eigentlicher Name natürlich viel länger war, weinten mit Old Shatterhand um den geliebten Winnetou. Doch nicht nur die Bücher zogen uns in den Bann – schon in der Frühzeit des Rundfunks kamen Mays Werke in Hörspielform in die Ohren junger und natürlich auch alter Menschen. Und als Schallplatte und Musikkassette ihren Siegeszug antraten, durften Winnetou und Co. natürlich nicht fehlen. Heute werden gut erhaltene Tonträger aus den 60er und 70er Jahren zu Höchstpreisen gehandelt – dabei ist es zur Zeit gar nicht schwer, für ein Taschengeld zurück in die Jugend zu reisen.
Alte Schätze
Jahrelang gab es nur einen Weg, das Gefühl jener Tage noch einmal zu erleben, mit Karl Mays Helden große Abenteuer zu bestehen, ohne das Kinderzimmer zu verlassen. Man musste entweder im Keller durch Zufall eine alte LP finden und dann auch noch einen Plattenspieler haben, um diesen Schatz abzuspielen. Oder man ersteigerte das Objekt seiner Begierde. Auf alte Hörspiele spezialisierte Fachgeschäfte bieten ihren Kunden mittlerweile eine Fülle alter Hörspielschätze. Doch der Mensch ist nun einmal bequem und Plattenspieler mittlerweile eine oft kostspielige Liebhaberei.
Der Markt für Neuauflagen altbekannter Hörspiel-Klassiker auf CD war da – und die Firmen haben reagiert. Fast alle großen Labels veröffentlichen den Stoff, aus dem an verregneten Nachmittagen Kinderträume gewebt wurden. Nun, so ganz stimmt das nicht. Die Hörspiel-Archive wurden im Zuge diverser Firmenübernahmen von Altlasten befreit – und so manch ein Masterband verschwand darum im Müll. Mit der Folge, dass heute oftmals nur von alten Schallplatten Abzüge auf CD gemacht werden. Und nicht immer geben sich die Produzenten bei diesem Verfahren wirklich Mühe.
EUROPA – die Klassiker
Bei dem Wort "Europa" denken Hörspielfreunde sofort an DEN Winnetou des deutschen Hörspiels, Konrad Halver. Der Hamburger gilt noch heute als der glaubwürdigste Darsteller des edlen Apachen-Häuptlings im Hörspiel, und die Wiederauflage im Rahmen der Klassiker-Serie von EUROPA hat manch ein Auge feucht werden lassen. So schön wie Halver starb kaum ein Winnetou in den Armen seines Blutsbruders Scharlih am Fuße des Hancock-Berges. Mit viel Liebe zum Detail gingen die Hörspielmacher im Hamburg der 60er Jahre ans Werk – eine Hingabe, die noch heute das Hören zum Genuß macht. Insbesondere große Stimmen wie Hellmut Lange, der als Kara Ben Nemsi und Vater Jaguar dem Helden à la May seine wunderbar volle Stimme lieh, machen die EUROPA-Produktionen zu Juwelen.
Kurt Vethake – der große alte Mann des Hörspiels
Zu den bekanntesten Hörspielmachern jener Jahre zählt Kurz Vethake. Manch einer nennt ihn sogar Vater des LP-Hörspiels, denn zahllose Label vertrieben die Produktionen Vethakes. Das Label "Maritim" brachte es hinsichtlich des Umfanges auf einen beachtlichen May-Katalog. Doch trübten Schwächen in der Dramaturgie wie auch in der Darstellung die Freude am Hören – an Europa kamen diese Produktionen für Kinderohren nicht heran, es fehlte meist das Quäntchen Spielfreude und Detailverliebtheit. Der Freude heutiger Hörer tut das aber keinen Abbruch – im Gegenteil: Die besondere Atmosphäre der Maritim-Aufnahmen, manch einer spricht von "morbidem Charme", verfehlt nicht ihre nostalgische Wirkung. Besonders erwähnenswert sind an dieser Stelle die damals von FASS, jetzt von Karussell veröffentlichten Karl-May-Hörspiele, an denen Kurt Vethake beteiligt war. Atmosphärisch dichte, spannend dargestellte Abenteuer, die noch heute ihre Hörer fesseln.
In der Kürze liegt keine Würze
Die Schwäche der damaligen Hörspiele darf aber nicht verschwiegen werden. Die literarische Vorlage wurde arg gekürzt, oftmals verfälscht – für viele May-Freunde ein Grund, Hörspiele rundweg abzulehnen. Daß es auch anders geht, zeigt das Label "Fowling Bull" mit seinem Erstling "Durch die Wüste". Auf Grundlage der letzten von Karl May autorisierten Ausgabe entstand ein Textbuch, das nach Angaben des Produzenten keinen wesentlichen Handlungsstrang unterschlägt. Das hat natürlich seinen Preis – statt auf einer LP mit etwa 40 Minuten Spielzeit findet sich der erste Band der May-Bibliothek auf vier CDs mit einer Laufzeit von mehr als 300 Minuten.
Die Aufnahmen gefallen durch viel Liebe zum Detail, und wenn am Ende die Abenteuer von Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar vollständig aufgenommen wurden, werden mehr als 120 Sprechstimmen auf 24 CDs diese Reise durch Orient und Balkan erlebbar machen. Die jetzt veröffentlichte erste CD schildert die ersten Abenteuer Karl Mays bei seiner Reise "Durch die Wüste" – ein Vergnügen vor allem für textfeste May-Freunde.
Jungbrunnen durchs Ohr
Ob nostalgische Aufnahme mit Gänsehaut-Garantie oder moderne Produktion mit dem Hang zur Werktreue – eines haben alle May-Hörspiele gemeinsam: Sie versetzen den Hörer in seine Kindheit zurück, und allein diese Wirkung verhilft allen angesprochenen Hörspielreihen zu einer uneingeschränkten Kaufempfehlung. Wo sonst könnte man sich seine Jugend für ein Taschengeld zurückholen?
Vier Empfehlungen:
Karl May, In den Schluchten des Balkan, EUROPA 82876 87419 2
Karl May, In den Schluchten des Balkan, KARUSSELL 06025 1702763
Karl May, Die Sklavenkarawane (Doppel-CD), MARITIM 795032-311
Karl May, Durch die Wüste, Fowling Bull FB 0101 (www.fowling-bull.de)
