Jules Verne im Lendenschurz

  • Benesi nennt sich der Vorposten deutscher Weltgeltung in der (fiktiven) Kolonie Tola, dort tummeln sich 1913 allerlei verkrachte Existenzen und Glücksritter. Doktor Brückner, der enttäuschte Humanist, ertränkt (ähnlich wie sein Kollege Gottfried Benn) seinen Weltekel in Zynismus, Poesie und Drogen. Schirach, der preußisch-schneidige Offizier, lehrt die "Wilden" mit der Nilpferdpeitsche militärische Disziplin und Mores; der Forschungsreisende Lautenschlager fotografiert die Tätowierungen eingeborener "Geschichtenmänner". Ludwig Gerber, schon als bayrischer Holzhändler und Kautschukpflanzer im Kongo eine traurige Figur, scheitert auch diesmal: Sein wahnwitziges Projekt von einem reinrassigen deutschen Wald mitten in der afrikanischen Steppe fällt den Flammen, Würmern und Franzosen zum Opfer.


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    Thomas von Steinaecker | Foto: dpa


    Henry, der kosmopolitisch weltgewandte Architekt aus reichem Hause, will sich nach seinem Schiffbruch unter falschem Namen eine neue Existenz als kühner Städteplaner und seriöser Mann aufbauen. Aber auch mit seinem Traum von der Modellstadt Benesi erleidet er Schiffbruch. So wie die Männer mit ihrem technokratischen Größenwahn und ihrem kolonialherrlichen Dünkel, scheitert auch Käthe, Gerbers unglückliche Schwester, mit ihren romantischen Traum: Henry will nichts von ihrer verzweifelten Liebe wissen. Ja, mach nur einen Plan; in den traurigen Tropen scheitern alle. In Benesi funktioniert nicht einmal die Kuckucksuhr. Der Gouverneur im fernen Loué ist nie auf seinem Posten; Bittschriften bleiben unbeantwortet, die versprochenen Siedler aus, und als Gerber in Deutschland nach dem Rechten sehen will, erwartet ihn eine kafkaeske Bürokratie. Thomas von Steinaecker ist nicht nur einer der interessantesten jungen Autoren ("Wallner beginnt zu fliegen"), sondern auch Dokumentarfilmer und medientheoretisch versierter Literaturwissenschaftler, und so ist auch sein drittes Buch mehr als nur ein exotischer Abenteuerroman: "Schutzgebiet" ist eine kluge, subtil verspielte Auseinandersetzung mit deutschen Afrika-Projektionen und eine fast pynchoneske Parabel.


    In Benesi "beginnt die Schöpfung jeden Tag von neuem", aber nicht zum Vorteil von Schöpfern und Geschöpfen. Die Fackel der Aufklärung ist hier nur eine flackernde Funzel, bedroht von einer chaotisch wuchernden Natur und geostrategischen Interessen, menschlichem Hochmut und Herzensträgheit. "Wir leben in einer Zeit, in der alles möglich ist", heißt das Motto aus Jules Vernes "Karpatenschloss". In Tola gibt es Grammophone, Automobile, Telefax, drahtlosen Funk; selbst ein primitives Internet scheint schon im Bereich des Möglichen. Aber wie bei Thomas Pynchon sind die letzten Errungenschaften einer fortschrittsgläubigen Zivilisation mit archaischen Mythen, Magie und Drogendelirien verknüpft. Jenseits der Schutzzone, draußen im Busch, lauern die Fabelwesen und Alpträume abendländischer Vernunft: Missionare im Kochtopf von Kannibalen, Geister, Dschungelwölfe, vielleicht sogar Dinosaurier, wie in Arthur Conan Doyles "Vergessener Welt". "Schutzgebiet" ist ein Dschungel voller Zitate und Anspielungen: Die weißen Verlierer und Versager im Herzen der Finsternis erinnern an Joseph Conrad, die aus der Zeit gefallene geschlossene Gesellschaft am Vorabend des Ersten Weltkriegs ist so etwas wie ein afrikanischer "Zauberberg". Heinrich Manns "Untertan" Heßling taucht auf und natürlich Jules Verne mit seinen mechanisch klappernden Utopien, Idealstädten und anarchischen Rächern; die Luftschiffer aus Vernes "Robur" etwa trieben schon in Pynchons "Gegen den Tag" ihren Schabernack. Von Steinaecker montiert die Zitate so beiläufig ein, dass sie (anders als die ein wenig umständlichen Rückblenden) den Fluss der Erzählung nie stören.


    Seit Uwe Timm ("Morenga") haben sich immer wieder Autoren kritisch mit der deutschen Kolonialvergangenheit beschäftigt, zuletzt Gerhard Seyfried ("Herero"), Christoph Hamann ("Usambara") und Alex Capus ("Eine Frage der Zeit"). Anders jetzt Thomas von Steinaecker. Natürlich haben auch seine Offiziere, Missionare, Ethnologen und Siedler keine Skrupel, die "Neger" auszubeuten, auszupeitschen oder auch pädagogisch-humanitär zu "heben". Aber auch dieses Projekt ist zum Scheitern verurteilt: Selbst als dressierte Arbeitssklaven und getaufte "Hosenneger" mit Kaiserbart und deutschen Namen bleiben die Eingeborenen ihren Herren ein Rätsel. Umgekehrt ist auch der Firnis der Zivilisation dünn. In Benesi steht zwar ein Hofbräuhaus, aber selbst der fette, gemütlich brutale Gerber, der in seinem Rassenwahn die "Verkafferung" so fürchtet, macht beim Elefantentanz der Häuptlinge wie selbstverständlich mit. "Jeder trägt das Anarchische unter dem Rock" und versucht doch, sich mit Hilfe von Uniform, Wäschesteif und abendländischen Werten keine Blöße zu geben. Schirach knöpft seinen Soldatenrock auch bei größter Hitze nicht auf; aber der Gouverneur schlüpft gern mal in den Lendenschurz und gar ins Adamskostüm. Wie im "Verkehrten Haus" der Pariser Weltausstellung, wo die Salondamen die exotischen Menschentiere schaudernd streicheln, steht auch in der Schutzzone alles auf dem Kopf: Nicht nur auf Lautenschlagers Negativen sind die Schwarzen weiß und die Weißen schwarz.


    Von Steinaecker gibt den Eingeborenen weder eine Stimme noch ein Gesicht; aber sie sind ständig präsent als Bedrohung und Verlockung von aufgeklärter Vernunft und deutscher Manneszucht. So beginnen im "Schutzgebiet" literarischer Imagination und im "inneren Afrika" Freuds die Identitäten, rassistischen Klischees und kulturellen Zuschreibungen zu tanzen, bis Wahn und Wirklichkeit, lustvolle Regression und technokratischer Fortschritt nicht mehr zu unterscheiden sind. Von Steinaeckers Tola ist ein Labor der Globalisierung, eine Fabrik der Zivilisationstechniken: Himmel und Hölle ideologischer Projektemacher und läuterndes Fegefeuer eurozentrischer Eitelkeiten.
    – Thomas von Steinaecker: Schutzgebiet. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2009. 384 Seiten, 19,90 Euro.


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