Futuristischer Abenteurer

  • Futuristischer Abenteurer
    100. Todestag Jules Verne: Visionär und Realist
    Er jagte seine Helden in 80 Tagen um die Welt oder 20 000 Meilen unters Meer. Er baute künstliche Inseln und focht Dramen in skurrilsten Allzweckfahrzeugen aus. Hundert Jahre bevor Apollo II. auf dem Mond landete, hatte er schon seine Abenteurer durch den Weltraum geschickt: Jules Verne gilt als der technische Prophet im 19. Jahrhundert.





    Mit 65 Romanen, drei Theaterstücken, diversen Libretti und unzähligen Kurzgeschichten wagte der französische Autor den Aufbruch in die Moderne. Doch was uns heute wie Visionen erscheint, die sich bewahrheitet haben, ist in Wirklichkeit ein literarischer Report über die verrückten Entwicklungen im beginnenden Industriezeitalter. Nichts ist nämlich so erstaunlich wie die tatsächlichen Entdeckungen der Tüftler und Ingenieure, der Luftschiffahrtskapitäne und U-Boot-Fahrer.


    Was heute Sachbücher liefern, das schrieb Verne damals als neue Romangattung vor allem für Jugendliche. Heute wird Verne dafür als „Vater der Science-Fiction“ gehandelt. Eher aber müsste man seine Schaffenszeit ab 1850 bis zu seinem Todestag am 24. März vor genau hundert Jahren als futuristische Entwicklungsphase titulieren. Bestes Beispiel dafür: die U-Boot-Konstruktionen. Verne lässt seinen Kapitän Nemo in der „Nauti-lus“ 1869/70 durch die Meere schippern. Das elektrische U-Boot ist 70 Meter lang und mit allem Luxus von der Bibliothek bis zur besten Beleuchtung ausgestattet. Auch wenn es in der Realität weniger edel zuging, gab es doch schon davor rund 25 besatzungsfähige U-Boote.


    Das Erste wurde 1624 in Holland entwickelt: Die Holzkugel, überzogen mit Tierhaut, mit sechs Ruderern und weiteren drei Personen bestückt, ging bis zu vier Meter Tiefe. 151 Jahre später wurde die „American Turtle“ mit Sprengkörpern für den Unabhängigkeitskrieg gebaut. Militärisch ging es weiter: Robert Fultons torpedobeladener Namensgründer „Nautilus“ tauchte 1801 schon acht Meter tief. 54 Jahre später gab es das erste Eisenmodell von Wilhelm Bauer, das es auf 130 Fahrten und vier Stun-den Tauchen am Stück brachte. Mit der mechanischen Taucherglocken-Variante „Nautilus“ experimentierte Samuel Hallet 1858 in der Seine, bis man sie schließlich 1867 auf der Weltausstellung sehen konnte.


    Dort konnte man auch das Modell des bestaunen, der Vernes Nautilus verdammt ähnlich ist. Das größte U-Boot des 19. Jahrhunderts war 42,5 Meter lang, sechs Meter breit, 135 Tonnen schwer und der Pressluftmotor schaffte 80 PS. „Die Reise auf Vernes Nautilus offenbart nicht nur die Geheimnisse der Tiefsee, sie sondiert auch die Untiefen wissenschaftlicher Selbstvergessenheit aus der Sicht desjenigen, der sich in ihr zu verlieren droht“, resümiert Volker Dehs, der eine neue Verne-Biografie geschrieben hat. Verne war der Gratwanderer zwischen der Technikbegeisterung des 19. Jahrhunderts und dem warnenden Zeigefinger. Vor allem aber war er, so Dehs, ein „Romancier“, der die literarische Kunst als Vermittler einsetzte. Der also die Wissenschaft in die hehren Hallen der Literatur, der Spannung und der Ästhetik einführte – entgegen der Tradition und ohne Anerkennung der Akademie.


    „Ich kann nicht behaupten, dass ich mich jemals in die Wissenschaft sehr vertieft hätte. Ich meine damit, dass ich niemals richtig Wissenschaft studiert oder praktiziert habe. Allerdings machte es mir schon als kleiner Junge großen Spaß, Maschinen beim Funktionieren zuzuschauen. Diese Vorliebe ist mir mein ganzes Leben lang geblieben.“ Jules Verne hatte die Gabe, viel versprechende Projekte aus der Fülle der Entdeckungen herausfiltern zu können. Und er hatte gute Helfer: Vetter Henri Garcet unterstützte ihn bei den Mondromanen, auch der Astronom Joseph-Charles d’Almeida und der Minenbauingenieur Albert Badoureau berieten ihn. Außerdem boten ihm die Welt-ausstellungen, Zeitschriften, Enzyklopädien und seine 20 000 Notizen umfassende „Datenbank“ einen Ideen-Fundus.


    Lichterglanz durch Dynamos und Briketts


    Nehmen wir das Thema Elektrizität: Die Weltausstellung 1900 wurde mit 40 000 Glühlampen und 6000 Bogenlampen beleuchtet – Krönung einer fortschreitenden Elektrifizierung des so düsteren 19. Jahrhunderts. Hell strahlt auch Vernes „Nautilus“. Auf der „Propellerinsel“ (1895) geht Verne weiter in Sachen Strom: Die mit Schiff-schrauben angetriebenen Stahlinseln funktionieren über Dynamos samt Brikettverbrennung. Da wurden also die bekannten Dynamo- und Batteriesysteme – Jacobis Elektroboot 1838 oder die erste Elektro-Eisenbahn 1879 – weiter gesponnen. Der glänzende Beobachter Verne nahm sich die Freiheit, wissenschaftliche Fiktion zu betreiben. Nur selten mischte er persönlich mit wie auf einer Ballonreise 1873. Schon davor hatte sein Freund Nadar die Fluglust angestachelt. Nadar ging 1863 mit dem „Gigant“, der zwölf Personen und eine kleine Druckerei tragen konnte, in die Luft und entging beim zweiten Flug knapp einer Katastrophe. Die Fliegerei war damals ge-kennzeichnet von einem steten Auf und Ab: 1785 gelang die erste Kanalüberquerung von England nach Frankreich in einem heizbaren Gasballon. Die 1803 noch erfolgreichen Experimente mit Spiritusheizung gingen neun Jahre später in Flammen auf. Verne bastelt da gedanklich lieber an einem ultimativen Flugapparat. „Robur der Eroberer“ (1886) bekommt die Propellermaschine „Albatros“, und der „Herr der Welt“ (1904) das Amphibienfahrzeug „Terror“.


    Fiasko mit Knallgas-Antrieb


    Auch diese denkwürdigen Exemplare haben literarische Ahnen. Audoy lässt seinen Helden in seiner Satire von 1867 in einem birnenförmigen Luftschiff über Frankreich schweben. 1875 kommt Verne der Autor Alphonse Brown mit einer Luftschiff-Weltreise in einem vogelähnlichen Gebilde mit 40 Meter langen Flügeln zuvor. Zwei konkrete Modelle von 1863 waren schließlich Vorläufer von Vernes „Albatros“, der Name ist sogar noch älter: Jean-Marie LeBris hatte sein Vogelimitat auf einem Radwagen 1857 so benannt. Allerdings endete dieses reale Unternehmen bei Antriebsversuchen mit einem Schiff in einem Fiasko. Vor solch einem Absturz blieb auch Roburs Roman-Abenteuer nicht verschont. Vorlage für den „Terror“ war ein Patent von 1876 für ein kohlenwasserstoffbetriebenes Amphibienflugzeug von Alp-honse Pénaud und Paul Gauchot. Literarisch tauchte das Allzweckfahrzeug drei Jahre später bei Moritz von Reymond auf: als Alu-Kautschuk-Yacht mit Knallgas-Antrieb – eine Parodie auf frühere Romane von Verne.


    Überflieger und Bruchlandungen – das entsprach genau dem experimentellen Industriezeitalter. Dazu gehörten auch die Mobilität und das Reisen. Nicht nur Verne startete eine „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ (1864). Schon 1818 hatte der Amerikaner John Cleves Symmes die wissenschaftliche Welt um Hilfe bei der Erkundung des Erdinneren gebeten. Einige Jahre später diskutierten Gelehrte, ob der Erdmittelpunkt nun erkaltet oder glühend sei. Verne greift also gängige Thesen auf. Ganz explizit auch bei den Mondreisen. Dass er hier noch keine Lösungen parat hat und seine drei Helden nicht wissen, wie sie wieder aus der Umlaufbahn des Mondes zurückkommen, sei ihm verziehen. Dazu mussten eben noch 100 Jahre ins Land gehen ...



    FREIA OLIV

    http://www.merkur-online.de/na…a996cc46928b1ae0f26356f39