Der wahre Mittelpunkt der Erde

  • Vor 100 Jahren starb Jules Verne in Amiens. Die Stadt feiert zum Jubiläum vor allem sich selbst
    von Hans Schloemer


    Das öffentliche Schwimmbad heißt "Nautilus", die angesagte Disko "Nemo". Und selbst die Kellner im eher mittelmäßigen Bistro "Jules Verne" benehmen sich mindestens so blasiert wie der Londoner Lebemann und Weltreisende Phileas Fogg: Willkommen in Amiens, dem Zentrum des Jules-Verne-Universums.



    Eine eigenartige Stimmung liegt über der Stadt. Als würden alle auf etwas warten, sich aber nicht sicher sein, ob das Ereignis auch tatsächlich eintrifft. Dabei ist Gedenkjahr, und die Stadtväter meinen, es sei endlich an der Zeit, daß die Welt auch mal auf ihre großartige Metropole in der nordfranzösischen Picardie schaut. Richten soll das unter anderem ein riesiger mechanischer Elefant. Der ist für die Zeit vom 16. bis 19. Juni bestellt, gemeinsam mit über 100 Gauklern.



    Jules Verne hätte am utopischen Straßentheater seine Freude gehabt, daran glauben sie in Amiens ganz fest. Hat er nicht den Cirque municipal, die steinerne Zirkus-Rotunde im Herzen der Stadt, höchstpersönlich eingeweiht? Ja, hat er. Er war für kurze Zeit sogar Kommunalpolitiker. Und blieb Amiens bis ans Lebensende treu. Vor 100 Jahren starb der begnadete Erzähler und unverwüstliche Utopist am Boulevard Longueville im Alter von 77 Jahren an den Folgen einer Diabetes.



    Bedauerlicherweise sieht das Todeshaus heute wirklich ziemlich tot aus. Es ist im Privatbesitz, ungepflegt und abweisend, sämtliche Fenster sind verrammelt. Als es noch Jules Vernes Eigentum war, muß es einladender gewesen sein. Der Schriftsteller hatte ein gutes Auskommen und empfing gern Gäste. Seine Maskenbälle waren gesellschaftliche Anlässe.



    Geboren 1828 in Nantes, ging er mit 20 nach Paris. Dort traf er Alexandre Dumas, den Verfasser von "Die drei Musketiere", verkehrte in Literatenzirkeln. Doch warum schließlich die tiefe Provinz? Aus Liebe! Die Amienser Bürgerstochter Honorine hatte Verne auf der Hochzeit ihrer Schwester kennengelernt. Er heiratete sie, wurde Vater eines Sohnes und schrieb Bücher wie am Fließband: "20 000 Meilen unter dem Meer", "Der Kurier des Zaren", "Die Reise zum Mittelpunkt der Erde". Die heute noch spürbare Unaufgeregtheit von Amiens scheint ein Segen für die Phantasie des Autors gewesen zu sein.



    Bereits zu Lebzeiten galt er als Phänomen, populär wie zu unserer Zeit ein Stephen Spielberg. Man verehrte ihn als den Mann, der die unglaublichsten Abenteuer erfand. Journalisten kamen aus Übersee, um ihn zu interviewen. So wie die hübsche, junge Amerikanerin, die eines Tages vor seiner Haustür in der Rue Charles Dubois Nr. 2 stand, wo Verne 17 Jahre seines Lebens wohnte. Nellie Bly hatte selbst viel zu erzählen. Die Reporterin aus New York war 1889 im zarten Alter von 22 Jahren ganz allein um den Globus gereist - in 72 Tagen. Acht Tage schneller als ihr Vorbild Phileas Fogg, der Held aus "In 80 Tagen um die Welt". Welch ein Wagnis, welch eine Leistung! Jules Verne, ein Rauschebart von 1,65 Meter Körpermaß, zeigte sich beeindruckt, aber nicht sonderlich.



    Ruhm, das war für ihn etwas ständig Greifbares. Seine Romane waren Welterfolge, nicht zuletzt dank der Freundschaft zu dem Pariser Verleger Hetzel, der auch Victor Hugo und George Sand betreute. Von den Honoraren legte sich Jules Verne ein schnittiges Dampfschiff zu, das er in Le Crotoy an der Somme-Bucht vertäute. Der "Saint Michel I." folgten noch zwei weitere Schiffe. Das Meer hatte Jules Verne schon als kleinen Jungen fasziniert. Von Amiens ist das Seestädtchen mit dem nieselgrauen Charme alter Kommissar-Maigret-Filme in einer Autostunde zu erreichen. Ein Besuch lohnt schon allein wegen der vielen guten Muschellokale.


    Der wahre Mittelpunkt der Erde (2)


    Manch einer mag es vielleicht nicht zugeben, aber ist es nicht so, daß uns Jules Vernes phantastische Geschichten noch heute ganz wunderbar über verregnete Sonntagnachmittage hinwegtrösten? Und sei es in einer der unzähligen Verfilmungen. Nicht von ungefähr kam "In 80 Tagen um die Welt" gerade wieder neu in die Kinos.



    Wie visionär der kleine Mann mit dem großen Abenteurerherzen war, zeigt eine Amienser Schau in dem umgebauten Lichtspielhaus "Imaginaire Jules Verne". Die Phantasie des Autors war dem Stand der Technik um Jahrzehnte voraus. Seine Protagonisten bewegten sich in Mondraketen und Unterseebooten. Für Vernes Zeitgenossen waren solche Maschinen pure Science-fiction, kaum vorstellbar, daß so etwas jemals Realität werden könnte. Ihre Reaktion ist vergleichbar mit unserem amüsierten Kopfschütteln, wenn das Raumschiff "Enterprise" mal wieder in Galaxien vordringt, die noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat.



    Letzteres gilt leider auch für die geplante Ausstellung im Jules-Verne-Haus in der Rue Charles Dubois. Niemand weiß plausibel zu erklären, warum die pittoreske Türmchenvilla erst zum Abschluß des Jubiläumsjahres, im Dezember 2005, als neu gestaltetes Museum eröffnet werden kann. Vermutlich haben sich die verantwortlichen Lokalpolitiker bei ihrer Planung ungefähr 20 000 Meilen unter dem Meer aufgehalten. An mangelnder Vorbereitungszeit kann es nicht gelegen haben: Das Haus des Meisters befindet sich seit 1979 in städtischem Besitz.



    Jetzt schon sehenswert ist eine Ausstellung in der Bibliothek von Amiens, die verdeutlicht, wie die Welten des Jules Verne kommerziell ausgeschlachtet und vermarktet wurden. Der Autor hat für all die Kaffeesorten, Spiele und Werbetafeln, die sich mit seinem geistigen Eigentum schmückten, nie Tantiemen verlangt. Lieber genoß der Flaneur aus Leidenschaft bürgerliche Behaglichkeit und durchstreifte mit seinem Hund die Straßen und Gassen.



    Das alte Handwerker-Viertel Saint-Leu, idyllisch zwischen Ausläufern der Somme gelegen, nannte man schon zu Vernes Zeiten "kleines Venedig des Nordens". Restaurants, Cafés und Kunsthandwerk sind in die Fachwerkhäuser gezogen. In Saint-Leu ist Amiens am heitersten.



    Ganz anders präsentiert sich die Rue de la République mit ihren monumentalen Häusern und dem prächtigen Musée de Picardie im Stil des neuen Louvre. Hier ist offensichtlich, daß die Stadt einmal sehr wohlhabend war.



    Das Glück von Amiens hatte die Farbe Blau. Aus den Blüten einer unscheinbaren Pflanze, der Waide, gewann man einen Extrakt zum Einfärben von Textilien. Bereits im 13. Jahrhundert lieferten Amienser Färber bis nach Italien. Der Großteil der Gewinne ist in den Bau der Kathedrale Notre-Dame geflossen, die doppelt so groß ist wie ihre Namensschwester in Paris. Ein Meisterwerk mittelalterlicher Baukunst, in ihrem gewaltigen Innern so licht und scheinbar schwerelos wie kaum eine andere Kathedrale.



    Wer heute vor dem Wunder aus grauem Stein steht, wird es vermutlich kaum glauben mögen: Notre-Dame war einst kunterbunt. Moderne Technik bringt uns wenigstens eine Illusion dieser einstigen Pracht zurück. Dank einer perfekt ausgefeilten Lichtprojektion erstrahlt das Westportal von Juni bis September und zu Weihnachten spätabends in den strahlend leuchtenden Originalfarben. Das ist derart irreal und ganz und gar zauberhaft, als wäre es von Jules Verne ersonnen.



    Artikel erschienen am 3. April 2005



    http://www.wams.de/data/2005/04/03/619800.html