In zehn Minuten reisen wir ab

  • Jules Verne, ironischer Autor, Zahlenerotiker, und die Fiktion des Fortschritts


    Von Gabriele Killert


    Verne ist immer noch einer der meistübersetzten französischen Schriftsteller. Kapitän Nemo, halb fliegender Holländer, halb Rick aus Casablanca; der exzentrische Ballonfahrer Fergusson; Strogoff, der Kurier des Zaren, oder Phileas Fogg, das wandelnde Chronometer – die berühmten Helden der Außergewöhnlichen Reisen sind – nicht zuletzt durch die beinah 200 Verfilmungen – längst als mythische Globetrotter im kollektiven Unbewussten unterwegs.


    Verne gehört zu den Happy few, die vom großen Publikum und von den Lesern mit gehobenem literarischen Anspruch gleichermaßen geschätzt werden. Arno Schmidt oder Roland Barthes und Michel Serres in Frankreich katapultierten den unter Trivialliteratur eingruppierten Erzähler in den Kanon der großen Autoren. Und auch Umberto Eco erkannte schon früh im Leichten die schweren Zeichen.


    Es sind nicht allein die damals noch kühnen technischen Neuheiten – Ballone, Unterseeboote, Flugmaschinen et cetera –, die Verne ja auch nicht erfunden, sondern nur abenteuerlich weitergesponnen hat und die heute, wenn nicht überholt, vielfach erschlossene Realität sind. Es ist der libidinöse Input der Romane, der noch zieht, die immer noch ungebrochenen technologischen Allmachtsfantasien. Warum sollte die entzückende Idee etwa, die schiefe Erdachse durch einen »Super-Über-Riesen-Hyper-Giganten-Schuss« quer durch den Globus wieder zurechtzubeamen, dem männlichen Leser von zwölf nicht mehr aus der Seele sprechen? Und vor dem Problem, mit dem sich der Gunclub zu Baltimore, ein Ensemble geballten Humankapitals aus der Feder Vernes, nach dem Ende des Sezessionskriegs konfrontiert sah, stehen die Weltmächte auch heute noch: Das Pulver der Friedensmission ist verschossen. Aber kann man, will man, ja darf man deshalb eine ruhige Kugel schieben und die Kunst der Ballistik verkümmern lassen? Was lag damals näher, als das Projekt, ein Superprojektil, eine bemannte Kugel, zum Mond zu schießen und sie etliche Romane später just in der Pazifikregion runtergehen zu lassen, wo die Amerikaner hundert Jahre danach ihre Apollo-Kapsel hin manövrierten.


    Jules Verne hat die Welt in 65 Romanen umrundet. Er hat Stürme und Kataklysmen entfacht, um Schiffe havarieren und Ballone abdriften zu lassen zu den Quellen des Nils oder abgelegenen Inseln, auf die noch niemand einen Fuß gesetzt hat. Hat den Kapitän Nemo mit seiner Nautilus 20000 Meilen unter den Meeren den ganzen atlantischen und pazifischen Raum durchmessen lassen. Und das alles mit dem einzigen frommen Ziel und Zweck: kein weißes Fleckchen übrig zu lassen, auf dem der Mensch, Homo Faber, die Krone der Schöpfung, nicht ein Wink-Element des triumphierenden Forschergeistes zu hissen in der Lage war und zur Not fähig, die Zivilisation mit ein paar Nägeln und Schrauben, Hobel, Querbeil und Sextant wieder neu aus dem Staub hervorzuzaubern.


    Ist Jules Verne nicht doch ein lausiger Schriftsteller?


    Bei seinem Hohen Lied auf den technologischen Fortschritt schreckte Verne vor nichts zurück. Große Teile des Abenteuers bestehen für den Leser in der Bewältigung von Formeln, minuziösen Berechnungen und technischen Dossiers – »der Poesie Raum geben« nennt das der Vorsitzende des Gunclubs –, Anstrengungen, die der echte Verne-Leser, auch wenn ihm jedes Technikverständnis abgeht, keinesfalls missen möchte, wegen der »knisternden Erotik« dieser enzyklopädischen Einträge. Der Verne-Enthusiast identifiziert sich mit Professor Aronnax, Spezialist der unterseeischen Tiefen. Der hatte das große Glück, bei der Jagd auf die Nautilus über Bord zu gehen und vom charismatischen Kapitän Nemo in dessen luxuriös möblierter Arche gefangengesetzt zu werden, um bis ans Ende seiner Tage (so muss er annehmen) den »schlichten Rechenexempeln« des Meisters ergriffen lauschen und dabei die Wunder der Tiefsee durchs Panoramafenster betrachten zu dürfen.


    Wem sich der Eros von Zahlenkolonnen, die Poesie von Kolben und Zylindern nicht erschließt, der wird durch die oft satirisch gute Laune in Vernes Reisebüchern entschädigt. Der Literaturwissenschaftler Volker Dehs meint in seiner sympathischen, die Enstehungsbedingungen der Romane gründlich reflektierenden Verne-Biografie, Verne habe die Ironie forciert gleichsam als Schutzschild gegen die Nichtanerkennung als seriöser Autor. Aber offenbar lagen ihm die Distanzspiele der Ironie und das Komische überhaupt. Denn bevor der Dickens-Verehrer in Symbiose mit seinem gestrengen Verleger Hetzel den Roman der Wissenschaft als neues Genre sozusagen am Reißbrett kreierte und selber zum Mr. Pickwick des Zettelkastens wurde, hatte er ja schon ein Dutzend Komödien fürs Boulevardtheater verfasst. Nicht wenige seiner Außergewöhnlichen Reisen sind Wissenschaftssatiren, Schelmenromane nach dem Don-Quichotte-Muster. Dieser notorische Professor, der sich wie vom Dämon gepackt, stante pede ins Abenteuer stürzt mit dem Marschbefehl an seinen verdutzten Diener: Vorwärts, pack einen Reisesack zusammen, in zehn Minuten reisen wir ab!, um dann letztlich doch heroisch zu scheitern. Gotteslästerliche Desperados, die dem Schöpfer ins Handwerk pfuschen, wie Meister Zacharius oder der Konstrukteur des »Fulgurator Roch«, einer Vorform der Atombombe, müssen natürlich wahnsinnig werden oder spektakulär umkommen – das ist sich der honorige Stadtrat von Amiens und Erzieher der Jugend schuldig.


    Aber ist Verne nicht doch ein lausiger Schriftsteller? Und ob. Die grob gezimmerten Dialoge, die hemdsärmelige Typisierung; Naturkatastrophen, die mit der Pünktlichkeit von Silvesterböllerschüssen eintreffen; der korrekte Amtston im allerdramatischsten Augenblick: »Der Tiger ließ von Walter ab und wandte sich Nat Coverly zu« – diese begnadete Grundtrockenheit der Verneschen Darstellungskünste mag die Académie Française bewogen haben, von Verne als Kandidaten abzulassen und sich Alexandre Dumas zuzuwenden. Und doch. Die Trockenheit, die sprachlichen Ausdruckslücken sind paradoxerweise ausdrucksvoll. In ihnen äußert sich unfreiwillig mehr Fortschrittsskepsis und Dämonie als in den didaktisch wirkenden Schauerszenarien. Denn sie symbolisieren als Leerstelle den Gefühlsausfall der forschen Zwangscharaktere, wenn man so will: den Blindflug der Wissenschaft.


    Wie sehr Verne noch – wie sein Kapitän Nemo – ein »entlaufener Romantiker« war, zeigen die wunderbaren Holzstiche von Benett, Riou, Hillebrand, Neuville, die ein integraler Bestandteil seiner anhaltenden Wirkung sind.



    http://www.zeit.de/2005/13/L-Verne