Phantastische Lexikographie

  • 12. November 2005, Neue Zürcher Zeitung






    Phantastische Lexikographie
    Alberto Savinios Vorlieben und Abneigungen, enzyklopädisch



    Von Maike Albath


    Bunte, unförmige Lebewesen mit abstrusen Gliedmassen, bizarre Reptilien, geometrische Körper, die pflanzenartig wuchern, Menschenleiber mit Tierköpfen - von solchen bizarren Erscheinungen wimmelt es auf den Gemälden Alberto Savinios. Diese Geschöpfe spotten jeder Gattungsbestimmung. Savinio besitzt eine gewisse Ähnlichkeit mit ihnen, und zwar nicht in körperlicher Hinsicht, sondern in geistiger. Der 1891 in Athen als Sohn eines italienischen Ingenieurs geborene Schriftsteller, Publizist, Maler, Komponist, Librettist, Regisseur und Bühnenbildner war ein künstlerisches Ungetüm, ein Mann mit unzähligen Begabungen und Interessen, universell gebildet, humorvoll, rastlos. Mit seinem älteren und berühmteren Bruder Giorgio de Chirico bildete er ein berüchtigtes Gespann. Paris war in den 1910er Jahren ihr Parkett. Hier trafen sie auf Gleichgesinnte wie Apollinaire, Jean Cocteau, Max Jacob, Picabia und Picasso; hier brachten sie die Kunstszene in Aufruhr.


    «KOMETENWÖRTER»
    Savinio zählt auch heute noch zu den interessantesten Köpfen der Zwischenkriegszeit. Inmitten euphorischer Gruppenbildungen liess er sich zwar von allen inspirieren, aber blieb doch ein standhafter Einzelgänger. Den besten Beweis für sein originelles Multitalent liefert jetzt die wunderbar edierte deutsche Ausgabe von «Mein privates Lexikon»: eine Enzyklopädie für den persönlichen Gebrauch mit Einträgen zu allen erdenklichen Phänomenen von «Amöbe» über «Hass auf Literaten» bis zu «Kometenwörter», «Naphthalin», «Sprechen, vornehmes», «Trinkerathletentum» und «Ziborium». Er sei so unzufrieden mit den vorhandenen Nachschlagewerken, begründet der Schriftsteller sein Unterfangen, dass er es vorgezogen habe, ein eigenes Lexikon zu verfassen. Sein Missmut ist unser Glück; ein grösseres Vergnügen, als in den tiefsinnigen Plaudereien Savinios zu versinken, gibt es kaum.


    Ein Teil der Texte entstand in den vierziger Jahren für die von seinem Freund Massimo Bontempelli geleitete Architekturzeitschrift «Domus», die sich die geistige Erneuerung Italiens auf die Fahnen geschrieben hatte und bewusst an Futurismus und Surrealismus anknüpfte. In Italien war die Avantgarde unter der Ägide der Faschisten sogar befördert worden; äusserst geschickt band Mussolini junge Künstler in die offizielle Kultur ein, eröffnete ihnen breite Wirkungsmöglichkeiten und betrieb eine Ästhetisierung seiner Politik. Auch der Schriftsteller Bontempelli, ein Vertreter des magischen Realismus, war wie viele italienische Intellektuelle eine Zeit lang Mitglied der faschistischen Partei gewesen, bis er 1938 ausgeschlossen wurde. Sein prächtiges Magazin stellte eines jener schillernden Randgebiete dar, wo man eine urbane Ästhetik kultivierte und unter der Hand unangepasste Autoren zu Wort kommen liess. Alberto Savinio fand hier ein Forum für sein Lexikonprojekt.


    Um sich und seine Familie über Wasser halten zu können, hatte sich Savinio unter Mussolini von der Malerei auf journalistische Lohnarbeit verlagert und einen frenetischen Produktionsrhythmus entwickelt. Neben Feuilletons, Reisereportagen, Theaterkritiken und Filmkritiken entstanden scheinbar nebenbei seine grossen erzählerischen Werke «Achille innamorato» (1938), «Dico a te, Clio» (1939) und «Infanzia di Nivasio Dolcemare» (1939). Ende der dreissiger Jahre ging er offen in Opposition - im Januar 1939 führte ein Auszug aus «Mein privates Lexikon» in der Zeitschrift «Omnibus» zu deren Verbot; wegen regimekritischer Zeitungsartikel landete Savinio auf der berüchtigten schwarzen Liste antifaschistischer Intellektueller, geriet in Lebensgefahr und tauchte 1943/44 bei einem Cousin auf dem Land unter.


    DENKEN IM KARUSSELL
    Der sprachversessene Kosmopolit und Begründer der poesia metafisica arbeitet nach dem Prinzip der freien Assoziation: Er springt hin und her, verknüpft die entlegensten Erscheinungen und fesselt durch seine Kunst der gekonnten Abschweifung. Jede Form von Dogmatismus ist ihm zuwider, stattdessen propagiert er eine Art kreativer Zweideutigkeit. Die «absolute Wahrheit, die einzige Richtung, die ausschliessliche Bedeutung sind die Feinde des Menschen», heisst es unter dem Stichwort «Karussell».


    Den Eintrag «Karussell» zum Beispiel beginnt er mit der Konsultation mehrerer Wörterbücher, um dann über das Wesen der Wahrheit im Allgemeinen zu philosophieren. Ein Druckfehler, der ihm während des Schreibens mit Schreibmaschine unterläuft, provoziert ihn zu Interpretationen, und der Schreibmaschine als einer unbewusst mitlaufenden Stimme wird am Ende Recht gegeben. Dann kommt Savinio wieder auf das Karussell und die Form des Kreises zurück, versorgt uns mit zahlreichen anthropologischen, literaturgeschichtlichen und privaten Erläuterungen und zieht ein Fazit. Nach einer kürzlich unternommenen Karussellfahrt in der Villa Borghese weiss er genau: Der Mensch muss die Rotation fliehen und der Verführung des Kreises widerstehen, er darf niemals zurückgehen und schon gar nicht in eine bequeme Mechanik verfallen.


    Immer wieder bläst Savinio zum Angriff gegen Erstarrung. Auch der sprachliche Purismus, wie er von Manzoni bis zu D'Annunzio gepredigt wurde, ist ihm ein Dorn im Auge. Denn schliesslich ist Sprache etwas Lebendiges, das den Anforderungen des Alltags genügen muss. Eine subtile Sprachkritik des Faschismus fliesst in seine Überlegungen mit ein: Savinio legt die Absurdität der pompösen superuomo-Rhetorik dar. Vor allem D'Annunzio mit seiner pseudoarchaischen Metaphorik bekommt mehrfach eins übergebraten. Savinios Sprachkritik überzeugt auch deshalb, weil er selbst ein wunderbares Italienisch schreibt, dessen schwebende Tonlage auch in der Übersetzung erhalten geblieben ist. Die Sätze fliessen leicht dahin, beiläufige Eleganz und eine feinsinnige Ironie bestimmen seinen Stil.


    JULES VERNE
    Kein Wunder also, dass dieser Mann Gefallen an einer Figur wie Jules Verne fand und ihm eines seiner unverwechselbaren grotesken Porträts widmete. «Jules Verne» lautet der Titel des schön aufgemachten Heftes der Friedenauer Presse, ebenso wie «Mein privates Lexikon» in bewundernswerter Sorgfalt von Richard Schroetter mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen. Auch hier nähert sich Savinio dem Gegenstand seines Essays über einen kuriosen Umweg. Bei einem Pariser Abendessen im Hause eines Justizbeamten, wo ihm angesichts der Steifheit ein Fauxpas nach dem anderen unterläuft, macht er die Bekanntschaft eines freundlichen Herrn, der das absurdeste Hemd aller Zeiten trägt: «wahrem Grabsteinmarmor gleich» und mit einem reliefartigen Blumenmuster versehen. Es handele sich um ein Erbstück seines Onkels, teilt ihm der nette Gast mit, der hemdensüchtig gewesen sei. Noch interessanter als diese Manie ist der Name des Onkels: Jules Verne. Savinio, aufgewachsen mit den Abenteuerromanen des französischen Romanciers, nimmt diese Begegnung zum Auslöser für einen biografischen Abriss. Er gehört nicht zu jenen, die angesichts ihrer Idole in heiliger Ehrfurcht erstarren. Im Gegenteil.


    Mit liebevollem Witz macht er sich über Vernes Eigenarten her und fertigt eine gleichermassen tiefsinnige wie komische Skizze seines Werdegangs an. Von den Anfängen als Schmierenkomödiant, der braven Bürgerlichkeit, der Passion für Reisen in ferne Weltgegenden bis zur Neigung, die Nähe von Frau und Kindern panisch abzuwehren, lernen wir das «Genie mit einem Sinn fürs Praktische» neu kennen. Für Savinio ist Verne ein Giuseppe Verdi der Geographie. Und für uns ist Savinio ein Kolumbus der Enzyklopädie.


    Alberto Savinio: Mein privates Lexikon. Zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Richard Schroetter. Aus dem Italienischen von Christine Wolter und Karin Fleischanderl. Die andere Bibliothek, Eichborn-Verlag, Frankfurt am Main 2005. 360 S., Fr. 62.-.


    Ders.: Jules Verne. Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Friedenauer Presse, Berlin 2005. 32 S., Fr. 17.90.


    http://www.nzz.ch/2005/11/12/li/articleCS8G4.html