Freundliche Übernahme der Lesetage: Alles bleibt anders
Vattenfalls erstes Hamburger Literaturprogramm
Der Kugelschreiber, den wir bei der Pressekonferenz zu den diesjährigen Lesetagen geschenkt bekamen, war orange und nicht, wie gehabt, blau. Klar, die HEW heißen jetzt Vattenfall, darum sieht auch das Programm der 8. Vattenfall Lesetage äußerlich fast so aus, wie vorher, nur herrscht im Design die Farbe Orange vor. Alles bleibt anders bei dem Festival, das von 19. bis zum 26. April die im weitesten Sinne Literaturszene nach Hamburg bringt. Wir kriegen, was wir kennen: Nach wie vor wird an ungewöhnlichen und gewöhnlichen Orten gelesen, nach wie vor setzt man auf inhaltliche Ausgewogenheit zwischen Anspruch und Popularität, auf die Mischung zwischen gehypten Literaten wie Daniel Kehlmann ("Die Vermessung der Welt") oder Arne Dahl und weniger bekannten Schreibern, darunter (damit wurde der großen Nachfrage entsprochen) auch "Hamburgensien". Wieder werden die eigenen Rekorde übertroffen - 193 mitwirkende Autoren, Politiker, Journalisten, Schauspieler, 137 Veranstaltungen, 96 Orte - und wieder kommen auch die Kinder kein bißchen zu kurz.
Mit dem orangenen Kuli notieren wir aber auch die Neuerungen: im Kinderprogramm stehen nicht mehr die üblichen Verdächtigen, vielmehr wurden viele neue Leute eingeladen, darunter etwa Isabel Abedi, Autorin von "Whisper". Auch Schweden ist jetzt über den obligatorischen Krimi hinaus ganz zeitlos in Hamburg vertreten: mehrfach liest die Schauspielerin Kira Primke aus Klassikern von Astrid Lindgren. Die Lesungen für Erwachsene sind vom sich allzeit wandelnden Geist der Zeiten inspiriert, das ist ein zwar alter, aber doch recht fescher Hut bei den Lesetagen, die umgefärbten Tragkräfte heißen in diesem Jahr: Umbruch, neue Welten, vom Deutschlandbild zur Internationalität.
Das Fehlen wirklich guter Liebesprosa aus Deutschland hat Programmchefin Barbara Heine mit der Reihe "Liebe international" geschickt ausgeglichen - die Liebesboten des Auslandes sind zum Beispiel David Foenkinos ("Das erotische Potential meiner Frau"), Justine Lévy ("Nicht so tragisch"), Vesna Goldsworthy ("Heimweh nach Nirgendwo") und Aron Grünberg ("Gnadenfrist").
Den Umbrüchen in der Gesellschaft stellen sich die Lesetage mutig, blicken dabei in die Vergangenheit, aus der wir möglichst lernen und in die Zukunft, die wir eifrig gestalten sollen: Ingo Schulze liest aus seinem DDR-Roman "Neue Leben", es gibt eine Jules-Verne-Performance mit Texten, eine Futuristen-Runde mit Michal Hvorecky und Martin Amanshauser sowie den "Abend der Neuanfänge". Unentdeckte Welten der Gegenwart nimmt das Programm mit einem neuen Genre auf. Zwar existiert (noch) keine eigentliche Lyrik-Reihe, "eine richtige Kracher-Nacht zum Thema Lyrik" (Heine) ist aber doch zu erwarten: Lavinia Greenlwa, Raphael Urweider, Silke Scheuermann und Marcel Beyer mischen sinnliche Poesie unter Jazzklänge. Und noch eine weitere unerklärliche, doch spätestens in diesem Jahr tunlichst zu erforschende Welt lauert uns während der Lesetage auf. Denn Literaturhauschef Rainer Moritz liest in der AOL-Arena aus seinem fußballtheoretischen Buch, wagt eine Erklärung, die selten gelang: die der Abseits-Regel. jp
Artikel erschienen am Di, 14. März 2006