Gedanken zur ZukunftNeue Technik

  • Wer glaubt an solche Phantastereien?, fragte vor 140 Jahren ein Pariser Buchverleger: Vollautomatische Straßenbahn, Computer, Konservierungsmittel und verpestete Luft in den Städten.

    Von Paul-Josef Raue


    Autos, die mit Gas angetrieben werden, und elektrische Straßenbeleuchtung – solchen Unsinn werde er nicht drucken, entschied der Verleger Hetzel. Der Dichter dieses Unsinns war Jules Verne, der wie kein anderer die Zukunft in vielen Details vorhersagte.


    Der Dichter erfand in seinen Romanen, die bald Bestseller wurden, Hubschrauber und U-Boote, Fax und Neutronenbomben, und er ahnte, dass der Triumph der Technik dem Geist und der Kultur des Menschen reichlich Schaden zufügen kann.


    Der Dichter, der die Mondlandung prophezeite, hatte ein Erfolgsrezept: Einen kleinen Kasten mit 20 000 Zetteln, auf denen er sich die wichtigsten Einfälle notierte – wie eine Vorwegnahme der Internet-Suchmaschinen.


    Jules Verne hätte es heute, anderthalb Jahrhunderte später, ungleich schwerer, in die Zukunft zu schauen. Wir können uns fast alles vorstellen, wir trauen der Technik alles zu und vertrauen uns den Forschern an, als würden sie wie Gott in grauer Vorzeit die Welt erst so richtig erschaffen.


    Diese Lust auf Zukunft ist allemal nützlicher als die Technikfeindlichkeit, die noch vor kurzem die Debatte unserer Gesellschaft bestimmte. Die Folgen tragen wir alle: Exzellente Forscher wandern aus, viele große, mutige Experimente, die das Neue schaffen, finden woanders statt.


    Die deutschen Forscher, die geblieben sind, warnen vor dem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit, etwa der Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft, der Top-Adresse der deutschen Forschung. Das heißt: Wir verschlafen die Zukunft, wir erobern keine neuen Märkte mehr und schaffen keine Arbeitsplätze.


    Junge Leute lieben den "iPod", ein kleines Hör-Gerät, auf dem man Hunderte von Musiktiteln speichern kann. Der "iPod" ist ein Kultobjekt aus Amerika, das die Welt erobert.


    Diese Technik, viel Musik auf kleinstem Raum zu speichern, ist in Deutschland erfunden worden: MP3. Das Fraunhofer-Institut feilt am MP4 und wird künftig eine komplette riesige CD-Sammlung in bester Qualität auf einem Fingernagel versammeln.


    Das Fernsehen auf dem Handy, zur Weltmeisterschaft einsatzbereit, ist ebenso eine deutsche Erfindung wie es die intelligente Stereoanlage sein wird, die zuhört, wie man "99 Luftballons" summt, um dann Nenas Lied auf den Lautsprecher zu schicken.


    Spielen wir ein wenig Jules Verne und beschriften unsere Notizzettel mit Forschungen der deutschen Fraunhofer-Labore:


    Das federleichte Auto. Stahl ist schwer, Magnesium ist leicht. Um eine Auto- oder Flugzeug-Tür mit einer Hand hochheben zu können, muss man sie mit leichten, dennoch sicheren Werkstoffen bauen, etwa Magnesium. Das senkt nebenbei auch den Benzinverbrauch. Ferdinand Piëch ist schon einmal mit einem Magnesium-Ein-Liter-Auto von Wolfsburg nach Hamburg gefahren.


    Der Krankenpflege-Roboter. Millionen Nutzer von Videorekordern wären glücklich, wenn sie nie mehr Knöpfe drücken und Bedienungsanleitungen lesen müssten. Kann man einen Rekorder auf Zuruf programmieren, ist auch der freundliche Krankenpflege-Roboter nicht mehr weit, der auf ein Stirnrunzeln oder ein leises Wehklagen reagiert.


    Plastiktüte aus Milchsäure. Die Forscher nennen es "weiße Biotechnik", gemeint sind Rohstoffe, die auf unseren Feldern wachsen und die wir als Bio-Kunststoffe für Tüten, Autos oder Hemden nutzen können – schön preiswert, umweltschonend.


    Das Internet der Dinge. Bald werden Koffer und Pakete ebenso wie E-Mails ihr Ziel selbständig erreichen, wenn wir ihren Absender korrekt auf einem Chip angeben. Und vielleicht findet der kaputte Rasierer am Ende seines Daseins auch selber seinen Weg ins Recycling-Center.


    Wir könnten Hunderte von Notiz-Zettel füllen, die Stoff für viele Romane geben:


    Wie der Feuerwehr-Chef erfährt, dass einem Feuerwehrmann in 30 Sekunden die Luft ausgeht und dass er im brennenden Haus neben der Küchentür zusammenbricht.


    Wie man einen Selbstmord-Attentäter entdeckt und seinen Standort sekundenschnell feststellt.


    Im Kontrast zu diesem Forschungs-Feuerwerk stehen die Berichte über die Menschen, denen wir Lust auf Zukunft machen sollen:


    Wir haben immer weniger Kinder, aber immer mehr Gewalt an Schulen; deutsche Schüler sind im internationalen Vergleich schwach, wenn es um Wissen und um den Umgang mit dem Wissen geht; viele Kinder können kaum lesen, aber sind süchtig auf Computerspiele und verschulden sich mit ihrem Handy; wir lassen eine Zwei-klassen-Gesellschaft zu, in der viele nicht von der Computer-Welt profitieren.


    Vor allem haben wir eine alte Kultur-Technik vernachlässigt, ohne die kein Informatiker, kein Internet-Nutzer Spitzenleistungen bringen kann: Lesen (und schreiben).


    Deutsche Forscher entwickeln eine papierlose Zeitung; das ist eine Klarsichtfolie, auf die man eine Zeitung oder ein Buch laden kann. Nur – was nutzt es uns, wenn immer weniger junge Leute Lust aufs Lesen haben. Und: Wie bekommt man Lust auf Zukunft ohne Lust aufs Lesen?

    Samstag, 08.04.2006


    http://www.newsclick.de/index.…nuid/472071/artid/5283048