Lea empfiehlt ihren Mitschülern „Karlchen Duckdich“: „ein gutes und lustiges Buch“
(Von Sylvia Parton) • „Bücher sind das Tor zur Welt“: Wer Alfred Wellms Karlchen Duckdich auf seinem Weg durch die neue und so fremde Stadt begleitet, reist zugleich in eine Welt voller kindlicher Neugier, Fantasie und Sehnsüchte. Das Buch „Karlchen Duckdich“ aus unserer Klassiker-Edition hat auch 30 Jahre nach Erscheinen nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Für Karlchen Duckdich und seine Schwester Kristina gibt es einen Tag, da fängt alles neu an: die neue Wohnung, die fremden Straßen, die unbekannte Stadt, in der die Häuser so eng beieinander stehen, „dass man nicht einen Finger zwischen sie stecken könnte“.
Dafür hat aber jedes Haus einen Laden und viele Schaufenster. Doch wo sind die Hühner, die Gänse? Und es gibt auch keinen Fluss, „in dem man waten und die Schlammpeitzker greifen kann“. Dafür aber einen Fahrstuhl im Haus: „eine kleine Stube“, die die Kinder anstatt in den 18. Stock in verzaubertes Land und märchenhafte Ferne entführt. Weitweg von Straßenlärm und dem frechen Nachbarsjungen Humba Humba.
Doch abends, wenn „die Wunderstube“ die beiden längst wieder zur Erde zurückgebracht hat, kommt die Einsamkeit. Und die Erinnerung an Groß-Vierfelde. Jenes Dorf, in dem Karlchen jeden Zaunspfahl kennt, sich die Menschen freundlich grüßen und Großmutter Zumka lebt. Und er kann nicht begreifen, dass er dort nun nicht mehr wohnt.
Die Geschichte, die die neunjährige Lea ihren Mitschülern der Schweriner Nils-Stensen-Schule im Deutschunterricht vorstellt, hören die Kinder zum ersten Mal. Wie sich Karlchen Duckdich, der Protagonist in Alfred Wellms (1927-2001) gleichnamigem Kinderbuch-Klassiker, in der fremden Umgebung fühlt, können viele der Viertklässler jedoch sehr gut nachvollziehen. „Als wir von der Stadt aufs Dorf gezogen sind, musste ich mir auch neue Freunde suchen“, sagt Thea. „Das war am Ende aber gar nicht so schwer.“ Dem pflichtet Friederike, die in diesem Schuljahr neu in die Klasse kam, sofort bei. Wenn Heinrich seinen Freund in Schwerin besucht, dann fallen ihm sofort die vielen Autos und Geräusche auf. „Das bin ich nicht gewohnt.“
Die Anregung für sein erstmals 1977 erschienenes Buch fand Alfred Wellm in Jerome David Salingers Roman „Der Fänger im Roggen“. Kinder und Jugendliche zu schützen vor Einsamkeit und seelischer Not, das war es, was den mehrfach preisgekrönten Autor inspiriert hat. Schon damals fürchtete er, was heute aktueller ist denn je: dass Kinder auf der Strecke bleiben, während die Eltern im rasanten Entwicklungslauf der Gesellschaft von der Anstrengung, Schritt halten zu müssen, aufgefressen werden.
Darüber musste sich Lea bei ihrer ersten Buchvorstellung jedoch keine Gedanken machen. Sie empfiehlt ihren Mitschülern das Buch, weil es „gut und lustig“ ist. Am besten gefällt ihr, wie sich Karlchen um seine Schwester Kristina kümmert.
Auch wenn sie vor ihrem Auftritt vor der Klasse aufgeregt war, eine echte Herausforderung sei der 64 Seiten umfassende vierte Band der Edition „Unsere Kinderbuch-Klassiker“ nicht gewesen. Schließlich stehen in ihrem Bücherregal noch viel dickere Bücher, insbesondere Pferdegeschichten und Krimis. „Außerdem sind viele Bilder drin“ – gezeichnet von Werner Klemke (1917-1994), jenem international anerkannten Künstler, dessen Handschrift auch die Fibel, die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm, Romane von Jules Verne, die Frösi, die Titelseite der DDR-Monatszeitschrift „Das Magazin“ sowie das Dekameron, die Canterbury Tales und andere Klassiker der Weltliteratur tragen.
Mögen die Viertklässler umfangreiche Illustrationen in Büchern oder ist das etwas für kleine Kinder? „Ohne Bilder kann ich meine eigene Phantasie besser spielen lassen“, findet Sarah. „Aber mit Bildern sieht man gleich, wie sich der Autor die Figur vorstellt“, entgegnet Vincent. Und schon ist eine Diskussion im Gange, die die letzte Unterrichtsstunde vor den Ferien wie im Fluge vergehen ließ.
