Nantes: Quietschente weckt Dornröschen

  • Von Martin Wittmann


    28. März 2007
    Ernst ist der Blick, mit dem Anne de Bretagne ihr Schloss betrachtet, viel zu ernst. Als Bronzestatue wacht sie, vor den Toren stehend, über ihr ehemaliges Anwesen. Schön und anmutig lässt sie der Bildhauer Jean Fréour aussehen, er ist um einiges wohlwollender als die Maler, die sie zu Lebzeiten porträtierten. Damals, im Mittelalter, residierte im Château des ducs de Bretagne Annes mächtige Familie, doch danach verschwand der Glanz für lange Zeit aus Nantes. Erst seit kurzem ist die Stadt wieder so attraktiv, dass die Herzogin allen Grund zum Lächeln hätte.


    Nantes erlebt zurzeit eine erstaunliche Metamorphose. Früher abschätzig „die schlafende Stadt“ genannt, wird sie heute in Frankreich für ihre Frische und Energie gerühmt. Der Kuss, mit dem die Stadtväter ihre Heimat aus dem Dornröschenschlaf weckten, war die Kultur. Durch geschickte Politik und immense Investitionen haben sie Nantes einen neuen Ruf verschafft, der künftig auch im Ausland wahrgenommen werden soll. Denn als Touristenort war die Stadt bislang aus gutem Grund unbekannt: zu schmucklos, zu schlicht, zu bieder.


    Die architektonische Tristesse ist allerdings nicht aus dem Stadtbild verschwunden, das unansehnliche Hochhaus Tour de Bretagne ragt noch immer im Zentrum als Mahnmal für die industrielle Erblast der Stadt gen Himmel. Die meisten Einwohner arbeiteten früher im Hafen oder in der Butterkeksfabrik LU. Heute ist Airbus mit zweitausend Beschäftigten einer der größten Arbeitgeber, dessen Fabrik in einem Vorort steht. Auch LU ist an den Rand der Stadt abgewandert und hat Platz für neues Leben im Zentrum gemacht.



    Die Voraussetzungen von Nantes sind also nicht schlecht: Arbeit gibt es genug, mit dem TGV erreicht man Paris in zwei Stunden, der Atlantik liegt praktisch vor der Tür. So ist es kein Wunder, dass zwischen 1990 und 2000 die Bevölkerung um ein Zehntel wuchs. Und Nantes ist eine junge Stadt: Fast zwei Drittel der Einwohner sind jünger als vierzig Jahre. Tagsüber sieht man viele Familien durch die Innenstadt spazieren, zu späterer Stunde werden die Gassen von Nachtschwärmern bevölkert. Vergangen scheint die Zeit der Depression.



    Die Idee von Nantes ist so bekannt wie bewährt



    Dem Zuzug der Franzosen soll nun der Ansturm der Touristen folgen. Die Idee von Nantes, mit dem Pfund der Kultur zu wuchern, ist so bekannt wie bewährt. Bilbao hat es erfolgreich mit dem Museo Guggenheim vorgemacht, Abu Dhabi wird hundertneunzig Millionen Euro für Kunstleihgaben unter anderem aus dem Louvre zahlen, und Schanghai plant eine Centre-Pompidou-Filiale. Nantes kann sich den Import von renommierten Ausstellungen allerdings nicht leisten und schafft sich deswegen seine eigenen Kunstwerke. Herz und Hirn dieser Umwandlung ist das Fabrikgebäude von LU, das vor sechs Jahren zum Kulturzentrum „Lieu Unique“ umfunktioniert wurde.



    Es wird von Jean Blaise geleitet, dessen Erscheinung dem Bild des idealtypischen Kreativen perfekt entspricht: Blaise, der Initiator der „Nuit Blanche“, einer Kulturnacht, die in Paris zum ersten Mal stattfand und seither in der ganzen Welt ihre Ableger hat, sitzt ganz in Schwarz gekleidet mit einer schicken, etwas zersaustem Frisur und einer dickgerahmten Brille an seinem Holztisch, während seine Mitarbeiter teils auf dem Boden liegend über Entwürfen brüten. Wüsste man nicht um die anstehenden Projekte, die hier koordiniert werden müssen, könnte man das Ganze mit seiner kreativen Leichtigkeit für inszeniert halten.



    Große Kunst entlang der Loire im Sommer



    Das große Vorhaben für den Sommer heißt „Estuaire“. Entlang der Loire zwischen Nantes und Saint-Nazaire werden dreißig Künstler ihre Werke zeigen: Ein Haus wird schräg im Fluss nachgebaut, so dass es zu versinken scheint; auf den Schornsteinen eines ehemaligen Kraftwerks wird eine Wolkenskulptur zu sehen sein; eine fünfundzwanzig Meter hohe Quietschente wird auf dem Fluss schwimmen; und besichtigt wird die sechzig Kilometer lange Freiluftausstellung an Bord eines Schiffs, das selbst ein Kunstobjekt ist. Denn die Außenwände des Boots sind komplett verspiegelt, die Werke werden dadurch effektvoll reflektiert. Ohne das Ergebnis der „Estuaire“ abzuwarten, ist für 2009 und 2011 bereits Ähnliches vorgesehen. Die wiederkehrende Freiluftausstellung soll als langfristige Institution den Ruf Nantes' als Stadt der Kultur festigen.



    Zeitgleich mit „Estuaire“ starten François Delarozière und Pierre Oréfice ein anderes, nicht minder ambitioniertes Projekt. Von Juni an wird es in Nantes mit den „machines de l'île“ einen Kunst- und Freizeitpark auf der ehemaligen Hafeninsel geben. Ein hydraulisch angetriebener, zwölf Meter hoher und vierzig Tonnen schwerer Elefant mit Stahlskelett und einer Haut aus amerikanischem Tulpenbaumholz wird dort seine Kreise ziehen. Fünfunddreißig Personen werden im Innern des Tieres sitzen, das aus einem Roman von Jules Verne, dem berühmtesten Sohn der Stadt, stammen könnte.



    Insel soll sich endgültig von Vergangenheit lösen



    Als vor zwei Jahren der einhundertste Todestag des Schriftstellers gefeiert wurde, lief schon einmal ein künstlicher Elefant durch die Straßen von Nantes, gelenkt von der Straßentheatertruppe Royal de Luxe. Noch heute kommen die Nantaiser ins Schwärmen, wenn sie auf den Umzug mit dem Tier angesprochen werden. Diese Begeisterung ist der Grund für die Erschaffung des neuen Riesenelefanten.



    Als weitere Maschinen sind ein „Karussell der Meereswelten“ und ein achthundert Tonnen schwerer „Baum der Vögel“ geplant, auf dessen Ästen man spazieren gehen kann. Mit der Verwirklichung dieser Vorhaben soll sich die Insel in der Loire endgültig von ihrer Vergangenheit als Hafen lösen. Die letzten Werften wurden dort 1978 geschlossen, heute erinnert nur noch ein riesiger gelber Kran an die alten Zeiten. Aufrecht stemmt sich das unter Denkmalschutz stehende Ungetüm gegen den peitschenden Regen und den scharfen Wind, der oft durch die Stadt pfeift.



    Wichtiger Stützpunkt für berüchtigten Dreieckshandel



    „Il pleut sur Nantes“, sang die Chansonière Barbara einst, und für ihren Regen ist die Stadt tatsächlich berühmt. Dafür können sich die Nantaiser über ihr mildes Klima freuen. Es lässt Magnolien und Kamelien gedeihen, die Anfang des achtzehnten Jahrhunderts von den Ufern des Mississippi in das Delta der Loire gebracht wurden. So stolz diese Exoten vorgezeigt werden, so ausdrücklich wird auf eine andere damalige Fracht aufmerksam gemacht, die den Ruhm von Nantes keineswegs mehrte: Zwischen 1715 und 1775 wurden hier 787 Sklavenverschiffungen registriert, was der Hälfte des gesamten französischen Handels entsprach.



    Der berüchtigte Dreieckshandel zwischen Europa, Afrika und Amerika fand im „goldenen Jahrhundert“ der Stadt einen seiner wichtigsten Stützpunkte an der französischen Atlantikküste. Mit den afrikanischen Stammesfürsten, die als „roitelets“, Königlein, verspottet wurden, tauschten Seefahrer aus Nantes minderwertige Waren wie bunte Bänder, falsches Kristall und kleine Spiegel gegen Sklaven.



    Stadtmuseum thematisiert Sklavenhandel offensiv



    Der Dichter Desforges Maillard beschrieb die Zustände im achtzehnten Jahrhundert so: „Von zweierlei Farben sind die Menschen in der Stadt, Weiße und Schwarze. Man sieht eine beträchtliche Anzahl Neger, die durch die Straßen streichen. Jeder reichen Dame folgt ein Neger oder auch mehrere.“ Nicht verwunderlich war es, dass der „Code Noir“, der damals die Sklaven vor Willkür schützen sollte, in Nantes wenig Beachtung fand. Als 1815 der Sklavenhandel auf dem Wiener Kongress geächtet wurde, hielt das die Nantaiser nur kurzfristig von ihren Geschäften ab.



    Noch bis zum Zweiten Weltkrieg war es in gutsituierten Familien üblich, schwarze Dienerschaft zu beschäftigen. Heute thematisiert das kürzlich eröffnete Stadtmuseum im Château des ducs de Bretagne die Zeit des Sklavenhandels offensiv. Mit dem Entsetzen über die unmenschlichen Zustände, die auf den Schiffen herrschten, mischt sich beim Besucher unweigerlich Bewunderung für die multimediale Präsentation, mit der das Museum seine pädagogische Pflicht erfüllt.



    Mit einem Augenzwinkern vom Künstler selbst



    Dort, wo heute die Geschichte der Stadt dokumentiert wird, hatten einst die Herzöge der Bretagne ihr Zuhause. Im fünfzehnten Jahrhundert ließ Annes Vater Franz II. das Château des ducs erbauen, später residierte Anne selbst als Herzogin der Bretagne dort. War das Schloss ursprünglich als Schutz vor den königlichen Truppen gedacht, so gelang es nach dem Tod von Franz II. gleich zwei Monarchen, dort einzuziehen: Karl VIII. und später Ludwig XII., die beide Anne zu ihrer Frau und damit zur Königin von Frankreich machten.



    In den alten Gemäuern ist jetzt Interaktivität das bestimmende Merkmal. Der Museumsbesucher verliert sich in elektronischen Landkarten und virtuellen Stadtrundgängen. Höhepunkte sind die Filme zu Beginn und am Ende des Rundgangs, eine kreative Geschichtsstunde, die leider nur wenige Minuten dauert. Verabschiedet wird man von einem Film des Videokünstlers Pierrick Sorin. Er zeigt unzählige Boote, die sich auf der Loire begegnen und deren Insassen wichtige Figuren der Stadtgeschichte sind - allesamt mit einem Augenzwinkern vom Künstler selbst dargestellt.



    Kohlensäure als Markenzeichen des Muscadet



    Man macht aber auch Bekanntschaft mit Fans des FC Nantes, der schon achtmal die nationale Meisterschaft gewinnen konnte, mit Verkäufern von Konserven, für deren Produktion die Stadt bekannt ist, oder mit Musikern des Festivals „La Folle Journée“, das jährlich mehr als hunderttausend Besucher anzieht - eine beeindruckende Zahl angesichts von 280.000 Nantaisern.



    Wem das Festival zu überlaufen ist, der wird im Umland Ruhe finden. Im Süden der Stadt baut man den berühmten Weißwein Muscadet sur lie an, einen fruchtigen und zugleich kräftigen Wein, der seinen speziellen moussierenden Charakter einem Zufall verdankt: Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hielten die Winzer ein Fass für Familienfeste zurück. Durch den verlängerten Gärungsprozess bildete sich Kohlensäure, die heute das Markenzeichen des überaus populären Muscadet ist. Er ist nicht mehr das Einzige in Nantes, was prickelt.


    Das neue Nantes


    Anreise: Ryanair (www.ryanair.com) fliegt dienstags, donnerstags und samstags von Frankfurt/Hahn nach Nantes und wieder zurück. Hin- und Rückflug kosten ab 35 Euro.


    Information: Office de tourisme de Nantes, BP 64106, F-44041 Nantes, Telefon: 0033/ 892/464044, Internet: www.nantes-tourisme.com; Maison de la France, Zeppelinallee 37, 60325 Frankfurt, Telefon: 0900/15700 25, Internet: www.franceguide.com




    Text: F.A.Z., 29.03.2007, Nr. 75 / Seite R3
    Bildmaterial: Karte, picture-alliance/ dpa


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