Einzigartige Stimme von "Madame SNCF"

  • Radioschönheit begleitet die Franzosen an Bahnhöfen durchs Leben / Kleines Pariser Feuilleton


    Vom 16.06.2007

    Von


    Michael Hochschild


    Wenn in Frankreichs Bahnhöfen die Ansagen erklingen, verlieben sich vom Fleck weg große wie kleine Jungs, Menschen aus Nord und Süd in die weiche, einfühlsame und immerzu höflich auffordernde Stimme Frankreichs seit ihrer Erfindung in den 80er Jahren. Damals wechselte die betreffende Radioschönheit "Madame S." zur Bahn, und es begann eine französische Karriere beinahe vom Ausmaß einer Edith Piaf - nur ohne Chansons, dafür aber mit um so mehr nützlichen Reiseinformationen in einem Land, in dem man Nützlichkeit erst adeln muss, damit sie wertvoll wird. Beispielsweise über die unverkennbare Sprachmelodie, den Klang einer bestimmten Stimme. Diese gehört zwar Simone Hérault, aber sie ist öffentliches Eigentum Frankreichs, genauer gesagt: der SNCF - der französischen Staatsbahn, die wie kaum ein anderes Unternehmen in Frankreich Privilegien genießt; darunter diese einzigartige Stimme. Auf jedem Bahnhof stammen alle Ansagen seit über 20 Jahren von "Simone". Sie begleitet die Franzosen durchs ganze Land, sogar durch die Zeit und hat es inzwischen als Exportschlager an den Brüsseler Flughafen und darüber hinaus nach Kairo geschafft.


    Früher waren es in Frankreich wie noch heute in Deutschland die Bahnbediensteten, die mit eigener Stimme Ansagen machten, Erst als die Staatsbahn ihr öffentliches Image aufbessern wollte, ging man auf die Suche nach einer Stimme, die die sonore Identität des Unternehmens repräsentiert, die ausnahmsweise in Paris nicht schöner klingt als auf dem Land, die der Bahn einen hohen Wiedererkennungseffekt im Alltag beschert. Vor allem aber beschert sie der Bahn als dem letzten Dinosaurier des verdeckten Staatssozialismus in Frankreich ein menschliches Antlitz. Dass man inzwischen die Stimme landesweit auch tatsächlich bei Lesungen zu Jules Verne oder Colette sehen und staunen kann, dass es "Simone" tatsächlich gibt, liegt am öffentlichen Ansehen, das sich "Madame SNCF" erworben hat, aber auch daran, dass sich die Arbeitsbedingungen in den 90er Jahren geändert haben und Madame im Zuge der Digitalisierung des Aufnahmeverfahrens nur noch zwei- bis dreimal im Monat die Ansagetexte versprachlichen muss, ja sogar zuweilen für aktuelle Fahrplanänderungen nur noch neu abgemischt wird. Stets spricht Madame immer nur einzelne Worte mit gezielter Intonation aufs Band, die der Computer jeweils vor Ort zur Ansage komponiert. An ihrem Exklusivvertrag mit der Bahn ändert diese zeitsparende Technik der ständigen Neuerfindung von Mitteilungen der Bahn an die reisewillige Öffentlichkeit nichts. Es stärkt aber den Aberglauben an die Bahn als zuverlässige Reisegefährtin durchs Leben, mit einer Stimme, die die Herzen erreicht, ohne jemals zur Verantwortung gezogen werden zu können. Denn Simone hat den Sprachcomputer der Bahn nur mit Worten gefüttert. Und der spielt auch in Frankreich bei seltenen Verspätungen mit den Kunden "blinde Kuh".


    Der Autor lehrt an der Pariser Elite-Hochschule SciencesPo.


    http://www.wormser-zeitung.de/…t.php3?artikel_id=2862619