Der literarische Lonely Planet

  • In 80 Tagen um die Welt - Der literarische Lonely Planet


    Helge Timmerberg trampte mit 17 das erste Mal nach Indien und entschloss sich Journalist zu werden. Seitdem lassen ihn das Reisen und Schreiben nicht mehr los. In der Tradition des New Journalism und drogengetränktem Gonzo Journalismus von Hunter S. Thompson macht er dabei sich selbst zum Thema.


    Von Ania Mauruschat
    Stand: 11.06.2008

    Alles nimmt seinen Anfang 1872 in einem Londoner Club. In seinem Klassiker "Reise in 80 Tagen um die Welt" lässt Jules Verne seinen Helden Phileas Fogg beim Kartenspiel mit den anderen Gentlemen plaudern:


    "Die Welt ist groß." "Das war einmal", sagte Fogg leise (...). "Ist die Erde etwa geschrumpft?" "Ohne Zweifel. Man reist heute 10mal so schnell, wie vor 100 Jahren.(...)" (...) "Ein scherzhafter Einfall: Die Erde ist geschrumpft. Etwa weil man heutzutage in 3 Monaten rund herum kommt?" Erst gewann Phileas Fogg ein Spiel, dann sagte er: "In 80 Tagen." – Jules Verne

    Und schließlich wettet Phileas Fogg: Mit seinem Diener Passpartout will er in 80 Tagen die Welt umrunden, von London über Suez, Bombay, Kalkutta, Hongkong, Yokohama, San Francisco und New York. Sein Ziel: Nach 115 000 Minuten wieder zurück sein zur nächsten Partie Whist im Club.
    Als Jules Vernes Fortsetzungsroman vor über 130 Jahren erschien, ging es dem Erfinder der Science Fiction nicht um das Reisen an sich, um den Austausch mit fremden Kulturen.


    Neuer Anfang?


    Jules Verne diente die Welt als Folie für ein utopisches Gedankenspiel mit dem Potential der Technik seiner Zeit. In 80 Tagen um die Welt, das war 1872 eine Sensation. Im August 1995 gelang es der Concorde in 31 Stunden und 27 Minuten einmal die Welt zu umrunden. Wer sich also 2008 auf die Reise um die Welt macht, für den bedeuten 80 Tage trödeln, aber so richtig. Das hat Helge Timmerberg denn auch beherzigt in seinem so eben erschienen Selbstversuch auf den Spuren Phileas Foggs. Mit Jules Vernes techno-utopischer Abenteuerreise zu Heißluftballon, Elefant, Bahn und Schiff, hat das Ganze allerdings kaum noch was zu tun, wie Timmerberg gleich zu Beginn erklärt:

    "Auf den Rücken eines Elefanten bekommt mich übrigens auch niemand mehr, solange es noch alternative Fortbewegungsmittel gibt, und was die ausgiebigen Schiffspassagen angeht, die meinem hochgeschätzten Vorbild eine Rolle spielen: Da muss ich ebenfalls passen. Die Romantik der christlichen Seefahrt ist in den Häfen zu finden und nicht dazwischen. (...) Nee, Herr Verne, da werden wir nachbessern müssen. Auch bei der Route, wenn wir schon mal beim Meckern sind, lohnt es sich hier und da, nicht in Ihre Fußstapfen zu treten. Was zur Hölle soll ich in Singpur? Bangkok ist gegenwärtig die Drehscheibe für Weltreisende in Südostasien. Ab Hongkong sitzen wir dann wieder in einem Boot." - Timmerberg


    Selbst das stimmt nicht, schließlich reist Timmerberg nicht wie Fogg über New York sondern über Mexico City, weil diese Stadt im Gegensatz zur Rezession geplagten US-Metropole vor Energie nur so vibriere. Und als Fan von Fidel Castros "romantischer Salsa-Revolution" macht er Stopp in Havana. Aber statt Salsa nur tote Hose, Timmerberg diagnostiziert: Kommunismus im Endstadium. So platzen die Träume der 68er.


    Reines Alibi
    Jules Verne dient Timmerberg nur als Alibi, um mal wieder vor sich selbst wegzurennen - oder sich selbst zu finden. Aber das beschreibt er wie gewohnt schön schnoddrig und süffig weglesbar. Er erzählt von Athener Taxifahrer und Doc Henn, einem Berliner Juden, der vor den Nazis nach Bangkok flüchtete. Vor allem berichtet er aber immer wieder davon, wie er in Bangkok mit drei Thaimädchen und einem Neurologen aus Amsterdam Crack raucht und über Hegel philosophiert oder wie es ist "pissed in paradise" zu sein, also bekifft und besoffen im von Russen kontrollierten Goa.


    "Die dunkle Seite des Haschisch ist Antriebslosigkeit und Willensschwäsche, die dunkle des Alkohols ist der Mut dazu. Beides vereint, ergibt ein beherztes Verlieren, der Jugend, der Zähne, der Potenz – spirituell nennt man das Loslassen." - Timmerberg


    Im Gegensatz zu Ilija Trojanow, dem gegenwärtig vielleicht interessantesten Reise-Schriftsteller, reist Timmerberg nicht durch die Welt, um sie besser zu verstehen. Er ist aber auch kein ignoranter Backpacker, kein moderner Pauschaltourist , der ferne Kulturen nur als Farbtupfer seiner behaglichen und abgesicherten, westlichen Existenz betrachtet – er sucht schon Antworten, zum Beispiel bei dem Guru und Ex-Banker Ramesh in Bombay darauf, warum er sich nicht entscheiden kann, zwischen Bahn und Flugzeug genauso wenig wie für eine Frau.

    "'Ich verstehe'. Ramesh schaukelt wieder. 'Wen das bei Dir so ist, ist das Dein Weg.' Dann ist das von Gott so gewollt, oder vom Urknall oder wie immer du die Quelle alles Existierenden nenne willst. Wenn ich mich nicht entscheiden könnte, würde ich eine Münze werfen. Denn niemand kann behaupten, dass Menschen, die das mit einer Münze tun, weniger erfolgreich sind als Mensch, die auf traditionelle Weise entscheiden." - Timmerberg


    Da fühlt sich Timmerberg mit dem Urknall versöhnt – und der Leser kommt zu der Erkenntnis: Seit Timmerberg 1969 als kleiner Hippie das erste Mal nach Indien trampte, ist auf seinem Trip hängen geblieben. Wenn Timmerberg um die Welt reist, dann ist das letztlich also genauso harmlos und antiquiert wie Phileas Foggs Reise. Eine nette Nummern-Revue, die man gemütlich auf den Sofa schmökern kann – aber die 20 Euro für's Hardcover ist sie nicht wert. Wer durch die Welt von heute reisen will, investiere sein Geld lieber in den "Entfesselten Globus", wie Ilija Trojanows kürzlich bei Hanser erschiene Reportagen-Sammlung heißt. Unsere Gegenwart hat schließlich immer weniger mit Heißluftballons und verbotenen Full-Moon-Raves in Goa zu tun, aber dafür immer mehr mit Glofplätzen in der Wüste Bahreins und dem millionfachen Elend der Slums vom Bombay. Und das beschreibt niemand so gut wie Torjanow.


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