Die Zukunft von gestern: Sozialismus und Wolken-Werbung

  • Hundert Meter breite Fahrstraßen; 300 Meter hohe Häuser, in denen die Temperatur immer gleich bleibt; Städte mit zehn Millionen Einwohnern; Fernseh-Telefone. Tja, denken wir. Du lieber Gott, dachten die Menschen des Jahres 1889, als sie das lasen. Damals veröffentlichte der weltberühmte französische Schriftsteller Jules Verne (1828-1905) eine Geschichte, die diese Zukunftsvision beschrieb (in Wahrheit hatte sein Sohn Michel sie geschrieben).


    Da erschien eine Welt, die der unseren erstaunlich ähnelt, selbst dort, wo die Details nicht stimmen: Statt Transatlantik-Flügen zum Beispiel gibt es eine 1500 Stundenkilometer schnelle, pneumatische Untergrund-Verbindung. Werbung wird in dieser Zukunft in Form gigantischer Plakate auf die Wolken projiziert, so dass sie im ganzen Land zu sehen ist, und bringt ungeheure Summen ein. Der größte Fehler dieser genialen Zukunftsvision ist, dass der Autor sie ganze tausend Jahre in die Zukunft verlegte – ins Jahr 2889.


    Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Zukunftsvisionen meistens noch optimistisch. Die enormen technischen Fortschritte des 19. Jahrhunderts ließen alles möglich erscheinen – immer größer, immer gewagter, immer schneller. Ähnlich großartig waren auch die gesellschaftlichen Visionen. Edward Bellamy beschrieb in dem Roman „Looking Backward“ („Rückblick“, 1888) das Amerika des Jahres 2000: ein sozialistisches Paradies, in dem die Produktionsmittel allen gehören und die Güter gerecht verteilt werden. Das Buch begründete eine eigene Bewegung: In den USA, aber auch in Europa, gründeten sich hunderte von sozialistischen „Bellamy Clubs“.


    Zu den ersten, die ihr Zukunftsszenario wissenschaftlich zu begründen versuchten, gehörte Karl Marx (1818-1883).


    Er erkannte bestimmte Trends der kapitalistischen Wirtschaftsweise und schrieb sie in die Zukunft fort: Die Produktionsmittel konzentrieren sich in den Händen von immer weniger Kapitalisten, und die Massen verelenden, bis es zur Revolution kommt – und alles im Kommunismus ein gutes Ende nimmt. Andere Trends erkannte Marx allerdings nicht: die steigenden Löhne in der Industrie; die wachsende regulierende Funktion des Staates; den Erfolg, den soziale Bewegungen auch ohne Revolution hatten.


    Die großen Zukunftsvisionen des 20. Jahrhunderts waren weniger optimistisch. Der Engländer Aldous Huxley beschrieb in „Schöne neue Welt“ (1932) die Welt des Jahres 2540, bevölkert von geistig betäubten, manipulierten Menschen, in der es außer Profit keine Werte mehr gibt. Nicht weniger pessimistisch war der Roman „1984“ von Huxleys Landsmann George Orwell aus dem Jahr 1948: das Bild eines totalitären Staates, der seine Bürger auf Schritt und Tritt überwacht, kontrolliert und knechtet.


    Danach ging die Zeit der großen Entwürfe, positiv oder negativ, politisch oder literarisch, zu Ende. Die Zukunft zerfiel in lauter einzelne Probleme: die Umwelt, die politischen und sozialen Systeme, die Bildung, die Energie, die Demografie. Für jedes dieser Probleme gibt es Experten, und selbst die sind sehr vorsichtig, wenn es um Prognosen geht. Wenn heute einer die Zukunft eines einzigen Landes, gestützt auf Studien und Statistiken, auf 22 Jahre voraussagt – dann ist das schon ein Wagnis.


    HANNO KABEL


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