2005 / 01 Gavin Bryars: Jesus' Blood Never Failed Me Yet (1993)

  • Gavin Bryars
    Jesus‘ Blood Never Failed Me Yet (1993)


    [asin]B0000040UT[/asin]


    Genre: Klassik
    Gesamtzeit: 74:45
    Titelanzahl: 6
    [01] Tramp With Orchestra I (String Quartet) (27:05)
    [02] Tramp With Orchestra II (Low Strings) (15:16)
    [03] Tramp With Orchestra III (No Strings) (4:48)
    [04] Tramp With Orchestra IV (Full Strings) (6:06)
    [05] Tramp And Tom Waits With Full Orchestra (19:38)
    [06] Coda: Tom Waits With High Strings (1:47)


    „Minimal Music“ heißt das Stichwort. Und für die Leute, die keine Ahnung von Klassik haben, sei dieses Stichwort ganz schnell erklärt: es handelt sich hierbei um eine moderne Musikrichtung der Klassik, die in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts vor allem in den Vereinigten Staaten entstand. Besonderes Kennzeichen dieser Stilrichtung ist die augenscheinlich sehr einfache Struktur. In den meisten Fällen lernt der Hörer in den ersten Takten eines Stückes ein Grundthema kennen, das im Laufe der Zeit immer wieder variiert wird, manchmal sogar nur um eine einzige Note pro Wiederholung. Bekannteste Vertreter: Philip Glass, Steve Reich, Terry Riley oder John Adams. Und genau auf diese Struktur trifft man bei „Jesus‘ Blood Never Failed Me Yet“ von Gavin Bryars (* 16. Januar 1943, Goole, Yorkshire, Großbritannien).


    Die Entstehung des Stückes ist eigentlich einem Zufall zu verdanken – Gavin Bryars war 1971 an einem Filmprojekt beteiligt und schnitt zwecks weiterer Verarbeitung allerlei Material mit. Eine heruntergekommene Gesellschaft von Trinkern, Obdachlosen, Alten und sonstigen Gesellen erlaubte sich den Spaß und sang vor laufender Kamera einige Lieder, teils Balladen, teils aus Opern. Und da war dieser eine Alte, der ein einfaches Liedchen darbrachte:
    „Jesus' blood never failed me yet
    Never failed me yet
    Jesus' blood never failed me yet
    This one thing I know
    For He loves me so“.
    Dieses Stück wurde im fertigen Film nicht verwendet und so kam es in Gavin Bryars‘ Archiv. Dieser Tonschnipsel bewegte den Komponisten sehr stark und er begann, damit zu arbeiten. Er kopierte den Gesang auf eine Endlosspule und begann damit, eine passende Begleitung dazu zu komponieren. Gemäß dem Regelwerk der „Minimal Music“ fängt alles ziemlich leise an und entwickelt sich dann immer mehr und mehr, es kommen weitere Stimmen und Melodien hinzu, dann fällt alles wieder in sich zusammen, nur um in einer völlig neuen, komplexeren Instrumentierung neu zu entstehen. Diesem Umstand ist es auch zu verdanken, daß das Album an sich eigentlich nicht wirklich langweilig wird – beim genauen Zuhören passiert immer etwas Neues, auch wenn der Alte tatsächlich pausenlos dasselbe Liedchen singt (mit einigen kleineren Unterbrechungen, in denen auch mal der Gesang ausgeblendet wurde).
    Die Originalfassung von 1971 wurde 1975 auf Schallplatte veröffentlicht; da das Medium CD allerdings eine größere Kapazität bietet, erweiterte Gavin Bryars das Stück 1993 nochmals um fast 25 Minuten. Außerdem nahm er Tom Waits mit hinzu, der den Alten in seinem sonderbar optimistischen Gesang in den letzten Minuten tatkräftig mit dem für ihn typischen Raunzen und Grummeln unterstützt.


    Auch, wenn man Gavin Bryars vorwerfen kann, daß das Orchester an einigen Stellen zuckersüß-schmalzig klingt, muß man doch den Hut vor ihm ziehen – ein ruhiges, zuversichtliches Meisterwerk, in dem man Kraft und Entspannung finden kann. Nur, wer nicht hin und wieder eine ruhige Stunde braucht oder sich nicht vorstellen kann, sich eine ganze CD lang von einem einzigen Stück fesseln zu lassen, sollte von diesem Album die Finger lassen.


    - Der besagte Alte starb, bevor Gavin Bryars ihm zeigen oder berichten konnte, was er aus seinem Gesang gemacht hatte.
    - Gavin Bryars selbst berichtet von einem sonderbaren Erlebnis beim Überspielen des Original-Schnipsels auf Endlosband. Er hatte in einem kleinen Tonstudio das Band zurecht geschnitten und einige Male mit voller Lautstärke angehört. Als er das Studio verließ, um sich einen Kaffee zu organisieren, bemerkte er bei seiner Rückkehr, daß in den umliegenden Büros, in denen normalerweise der Teufel los war, alles sehr viel ruhiger ablief. Einige Leute bewegten sich langsamer und beschwingter, andere saßen zurückgelehnt in ihren Stühlen, lauschten der Melodie oder summten sie sogar mit, die noch immer vom Tonstudio durch den Gang hallte. Gavin Bryars spricht davon, daß diese Menschen von der „emotionalen Kraft des Gesangs“ gefangen genommen waren.
    - Tom Waits selbst besaß ein Exemplar des 1975 veröffentlichten Albums, das er in einem Interview mal als seine „Lieblingsplatte“ bezeichnete. Als er das Album verlor (andere Quellen sprechen davon, daß er die Schallplatte bis zur Unbrauchbarkeit durchgenudelt hatte), dieses jedoch nicht mehr aufgelegt wurde, setzte er alle Hebel in Bewegung, um mit dem Komponisten Kontakt aufzunehmen. Von ihm erhielt er eine Kopie des Masterbands. Das war auch der Grund dafür, daß sich Bryars bei der Einspielung der CD-Aufnahme an ihn wandte und fragte, ob er sich daran beteiligen wollte.
    - Das Album wurde live eingespielt, d. h. die kompletten 75 Minuten wurden in einem einzigen Take aufgenommen, wobei der Dirigent Michael Riesman der einzige war, der die ganze Zeit über den Gesang des Alten mittels Kopfhörer auf die Ohren bekam. Ausnahme: Tom Waits improvisierte seinen Gesang über das Ergebnis der Orchesteraufnahme erst einige Tage später.
    - In der Original-Fassung von 1971 wurde das Lied des Alten exakt 180mal hintereinander abgespielt. Bei der neuen Fassung dürfte es die 300er Grenze gesprengt haben - zum Nachzählen bin ich hier allerdings noch nicht gekommen ;)

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  • Zitat

    - In der Original-Fassung von 1971 wurde das Lied des Alten exakt 180mal hintereinander abgespielt. Bei der neuen Fassung dürfte es die 300er Grenze gesprengt haben - zum Nachzählen bin ich hier allerdings noch nicht gekommen ;)


    Na dann mal los, aber nicht vergessen noch mehr solcher schönen Berichte :up: zu schreiben :] :D