„20.000 Meilen unter dem Meer“ als Comic: Robin Hood der Meere

  • Jules Vernes „20.000 Meilen unter dem Meer“ ist oft als Comic adaptiert worden. Kürzlich sind zwei Werke neu veröffentlicht worden, 2022 kommen weitere hinzu.



    05.02.2022

    Der maritime Staatsfeind Nummer 1 ist ein Held ohne Namen. „Kapitän Nemo“ lässt er sich nennen, und weder in der Romanvorlage von Jules Verne (1869) noch in den aktuellen Comic-Adaptionen von Ramón de la Fuente und Gary Gianni erfahren wir viel mehr über diesen zweifelhaften Helden, der sich wie Homers Odysseus als „Niemand“ (lat. „nemo“) vorstellte. Auch ein Seefahrer übrigens.


    Nemo verfügt, im Gegensatz zu Hugo Pratts Corto Maltese, über ein Schiff, sogar über ein stattliches: Die Nautilus ist ein hochmodernes U-Boot, das in der Film-Adaption von 1954 mit Kirk Douglas sogar zum Atom-U-Boot avancierte.


    Nach einer Reihe mysteriöser Havarien stechen der Wissenschaftler Aronnax, sein Diener Conseil und der Haudrauf und Harpunier Ned Land in See, um das vermeintliche Seeungeheuer zu jagen. Ein wenig Melville liegt in der salzigen Luft, aber der besonnene Kopfmensch Aronnax ist alles andere als ein Ahab.


    Nach einem Zwischenfall gelangen die drei an Bord der Nautilus und werden zu Gästen oder Gefangenen des namenlosen Kapitäns. Dieser nimmt sie mit auf seine Reise, die ihn zwei Mal um die ganze Welt führt. Der Titel ist irreführend, weil er erstens nicht die Tauchtiefe, sondern die Distanz der U-Boot-Reise nennt, und zweitens ist das Längenmaß nicht ganz korrekt: Tatsächlich legt die Nautilus etwa 80.000 Kilometer zurück.


    Auf dieser Unterwasserweltumrundung zeigt Nemo den Gästen die Wunder der Tiefsee und die Tiefe des menschlichen Herzens. Nebenbei besteht er gemeinsam mit seinen Gästen diverse Abenteuer. Jules Verne hatte in seinen literarischen „Voyages extraordinaires“ durchaus auch einen pädagogischen Anspruch, und die 111 Holzstiche der Originalausgabe von 1869 führen uns seine Vorstellungen der Unterwasserwelt bildhaft vor Augen.


    Zwischen Captain Kirk und Captain Picard

    Nemo ist an Wandlungsfähigkeit kaum zu überbieten: Er vereint die Durchsetzungskraft eines Captain Kirk und die Raison eines Captain Picard. Diese Vielseitigkeit hebt der Romanist Ralf Junkerjürgen in seiner Monographie über Jules Vernes Werk als charakteristisch für Vernes Helden hervor.


    Eine weitere Seite aus Gary Giannis Adaption von „20.000 Meilen unter dem Meer“. © Insektenhaus


    Aber Nemo ist kein Held ohne Makel: Was als zukunftsoptimistische Unterwasserutopie beginnt, endet im vernichtungsfreudigen Fiasko eines getriebenen Rigoristen auf einer heillosen Vendetta gegen die Zivilisation. Die Nautilus entschwindet, die drei Gäste entkommen. Was bleibt, ist eine Erzählung, die bis heute zu immer neuen Adaptionen inspiriert.


    In der „Comixene“ #85 (2005) haben Gerhard Förster und Stefan Marniok einige Comic-Adaptionen des Jules-Verne-Klassikers zusammengetragen. Im vergangenen Jahr sind gleich zwei Adaptionen von Vernes Abenteuerroman erschienen: Insektenhaus veröffentlichte eine Umsetzung des amerikanischen Comiczeichners Gary Gianni (64 S., 17,90 €), während Kult Comics die ersten beiden Bände der Reihe „Classicomics Integral“ voll und ganz Jules Vernes Erzählungen widmet. „20.000 Meilen unter dem Meer“ stammt aus der Feder des spanischen Zeichners Ramón de la Fuente (152 S., 30 €).


    Dark Horse Classics: Nemo vs. Tintenfische

    Gary Giannis Comic erschien 1992 in der Reihe „Dark Horse Classics“, zuerst in Schwarzweiß, 2009 dann in einer von Jim und Ruth Keegan kolorierten Fassung, der die deutsche Ausgabe folgt. Die Kolorierung täuscht über die meist sehr effiziente Ausgestaltung der Hintergründe hinweg. Gianni braucht viel Erzählerstimme, um die Handlung voranzubringen, nur eine Handvoll Panels lässt er ohne Textbox für sich stehen.


    Das Titelbild von Gary Giannis Adaption von „20.000 Meilen unter dem Meer“. © Insektenhaus


    Die kanonischen Szenen wie der Kampf gegen die Tintenfische oder der Besuch der unterseeischen Ruinen von Atlantis setzt Gianni großzügig und mit viel Dramatik ins Bild, und manchen Panels sieht man an, dass der die Holzstiche des Originals sehr wohl kennt.


    Als Zugabe enthält der Band, auch darin der amerikanischen Ausgabe von 2009 folgend, die von Gianni illustrierte Kurzgeschichte „Sea Riders“ (1896) von H.G. Wells. Manche Tentakel, die schon Kapitän Nemo Angst einflößten, ergreifen uns dort erneut.


    Classicomics: Ein Kapitän zwischen Don Quijote, Ahab und Che Guevara

    Die Integral-Reihe „Classicomics“ (Kult Comics) hat sich vorgenommen, die „Classicomics“-Veröffentlichungen, die in Deutschland 1974 bis 1978 bei Schwager & Steinlein im Stile der „Classics Illustrated“ erschienen, wieder aufzulegen. Der erste Band umfasst die Verne-Klassiker „In 80 Tagen um die Welt“ und „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“, der zweite Band „Der Kurier des Zaren“ und „20.000 Meilen unter dem Meer“.


    Ganz anders als Gianni verzichtet de la Fuente gänzlich auf Erzählerkommentare. Bei ihm sprechen die Bilder und die Figuren allein. Sein Nemo gerät noch stärker als bei Gianni zum selbstlosen Robin Hood der Meere.


    Eine Szene aus Ramón de la Fuentes Adaption von „20.000 Meilen unter dem Meer“. © Kult Comics


    Nemo, der seinen Reichtum dem Kolonialgold einer gesunkenen spanischen Galeere verdankt, überlässt einem armen Fischer eine gigantische Perle und rettet dann noch dessen Leben: „Sein Land ist eines der ärmsten der Welt und sein Volk wird unterdrückt, Professor. Ich zeige mich solidarisch mit ihm.“


    De la Fuentes präsentiert in manchmal arg schrillen Wasserfarben einen politischen Kapitän irgendwo zwischen Don Quijote, Ahab und Che Guevara. Dass einige der aneinandergefügten Szenen unverbunden nebeneinanderstehen, hinterlässt einen manchmal ratlos, aber schließlich waren Vernes Romane damals auch keine Höhenkammliteratur.


    Titelbild des Bandes mit Ramón de la Fuentes „20.000 Meilen unter dem Meer“. © Kult Comics


    Unter den Verne-Geschichten der Classicomics ist „20.000 Meilen unter dem Meer“ die gelungenste Umsetzung, wenngleich die exotischen Schauplätze in „In 80 Tagen um die Welt“ auch begeisternd sind. Die Texte sind allesamt neu übersetzt und werden durch erläuternde Texte von Thorsten Hanisch ergänzt. Grafisch liegt Giannis Adaption eine Handbreit tiefer im Wasser, aber de la Fuentes Nemo ist die spannendere Figur.


    2022 sollen weitere Comic-Adaptionen des klassischen Stoffes erscheinen. So ist bei Carlsen für Mai eine Adaption des Berliner Zeichners Thilo Krapp angekündigt. Und bei Splitter findet sich mit der ab Oktober 2022 startenden Reihe „Nautilus“ eine Weitererzählung der Vorlage von Mathieu Mariolle (Szenario) und Guénaël Grabowski (Zeichnungen). Die Reise der Nautilus durch die Welt der Comics ist noch lange nicht zu Ende.


    Gerrit Lungershausen


    Quelle: https://www.tagesspiegel.de/ku…od-der-meere-4307203.html