„H. G. Wells oder Jules Verne?“ ist eine Frage wie „Coke oder Pepsi?“

  • Von Marc Reichwein

    Redakteur im Feuilleton


    Walter Moers‘ Alter Ego: Hildegunst von Mythenmetz

    Quelle: Walter Moers


    Ein neues Buch von Walter Moers kommt selten allein, und diesmal ist es wirklich eine ganze Bibliothek. Auf Einladung von WELT erläutert der bekannteste deutsche Autor für fantastische Literatur seine Vorbilder fürs Schreiben und Zeichnen.

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    Walter Moers, 1957 in Mönchengladbach geboren, ist ein Solitär. Als Autor und Zeichner tritt er weder öffentlich auf, noch hat er jemals Fotos von sich in Umlauf gebracht. Umso intensiver haben sich seine Figuren und Werke in unser Gedächtnis eingeprägt: Er hat „Das kleine Arschloch“ gezeichnet. Er hat Märchen erzählt, nein Moerschen, wie das vom Fönig, „der angeordnet hat, dass in seinem Reich alle Fs mit den Ks vertauscht werden sollen“. Und er hat den Käpt’n Blaubär erfunden, überhaupt hat er Zamonien erschaffen, ein Reich der Fantastik, aus dem uns ein Alter Ego namens Hildegunst von Mythenmetz, dieser Lindwurm und Schriftsteller in Personalunion, seit Jahrzehnten mit Geschichten beliefert, die Bestseller werden, etwa „Die Stadt der träumenden Bücher“, „Der Bücherdrache“, „Der Schrecksenmeister“.


    Wollte man ein literaturgeschichtliches Pastiche kreieren, das dem Originalgenie Moers auch nur einigermaßen nacheifern kann, müsste man die Bücherspeisekammer eines Umberto Eco plündern, den Sprachschatz und Schalk eines Ernst Jandl, den Spleen eines Klassikers wie Jean Paul und die romantische Zeichengabe eines Gustave Doré, der in seiner Jugend zu viele Zombie-Filme geschaut hat.


    Mit wie viel Fantasie Moers seine Schauplätze ausstattet, zeigt auch sein neuester Roman „Die Insel der Tausend Leuchttürme“ (Penguin Verlag, 636 Seiten, 42 Euro). Es ist sein mittlerweile zehntes Zamonien-Buch. Lindwurm Hildegunst fährt auf ärztliche Anweisung in Kur, er soll sich auf der Insel Eydernorn von seiner Bücherstauballergie erholen und schildert seine Erlebnisse in 19 Briefen. Wer noch nie einen Zamonien-Roman gelesen hat, könnte spätestens jetzt Fan werden. Was Moers in seinem Leben als Leser, Zeichner und Erzähler inspiriert hat, von Edgar Allan Poe bis Bram Stoker, verrät er nachstehend mit eigenen Worten:


    Edgar Allan Poe: Arthur Gordon Pym

    Edgar Allan Poe hat in seiner kurzen Lebenszeit – er wurde nur 40 Jahre alt – so viel geleistet wie ein Dutzend anderer klassischer Autoren zusammen. Seine Kurzgeschichten schufen das Fundament dieser Gattung, auf dem zahllose andere Schriftsteller aufbauen konnten, und er erfand Genres wie die Kriminal- und Horrorliteratur. Arthur Conan Doyles „Sherlock Holmes“ wäre ohne Poes ersten Detektiv der Literaturgeschichte C. Auguste Dupin nicht entstanden, und zahllose Horrorautoren von H. P. Lovecraft bis Stephen King verdanken ihm ihr Rüstzeug.


    Meine erste Poe-Lektüre war „Arthur Gordon Pym“, sie hat in mir den Wunsch geweckt, selbst fantastische Literatur zu schreiben. Dieser einzige Roman Poes verstößt gegen sämtliche Regeln. Schon im ersten Satz wird die komplette Handlung gespoilert, und die beiden Schlusssätze enthalten den rätselhaftesten Cliffhanger überhaupt: „Doch da stellte sich eine verhüllte menschliche Gestalt in den Weg, doch sehr viel größer als irgendein Bewohner der Menschenwelt. Und die Haut der Gestalt leuchtete im vollkommenen Weiß des Schnees.“


    Anthony Burgess: Clockwork Orange

    Absolut neidisch bin ich auf Anthony Burgess’ avantgardistisches Meisterwerk, das es fertigbringt, in einer erfundenen Jugendsprache, die man sich während der Lektüre selbst übersetzen muss, die Geschichte eines Protagonisten, der widerwärtiger nicht sein könnte (er verprügelt einen wehrlosen Obdachlosen, vergewaltigt eine Frau und ermordet eine alte Dame), so mitreißend zu erzählen, dass man die Lektüre unmöglich unterbrechen kann. Ich habe kein anderes Buch so oft gelesen – vielleicht hundertmal – und weiß bis heute nicht, wieso. Die einzige gute deutsche Übersetzung ist die von Walter Brumm (1972). Ansonsten lieber das Original lesen.


    Hermann Hesse: Der Steppenwolf


    Es gibt nur einen längeren Prosatext, den ich häufiger gelesen habe als „Clockwork Orange“, das ist das etwa dreißigseitige „Tractat vom Steppenwolf“ aus Hermann Hesses Roman „Der Steppenwolf“. Zur Lektüre verlockt hatte mich vielleicht auch das Motto: „Nur für Verrückte“. Die Handlung des Romans habe ich fast völlig vergessen, aber das „Tractat“ lese ich immer wieder, um zu überprüfen, ob ich es noch so gut finde wie in meiner Jugend.


    William Goldman: Die Brautprinzessin

    Wenn „Arthur Gordon Pym“ frühzeitig in mir den Wunsch erweckt hat, selber fantastische Literatur zu schreiben, dann hat mir William Goldman mit seiner „Brautprinzessin“ später dafür die Blaupause geliefert. Ohne sein Konzept, eine Fantasygeschichte mit konterkarierenden komischen Passagen und ironischen Annotationen zu schreiben, hätte ich mich nicht an die Niederschrift meines ersten Romans „Die 13 1/2 Leben des Käpt’n Blaubär“ herangetraut.


    Arno Schmidt: Das Gesamtwerk

    Mit 15 Jahren habe ich angefangen, mir Arno Schmidts Texte mühsam zu entschlüsseln, und bin bis heute noch damit beschäftigt. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, mich mit Arno Schmidt über so einen langen Zeitraum nur lesend beschäftigt zu haben. Dass ich am Ball geblieben bin, verdanke ich Jan Philipp Reemtsmas außerordentlicher Hörbuch-Lesung von Arno Schmidts Werken. Sie gab mir die Möglichkeit, Schmidts Texte – meistens beim Zeichnen – wieder und wieder zu hören. Reemtsma, selbst kein professioneller Sprecher, ist etwas gelungen, was berufsmäßige Vorleser nur ganz selten erreichen: Er ist zur absolut glaubwürdigen Stimme Arno Schmidts geworden. Dafür will ich mich an dieser Stelle gern einmal bei Herrn Reemtsma bedanken.


    H.G. Wells: Die Zeitmaschine

    „H. G. Wells oder Jules Verne?“ ist eine Frage wie „Rolling Stones oder Beatles?“ oder „Coke oder Pepsi?“. Während sich Jules Verne mehr den Zukunftsvisionen widmete, die technisch realisierbar waren (Mondflug, U-Boote oder Ballonflüge um die Welt), war Wells eher für das wirklich Fantastische zuständig: Zeitreisen, Unsichtbarkeit und Alien-Invasionen.


    Das war für mich als Jugendlicher erheblich faszinierender – außerdem ist Wells der bessere Stilist. „Die Zeitmaschine“ ist meines Erachtens der beste aller Zukunftsromane. Nicht weil er die Zukunft ausführlich beschreibt, sondern weil er das eben nicht tut. Wells lässt so viele Leerstellen auf seiner Zeitreise, dass der Leser mehr damit beschäftigt ist, sie in seiner Fantasie selbst auszumalen, als davon zu lesen.


    Carl Barks: Das Gespenst von Duckenburgh

    Es ist beinahe unmöglich, aus Carl Barks’ Gesamtwerk die Geschichte herauszupicken, die mich am meisten beeindruckt oder geprägt hat. Ich halte Barks schlicht für den besten Zeichner und Autor von Comicgeschichten aller Zeiten. Daher würde ich auch in diesem Fall am liebsten sagen: das Gesamtwerk. „Das Gespenst von Duckenburgh“ allerdings repräsentiert vorbildlich Barks’ erzählerisches und zeichnerisches Genie und seine universelle Fähigkeit, eine zeitlose Geschichte für ein altersloses Publikum komisch und spannend zugleich zu erzählen. Dem eifere ich bis heute nach, gemäß dem Motto, die Latte immer höher zu legen, als man springen kann. Nachdem ich das „Gespenst“ im Alter von acht Jahren gelesen hatte, habe ich mich monatelang nicht mehr in den Keller getraut. Das hat kein Horrorfilm bei mir je erreicht.


    James Thurber: Erzählungen

    Mein Englischlehrer Herr Neubert hat uns vor den Ferien immer wieder Kurzgeschichten und Fabeln von James Thurber vorgelesen. Zum Glück besaß Herr Neubert ein perfektes komödiantisches Timing zum Vorlesen von humoristischen Texten und Dialogen, sodass sich mir Thurbers Prosa eingeprägt hat wie gute Musik. Ich habe sie heute noch im Ohr.


    Edward Gorey: Eine Harfe ohne Saiten

    Das beste illustrierte Buch über das Schreiben und das Veröffentlichen von Romanen. Jeder Satz ein Juwel, jede Zeichnung ein Meisterwerk, etwas Komischeres über den Beruf des Schriftstellers ist bisher nicht geschaffen worden. Die deutsche Übersetzung von Wolfgang Hildesheimer ist sogar noch einen Tick besser als das Original.


    Bram Stoker: Dracula


    Inspirierend für Moers: Bram Stoker

    Quelle: Walter Moers


    Der Roman „Dracula“ hat keinen auktorialen Erzähler, er ist eine Collage aus unterschiedlichsten Textformen wie Briefen, Tagebucheinträgen, Abschriften von Phonographenaufnahmen, psychiatrischen Diagnosen und Zeitungsartikeln – für seine Entstehungszeit (1897) ein kühnes Formexperiment. Dass Stoker damit auch das filmische Genre der „Found Footage“ vorweggenommen hat, hat als erster Francis Ford Coppola erkannt, der sich in seiner, meines Erachtens immer noch besten Draculaverfilmung wesentlich strikter am Roman orientiert als viele andere und so die komplexe Handlung nicht banalisiert.


    In meinem neuen Buch „Die Insel der Tausend Leuchttürme“ gibt es leider nur sehr wenige Vampire, lediglich ein paar blutsaugende Fische, aber die experimentelle Form von Stokers „Dracula“ hatte einigen Einfluss auf meine Entscheidung, ihn als Briefroman zu erzählen. Die gängige Meinung, dass die Form des Briefromans überholt sei, finde ich überholt.


    Quelle: https://www.welt.de/kultur/lit…iografie-in-Buechern.html